Libyen
Nach dem Sturz des alten Regimes, vor einer ungewissen politischen Zukunft

von Bernard Schmid

09/11

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Dieses Mal war dann wohl das eine Mal zu viel für ihn. Es wäre der 42. Jahrestag des von ihm angeführten Offiziersputschs von 1969 gewesen, den Mu’ammar al-Qadhafi (Anm.: korrekte Transkription aus dem Arabischen, eingedeutscht „Gaddafi“’) am 1. September dieses Jahres hätte feiern wollen. Üblicherweise hätte es eine Kundgebung des Regimes mit mehr oder weniger freiwillig herbeigekarrten „Massen“ auf dem Grünen Platz in Tripolis gegeben. Doch dann kam alles anders. Der diesjährige 1. September lief anders ab, als es sich der langjährige Staatschef und  selbst ernannte „Revolutionsführer“ hätte träumen lassen.

Der nach der 1977 vom Qadhafi-Regime eingeführten, rein grünen Landesfahne benannte Platz heibt seit kurzem jetzt „Platz der Märtyrer“, eine in muslimisch geprägten Ländern übliche Bezeichnung oft auch für jene, die für eine politische „Sache“ gefallen sind. Gemeint sind hier die Toten des Aufstands gegen das alte Regime und des seit dem 16. Februar 2011 andauernden Bürgerkriegs (welcher durch eine militärische Intervention unter französisch-britischer Führung überschattet wurde); ihre Zahl dürfte 10.000 übersteigen. Die bisherigen Rebellenführer und, inzwischen, provisorischen Machthaber vom Nationalen Übergangsrat - in der englischsprachigen internationalen Abkürzung: TNC - sprechen von 20.000. Trotz all dieser Opfer wurde der 01. 09. 2011 jedenfalls für viele Menschen, wenn auch nicht alle (auch Qadhafi dürfte einige Anhänger behalten), zum Tag der Freudenfeier. Sie strömten auf den Platz, um den Machtverlust des alten Regimes in der libyschen Hauptstadt zu begrüben. An den folgenden Tagen demonstriert täglich Frauen und Männer auf demselben Platz.  

Die Reste des Qadhafi-Regimes sind noch nicht vollständig geschlagen. Mu’ammar al-Qadhafi und sein politisch wichtigster Sohn, Saif al-Islam („Schwert des Islam“), wurden seit Beginn der vergangenen Woche im Tal von Bani Walid südöstlich von Tripolis vermutet. Die Rebellen ihrerseits befürchten, dass Teile der dortigen Bevölkerung, ob freiwillig oder unfreiwillig, als „menschliche Schutzschilde“ dienen könnten. Im Verlauf der vergangenen Woche kamen jedoch widersprüchliche Nachrichten über den mutmablichen Verbleib des bisherigen Regimechefs.

Am Abend des vorigen Montag (05. September 11) wurde das Eintreffen eines gröberen Militärkonvois aus Libyen in Agadez, im Norden der Republik Niger, vermeldet. Gerüchte, auch Qadhafi senior selbst sei dorthin geflohen, bestätigten sich jedoch vorläufig nicht. Bestätigt wurde jedoch am Dienstag früh die Anwesenheit von Mansour Daw, des früheren Qadhafi-Beraters und Chefs seiner berüchtigten „Sicherheitsbrigaden“. Daw bestritt jedoch, letztere Funktion ausgeübt zu haben, und bezeichnete sich als vormaligen „persönlichen Referenten“ Qadhafis mit zivilen Funktionen. Der Konvoi wurde von früheren Tuareg-Rebellen im Niger, die in früheren Jahren durch Libyen unterstützt worden waren, und an ihrer Spitze von Agaly Alambo begleitet. Er wurde in die Hauptstadt Niamey geleitet. Gleichzeitig trafen am Dienstag Vormittag Gerüchte aus Burkina Faso ein, denen zufolge möglicherweise mit Gaddafis Eintreffen in dem Staat der Sahel-Zone gerechnet werde. Der Aubenminister des westafrikanischen Landes, Djibrill Bassolé, hatte Ende August die Bereitschaft Burkina Fasos zur Aufnahme Gaddafis als Exil-Ort erklärt. Zuvor hatte das Land noch, wie andere ärmere afrikanische Staaten, an die das libysche Regime bisweilen Gelder aus seinen Petrodollarfonds verteilt hatte oder wo es in öffentliche Bauten investierte, Gaddafi unterstützt. Am 24. August lieb es ihn jedoch fallen und erkannte nunmehr den TNC als alleinige legitime Vertretung Libyens an. 

Nähere Zukunftsaussichten  

Die provisorischen neuen Machthaber Libyens haben angekündigt, innerhalb eines Zeitraums von zwanzig Monaten allgemeine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen abzuhalten. Ein Zeitraum, den man unterschiedlich bewerten kann. Auf der einen Seite erscheint seine Länge durchaus vernünftig, da politische Kräfte sich in dem nordafrikanischen Land überhaupt erst noch herausbilden müssen. Unter dem alten Regime waren politische Parteien ebenso verboten wie Gewerkschaften, und es gab keine politischen Ausdrucksformen der Gesellschaft jenseits der wechselnden ideologischen Moden der Führungsspitze unter Muammar al-Gaddafi. Insofern benötigen politische Strömungen erst noch Zeit, um sich überhaupt herausbilden, Vorstellungen erarbeiten und der Bevölkerung vorstellen können. Auf der anderen Seite sind zwanzig Monate aber ein relativ langer Zeitraum, um im Unbestimmten zu lassen, wer zum Treffen wichtiger Entscheidungen befugt ist.

Dafür ist derzeit der TNC zuständig, der im Februar 2011 als 31köpfiges politisches Führungsgremium der Rebellen und der Opposition in Benghazi (eingedeutscht auch „Bengasi“) entstand. Seine Zusammensetzung ist sehr heterogen, in seinen Reihen befinden sich sowohl ehemalige hohe Funktionäre des alten Regimes - sein vorläufiger Präsident Mustapha Abdeljalil war etwa Gaddafis Justizminister - als auch Angehörige des wirtschaftlich reichen, aber bislang politisch marginalisierten Bürgertums der ostlibyschen Metropoli Benghazi. Auch Frauen sind in ihm vertreten wie die unverhüllt gehende Iman Boughaghis. Islamisten und Djihadisten sind unter den Rebellen ebenfalls vertreten, unterstützten den TNC jedoch bislang eher von auben. Unter den bewaffnet an der Front kämpfenden jungen Männern waren sie stärker verankert, zumal die Anhänger der Islamisten sich aufgrund einer Heilserwartung im Jenseits besonders risikobereit zeigen und auch ihr Leben einzusetzen bereit sind.   

Hort des Djihadismus? Über eine Kampagne und ihre Argumente 

Aus diversen Quellen in Europa wird derzeit extrem stark betont, djihadistische Strömungen und unter ihnen auch Anhänger von Al-Qaida beherrschten nunmehr angeblich das neue Libyen. Aus unterschiedlichen politischen Motiven speist sich die starke Betonung, ja Überbetonung dieses Elements. Unter parteikommunistisch-stalinistischen oder maoistisch-stalinistischen „Linken“ fanden sich, etwa im französisch- und spanischsprachigen Raum, in den letzten Wochen erstaunlich viele faktische Anhänger des bisherigen Regimes, die glaubten, es im Rahmen ihres „kampistischen“ - also die Welt schematisch in „zwei Lager“, etwa imperialistisch und antiimperialistisch, einteilenden - Weltbilds und einer bestimmten Verständnisses von Antiimperialismus verteidigen zu müssen. Von ihrer Seite werden stets die sozialen Vorzüge stark unterstrichen, die es angeblich unter dem alten Regime gegeben haben. Aufgrund der geringen Bevölkerungszahl und des Ölreichtums Libyen lebte die dortige Gesellschaft tatsächlich mehrheitlich, verglichen mit einem Grobteil des übrigen afrikanischen Kontinents, nicht in nackter materieller Armut. Dennoch ist der häufig kommende Verweis etwa auf den kostenlosen Zugang zum Gesundheitswesen demagogisch: Es stimmt zwar, dass die Gesundheitsversorgung im Prinzip gratis war, nur war sie von so schlechter Qualität, dass Libyer sich lieber in Tunesien oder anderen Nachbarländern behandeln lieben. Wer es sich finanziell leisten konnte oder politische Beziehungen hatte, gern auch in Europa. Ein lupenrein stalinistischer Ideologe wie Michel Collon, ein prominenter belgischer Journalist und Kader der diverse, höchst autoritäre Regimes unterstützenden „Partei der Arbeit Belgiens“ (PTB), beruft sich nun darauf - und behauptet, die westlichen Mächte hätten jetzt Libyen „an Terroristen, an Al-Qaida ausgeliefert“. Diese Erkenntnisse verbreitete er in den letzten drei Monaten wiederholt auch von Tripolis aus. Derzeit ruft er zu Protestaktionen gegen die Unterwerfung Libyens durch die NATO auf.

Aber auch aus ganz anderen Ecken wird die angeblich akute Bedrohung durch ein Al Qaida-nahes Regimes in Libyen über alle Maben hinaus betont. Von mehreren Seiten her, von denen man allen Umbrüchen und Revolten in Nordafrika seit der Revolte in Tunesien ohnehin nur bestenfalls mit extremer Skepsis begegnete, wird nun auch für Libyen die unmittelbar bevorstehende islamistische Herrschaft betont. Dies gilt für rechtsextreme Parteien und Publikationen, wo Rassismus und der Wunsch nach Abgrenzung von den Bevölkerungen auf der anderen Seite des Mittelmeers das Hauptmotiv ist. So verurteilte vergangene die Chefin des Front National, Marine Le Pen, den Jubel in ihrem Land über den Sieg über Gaddafi und sprach davon, dass das Land nunmehr in die Hände des Islamismus falle. (Vgl.  http://www.lefigaro.fr/ ) Aber auch in vielen pro-israelischen, besonders in rechtszionistischen, Publikationen wie etwa DRZZ.info (Frankreich) oder der Karikaturenserie Dry Bones aus Israel wird sehr stark auf die bevorstehende Machtübernahme durch Anhänger von Al-Qaida in Libyen abgehoben. Das Hauptmotiv ist hier, dass man der Politik in Israel eine starke Abschottung von der es umgebenden Region und militärische Einigelung empfehlen muss. Alle Entwicklungen in dieser Weltregion werden deshalb gern schwarz in schwarz gezeichnet. 

Ex-Djihadist im Rampenlicht  

Ein früherer Djihadist hat es jedenfalls geschafft, im neuen Libyen im Rampenlicht zu stehen. Abdelhakim Belhadj, früher einer der Gründer der in den neunziger Jahren aktiven Libyan islamic fighting group, wurde vergangene Woche zum militärischen Befehlshaber in Tripolis. Er hatte in der Vergangenheit, ab 1988, auch im antisowjetischen Djihad in Afghanistan gekämpft. Belhadj selbst verlautbart, er habe seine politischen Auffassungen verändert, und erklärte in einem am Samstag, den 03. September 11 publizierten Interview mit der Pariser Zeitung Le Monde: „Wir wollen einen zivilen Staat in Libyen und wir sind nicht von Al-Qaida.“

Sicherlich werden die Islamisten unterschiedlicher Couleur oder Schattierungen eine politische Gröbe im zukünftigen Libyen darstellen, mutmablich neben nationalistischen, regionalistischen oder bürgerlich-liberalen Strömungen. Ihre Form der, reaktionären, Sozialutopie wird zweifellos einen Teil der Bevölkerung ansprechen, zumal es in Libyen keinerlei Ansätze für eine organisierte Arbeiterbewegung gibt, anders als in Tunesien oder Ägypten. Dies liegt nicht daran, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter in dem Land sich nicht bewegen möchten, sondern dass es keine Arbeiterklasse im engeren Sinne gibt. Aufgrund des Rohstoffreichtums in dem nur schwach besiedelten Land garantierte bislang der Staat den meisten Einwohnern ein Auskommen ohne körperliche Arbeit, welche wiederum grobenteils den Migranten aufgebürdet wurde. Dies ging allerdings mit Abhängigkeit und dem Zwang zu politischer Loyalität einher.  

Die bis zu zwei Millionen Migranten, meist aus dem subsaharischen Afrika, wurden oftmals zu Opfern des Umbruchs in Libyen. Zuvor hatte das Gaddafi-Regime in den letzten Monaten mitunter mehrere Hunderte oder Tausende von ihnen auf Schiffe gesetzt und zur Ausreise gezwungen, um Europa vorzuführen, dass es ohne Gaddafi als Grenzwächter angeblich mit Migranten „überflutet“ werde. Unter den neuen Verhältnissen jedoch wurden viele schwarze Afrikaner misshandelt oder gelyncht, da sie oft pauschal verdächtigt wurden, „Söldner Gaddafis“ gewesen zu sein - dessen Regime hatte tatsächlich auch auf Söldner aus dem Tschad oder Niger zurückgegriffen. Am Wochenende berichtete der seit mehreren Monaten in Libyen arbeitende französische Journalist Christophe Ayad, viele Schwarze seien von Anhängern der Rebellen misshandelt worden. Den Hintergrund dafür bildet eine wahre Söldner-Hysterie, die ausgebrochen ist. Es dürfte sich jedoch nicht um eine planmäbige Politik der Rebellenführung oder des TNC handeln, generell mit brutaler Gewalt gegen Schwarze vorzugehen, denn die Bilder von den noch umkämpften Orten in Libyen zeigen klar, dass auch in den Reihen der Aufständischen gegen Gaddafi schwarze Soldaten kämpfen.

Neben Befürchtungen gibt es im Ausland auch Hoffnungen. Solche hegt natürlich auch die Ölindustrie in westlichen Ländern, zumal sich ein führender chinesischer Ölkonzern in den letzten Augusttagen seinen Rückzug aus Libyen ebenso wie aus Syrien und Algerien „aufgrund der politischen Unsicherheit“ erklärte. Vergangene Woche wurde zunächst die Meldung breit gestreut, es gebe ein Abkommen, dem zufolge der französischen Erdölindustrie ein Anteil von 35 % an der gesamten Ölproduktion des Landes zu einem Vorzugspreis garantiert werde. Inzwischen hat der TNC allerdings die Existenz eines solchen Abkommens dementiert. Sei es, dass die Information nie zutraf, sei es, dass sie nicht publik werden sollte. Oder auch, dass es Uneinigkeit unter den neuen Machthabern gibt. Dies ist sogar höchst wahrscheinlich. So wurde Ende Juli der „Exekutivrat“ an der Spitze der Rebellen entmachtet, nachdem am 28. Juli 11 unter völlig ungeklärten Umständen der bisherige Militärchef der Rebellen - und früher langjährige Innenminister Gaddafis - Abdelfattah Younis ermordet worden war. Nach wie vor führt der „Exekutivrat“ jedoch die Amtsgeschäfte und fällt die alltäglichen Entscheidungen. Die Stammesstruktur, der Younis angehört, hat inzwischen Forderungen nach Aufklärung an ihn gerichtet. 

Vergangene Komplizenschaft mit dem alten Regime

Nicht unbedingt für gute Laune unter den Rebellenführern gegenüber den Grobmächten, auch solchen, die an der Intervention teilnahmen, sorgen regelmäbige neue Enthüllungen über ihre Praktiken unter dem alten Regime. Denn zugleich erwies sich vor Ort, wie eng die Zusammenarbeit Frankreichs mit der gestürzten libyschen Diktatur zuvor gewesen war. So wurde der französische Informatikkonzern Bull überführt, über seine Filiale Amnesys mit Libyen beim Überwachen von Internetnutzern zusammengearbeitet zu haben. „Ich habe geholfen, acht Millionen Menschen in Libyen zu überwachen“ erklärte ein leitender Angestellter der Firma in der Presse. Die CFDT-Gewerkschaft bei Bull forderte daraufhin die Einführung eines Ethik-Kodex bei dem Unternehmen, der es Lohnabhängigen erlauben soll, die Mitwirkung an bestimmten Aufträgen zu verweigern. (Vgl. u.a. http://www.lemonde.fr )

Die Nachrichtendienste des alten Regimes hatten beim Fall von Tripolis Ende August d.h. nicht die Zeit gefunden, ihr Hauptquartier in einem geordneten Rückzug zu räumen, und ihre französischen Kollegen passten nicht genügend auf: Reporter und Rebellen konnten tagelang ungestört in den Bunkern des Hauptquartiers herum stöbern. Am 29. August 2011 publizierte das Wall Street Journal, gefolgt vom Pariser Figaro am 01. September d.J. und durch Le Canard enchaîné vom 07. September 11,  nähere Einzelheiten über die bisherige militärische und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit zwischen beiden Ländern. Von Juli 2008 bis im Februar 2011 war demnach der französische Auslandsgeheimdienst DGSE in Tripolis vor Ort in der Zentrale der libyschen Nachrichtendienste präsent gewesen und hatte u.a. beim Ausspähen von Telefongesprächen und Kommunikationsmitteln geholfen.

US-amerikanische und britische Nachrichtendienste arbeiteten ihrerseits seit 2004 mit libyschen Staatsorganen gegen einige ihrer gemeinsamen Gegner, etwa des Djihadismus verdächtigte Personen, zusammen. Schon bislang war bekannt, dass etwa die CIA nach dem 11. September auch mit anderen Folterregimes wie in Ägypten und Syrien kooperiert hatte. Neu ist die Bestätigung, dass diese enge Zusammenarbeit auch Libyen unter Qadhafi umfasste. Auch deutsche Nachrichtendienste arbeiteten dabei, wie inzwischen publik wurde, eng mit libyschen Diensten zusammen. (Vgl. http://www.stern.de/  und http://www.focus.de )

Wechselnde Positionierung des französischen Imperialismus zu Libyen 

Dass die französische Staatsspitze überhaupt ihr - offenkundig bis im Februar 2011 wirkungsmächtiges - Bündnis mit dem libyschen Regime aufkündigte und sich neue Allianzpartner zu suchen anfing, hängt eng mit dem Terrainverlust für den französischen Imperialismus in Nordafrika seit Anfang 2011 zusammen. (Vgl. dazu ausführlich http://www.trend.infopartisan.net/trd0211/t690211.html ) Zu jener Zeit sprach man immer lauter und lauter über die Komplizenschaft Frankreichs mit der tunesischer Diktatur - bis zur hinterletzten Minute -, in der Folgezeit auch mit der ägyptischen. Hätten die Dinge so ihren Fortgang genommen, wäre die Sprache alsbald notwendig auch auf die engen Bindungen zur libyschen Diktatur gekommen. Dabei wären neue, höchst unangenehme Enthüllungen über Sarkozys Rüstungspolitik, illegale Politikfinanzierung und seinen taktischen Umgang mit „Terrorismus“vorwürfen (bei Verbündeten) erfolgt. Ein Teil dieser Informationen kam freilich, dank der Enthüllungen der französischen Onlinezeitung Médiapart im Juli/August 2011, dennoch im Hochsommer dieses Jahres ans Tageslicht. (Vgl. ausführlich http://www.trend.infopartisan.net/trd7811/t897811.html )

Durch sein Agieren als Feldherr im Libyenfeldzug suchte Sarkozy dies Alles zu überdecken. Und nun steht er, neben dem britischen Premierminister David Cameron, doch noch als einer der Hauptsieger der am 19. März 2011 begonnenen militärischen Intervention in Libyen da. „Der Krieg des Nicolas Sarkozy“ titelte die Pariser Abendzeitung Le Monde am 23. August 11 (vgl. http://www.lemonde.fr/l ), und kurz danach zitierte dieselbe Zeitung auch im vertraulichen Kreis gesprochene Worte, wonach Sarkozy tatsächlich von „meinem Krieg“ gesprochen habe und davon, dass „ich ihn (Qadhafi) ins Gras beiben lassen werde.“  

Er kann sich dazu beglückwünschen, dass ihn auch wesentliche Teile der Parlamentsopposition darin explizit unterstützen (vgl. http://www.lemonde.fr/l ) : Die sozialdemokratische Parteichefin und Oppositionsführerin im Parlament Martine Aubry erklärte am 22. August 11 dazu ausdrücklich, sie sei darüber „glücklich, dass Frankreich diese Initiative ergriffen hat“. Ex-Kulturminister Jack Lang, der bei ihrer Partei hin und wieder für pathetische Erklärungen zuständig ist, sah die Gröbe des Landes bestärkt. Und Aubenminister Alain Juppé sah diese dadurch bekräftigt, dass die am Mittwoch, den 01. September 11 stattfindende internationale Libyenkonferenz auf seine Anregung hin in Paris anberaumt wurde. (Die Konferenz entschied dann als wohl wichtigsten Punkt, 15 Milliarden Dollar eingefrorener Guthaben des alten libyschen Regimes mit sofortiger Wirkung an den TNC auszuschütten. Die Folgekonferenz wird am 20. September d.J. in New York stattfinden.) 

Alain Juppé bezeichnete zudem die französische Rolle bei der militärischen Intervention wörtlich als „Zukunftsinvestition“ (vgl. http://www.lepost.frl) da auch für „unsere Unternehmen“ nunmehr entsprechend etwas abfallen werde. Es gilt als gesichert, dass der französische Erdölkonzern TOTAL bereits in den Startlöchern sitzt, zumal der „Nationale Übergangsrat“ der bisherigen Rebellen seinerseits erklärt hatte, „befreundete Länder“ würden nunmehr bei der Verteilung von Aufträgen und Geschäftskontakten bevorzugt bedient werden. Es gilt jedoch auch als sicher, dass die libysche Erdölproduktion aufgrund der erheblichen Kriegsschäden nicht vor 2013 wieder auf ihrem Niveau vor Ausbruch des Konflikts sein wird. Zu den befreundeten Ländern zählen auch Qatar und die Vereinigten Arabischen Emirate, wo sich eine Delegation des Nationalen Übergangsrats an diesem Montag aufhielt. Am Wochenende hatte die Rebellenführer erklärt, beim Aufbau einer künftigen Polizei auf Hilfe aus dem arabischen Ausland zu bauen. Offenbar wird dabei an konservative Golfmonarchien gedacht. 

Noch vor wenigen Wochen sah es übrigens zeitweilig völlig anders aus, als dass es nunmehr endete. So gut wie nichts schien bei dieser Intervention zu verlaufen, wie es ursprünglich durch ihre politischen Anführer geplant war. Präsident Sarkozy hatte ursprünglich gehofft, bis zum französischen Nationalfeiertag am 14. Juli dieses Jahres entweder eine Kapitulation, die militärische Niederlage oder aber gezielte Tötung Muammar al-Gaddafis als Erfolgsmeldung verkünden zu können. Nichts davon trat ein. Stattdessen wurde der 14. Juli 2011 um eine Kontroverse über den kurz zuvor vermeldeten Tod von sechs französischen Soldaten in Afghanistan überschattet - sozialdemokratische Spitzenpolitiker/innen wie Ségolène Royal beklagten dabei öffentlich, diese seien « für nichts gestorben ».  

Schon in den Tagen davor hatte unterdessen eine offene Debatte über die Änderung der Kriegsziele begonnen. Am 10. Juli 11 hatte Frankreichs rechter Verteidigungsminister Gérard Longuet wörtlich erklärt, man könnte sich auch dann zufrieden geben, falls „Qadhafi in ein anderes Zimmer seines Palasts einzieht und einen anderen Titel annimmt“ als bisher. Ein „Rückzug der Alliierten“ sei dann möglich, wenn es zu einem „innerlibyschen Dialog“ komme. Insofern schien man sich auf eine Perspektive einzustellen, in der entweder Mu’ammar al-Qadhafi oder jedenfalls seine Familie nach wie vor einen Teil ihrer Macht behielten. Dies scheiterte aber wohl an der Sturheit des alternden Qadhafi und/oder an der wilden Entschlossenheit der Rebellen, seinem Regime den Garaus zu bereiten. 

Gleichzeitig fanden auf der tunesischen Insel Djerba sowie in der Hauptstadt Tunis diverse Verhandlungsrunden statt, bei denen sich Vertreter des Qadhafi-Regimes und der libyschen Rebellion, aber auch US-amerikanische Emissäre und französische Vermittler gegenüber saben. Eine bislang unklare Rolle spielte dabei der frühere französische Auben- und, zwischen 2005 und 2007 amtierende, Premierminister Dominique de Villepin.  

Am 26. August 11 bestätigte de Villepin, er habe in der Woche des 15. August an Verhandlungsrunden teilgenommen (vgl. http://fr.groups.yahoo.com/ ). Dies sei „auf transparente Weise“ geschehen. De Villepin präzisierte: „Meine Rolle war eine ganz spezielle, da ich auf eine Bitte von bestimmten libyschen (Streit-)Parteien geantwortet hatte. Ich möchte nicht in die Details gehen. Mein Ziel war es, eine Versöhnung der Libyer zu begünstigen.“ Auf Nachfrage hin versicherte der Politiker im Fernsehsender i-Télé, Präsident Sarkozy sei „auf dem Laufenden gewesen“. Die extreme Rivalität zwischen beiden Männern ist bekannt. De Villepin soll Nicolas Sarkozy in seiner Zeit als Innenminister 2004 haben ausspionieren lassen, Sarkozy lieb gegen ihn in den letzten drei Jahren prozessieren. Der Rivale des Präsidenten träumt von einer Kandidatur gegen ihn bei der Wahl im nächsten April und wird in Umfragen als „wichtiger Staatsmann“, aber auch als innerhalb Frankreichs ansonsten weitgehend isoliert betrachtet. 

Die französische Staatsführung scheint ihre Pläne nochmals abgeändert zu haben, als sich in den letzten Wochen die Offensive der Rebellen im Süden und Westen von Libyen beschleunigte. Diese schien noch im Juli nicht voranzukommen, da es den Rebellen unter anderem an militärischer Erfahrung, an Kommunikationsstrukturen und festen Verbänden mangelte. Zugleich waren sie politisch offenkundig unter sich sehr gespalten. Am 28. Juli 11 wurde ihr militärischer Chef Abdelfatah Younes (auch Younis transkribiert), Qadhafis früherer Innenminister und sein politischer Weggefährte seit 1969, von unbekannter Hand ermordet. Zahlreiche Spekulationen rankten sich um das Attentat. Viele Stimmen verdächtigten Kräfte innerhalb der Rebellenkoalition, hinter den tödlichen Schüssen, während das Regime in Tripolis von Al-Qaida als Urheber sprach. Jedenfalls kündigten die Rebellen kurz nach dem Attentat die Auflösung eines ihrer Leitungsgremien, des Exekutivrats, an und bestätigten dadurch die Existenz scharfer Konflikte. Derzeit ist es allerdings nach wie vor der Exekutivrat, der provisorisch an ihrer Spitze steht und die wichtigsten politischen Entscheidungen fällt. Innerhalb von acht Monaten sollen nun Wahlen in Libyen stattfinden.

Die lang andauernde militärische Schwäche ebenso wie die innere Zerrissenheit der Rebellenkoalition scheinen die intervenierenden Mächte darin bestärkt zu haben, in höherem Mabe selbst mitzumischen. Die Offensive auf Tripolis wurde nicht nur von intensiven Bombardements durch NATO-Flugzeuge begleitet. Offenbar spielten auch französische Soldaten der „Spezialkommandos“, einer Elitetruppe, eine bestimmte Rolle bei der Schlacht zum Tripolis. Die Regierung hat anerkannt, „einige Dutzend“ ihrer Männer seien den Rebellen zugeordnet gewesen, bezeichnet ihre Funktion allerdings als die von Ausbildern. 

Die Zuspitzung der Situation in Libyen hat in der vergangenen Woche erstmals zu einer starken Aktivität von entschiedenen Interventionsgegnern in Frankreich und anderen Ländern geführt. Allerdings stand ihre Kritik oft auf fragwürdigen Grundlagen. Seit dem Frühjahr hatte sich vor allem die politische Linke von mehreren Seiten abzugrenzen versucht: Einerseits war die Ablehnung des Qadhafi-Regimes weitgehender Konsens. Auf der anderen Seite wurde die konkrete militärische Intervention im Laufe der Wochen zunehmend kritisiert: Anfänglich war das offizielle Anliegen der UN-Resolution 1973 vom 16. März, das darin bestand, Zivilisten vor Gaddafis Repressionstruppen zu schützen, noch weitgehend positiv beurteilt worden. Doch da die Intervention sich von diesem ursprünglichen Grund immer weiter zu entfernen schien und zugleich die Zahl auch von zivilen Toten wuchs, nahmen auch die Distanz und Kritik zu. Auch das öffentliche Meinungsklima wandelte sich: Mitte März 11 stimmten anfänglich über 60 % der befragten Französinnen und Franzosen der Intervention zu, aber drei Monate später erreichte die Zustimmung keine 50 % mehr. Allerdings unterstützte dabei kaum jemand das Qadhafi-Regime. 

Thierry Meyssan verbreitet, mal wieder, publizistischen Dreck 

Solche Stimmen wurden nun erstmals in den letzten Tagen laut. Der für seine Verschwörungstheorien zum 11. September 2001 bekannt gewordene französische Publizist Thierry Meyssan hielt sich zusammen mit einem Begleiter in Tripolis auf, um – wie er schrieb – „die Wahrheit“ statt der „Medienlügen der NATO“ zu verbreiten. Diese besteht darin, dass es ein internationales Komplott gebe, um lediglich auf Selbständigkeit bedachte Regierungen wie in Libyen und Syrien zu destabilisieren, zu zerstören und ihre Länder zu kolonisieren. Mitte voriger Woche begannen nun über zahllose Mailinglisten weit über den französischsprachigen Raum hinaus Nachrichten zu zirkulieren, auf denen in melodramatischem Tonfall eine akute „Lebensgefahr“ für die angeblichen „unabhängigen Journalisten“ beschworen wurde. Diese befänden sich im Hotel Rixos in Tripolis und würden durch die Rebellen und die NATO mit dem Tode bedroht. Allerdings wurden zum selben Zeitpunkt tatsächlich 30 westliche Journalisten in diesem Hotel festgehalten, jedoch durch die Milizen Gaddafis, da sich dieses auch nach der Einnahme des Zentrums von Tripolis zunächst noch in ihrer Zone befand.   

Die Kampagne fand einen gewissen Widerhall in internationalistischen, aber besonders auch in panafrikanischen und afrikanisch-nationalistischen Kreisen. Dort wurde der Tonfall gegen die Intervention in den letzten Tagen ebenfalls extrem scharf. Bestärkt wurde dies durch Nachrichten, dass schwarze Afrikaner durch die Rebellen misshandelt, gelyncht, gefoltert oder getötet wurden. Die panafrikanische Internetpublikation Le Gri-gri international publizierte dazu am 05. September 11 auf ihrer Webseite mehrere Videofilme und Aufnahmen, die solche Szenen zeigen und für den Betrachter schwer erträglich sind. Die genaue Verantwortlichkeit für die dort zu sehenden Folter- und Lynchszenen ist dadurch allerdings noch ungeklärt. Amnesty international kritisierte am Wochenende des 03./04. September 11 sowohl Qadhafi-loyale Truppen auch als Rebellenverbände dafür, dass sie Grausamkeiten und Menschenrechtsverletzungen begangen hätten. 

Kritik an der Intervention und ihren Ergebnissen kommt auch von rechts. Unisono werden sie in Publikationen des Front National, aber auch bei pro-israelischen Rechten und auf manchen konservativen Blogs so dargestellt, als habe die NATO es Al-Qaida ermöglicht, eine neue und für Europa gefährliche Bastion auf der Südseite des Mittelmeers zu errichten.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.