Pinguinrevolte 2.0 in Chile

von
N.N.

09/11

trend
onlinezeitung

In Chile protestieren die SchülerInnen und StudentInnen wieder für eine Reform des Bildungssystems. Die Protestbewegung des „chilenischen Winters“ erfasst mit Schulbesetzungen, Massen-Kiss-ins und Hungerstreiks mittlerweile große Teile der Bevölkerung. Die Forderungen nach einem leistbaren und qualitätsvollen Bildungswesen wurden nun auch beim zweitägigen Generalstreik vergangene Woche aufgegriffen.

Zuckerbrot und Peitsche

Die konservative Regierung von Millionärs-Präsident Sebastián Piñera verliert immer mehr an Zustimmungswerten zu ihrer Bildungspolitik und gerät zunehmend in Bedrängnis. Einerseits verhandelt sie mit LehrervertreterInnen, ohne die SchülerInnen und Studierenden miteinzubeziehen und entwirft Reformpläne, deren Agenda bislang von der Protestbewegung als nicht weitreichend genug abgelehnt wurde – andererseits setzt die Regierung auf Repression. So forderte die staatliche Gewalt am 25. August ihr erstes Todesopfer: Der 16-jährige Manuel Gutiérrez Reinoso wurde am Rande einer Demonstration im Stadtteil Macul in Santiago de Chile aus einem Auto heraus erschossen. Regierungskreise behaupteten zunächst, dass es sich um „gewöhnliche Kriminalität“ handele, jedoch berichten AugenzeugInnen, dass es sich eindeutig um ein Fahrzeug der chilenischen Militärpolizei Carabineros handelte. [1] Manche Demonstrationen werden offiziell zugelassen, andere untersagt. In mehreren Städten kam es als Reaktion auf das Verbot zu Straßenschlachten mit Hunderten von Festnahmen. Zumindest aus Valparaíso ist bekannt, dass auch Polizeibeamte an der Randale mitwirkten, da dort ein „Demonstrant“ als Zivilpolizist enttarnt wurde. [2]

Die Bildungsproteste finden in einem verschärften politischen Klima statt: So wurde die in Chile sehr populäre Sprecherin der StudentInnenbewegung, die 23-jährige Camila Vallejo, zum Ziel von Todesdrohungen. In einer Email rief eine Mitarbeiterin des Kultusministeriums dazu auf, die „läufige Hündin“ zu töten, damit „die demonstrierende Meute wieder zur Vernunft“ komme. [3] Inzwischen wird in Chile auch bereits darüber diskutiert, ob das Militär eingesetzt werden solle, sollten die Proteste länger als bis zum Jahrestag des Militärputsches am 11.September dauern. [4]

Bislang sind sämtliche Versuche der Regierung, die Proteste durch oberflächliche Zugeständnisse einzudämmen, gescheitert. Denn die Protestbewegung hat die Angebote der Regierung – von Regierungsumbildungen bis zur Erhöhung des Budgets für Stipendien – als unzureichend zurückgewiesen. Nachdem sie anfangs noch die Protestbewegung als „kleine Bande arbeitsscheuer und nutzloser Subversiver“ beschimpft hatte, kritisiert die Regierung Piñera nun die Bildungsproteste als „unnachgiebig“. [5] Auch die diversen Versuche der Regierung, die Protestbewegung zu spalten, sind gescheitert – ein Gesprächsangebot an die Dekane der Universitäten wurde von diesen abgelehnt, da sich das Dialogangebot nicht gleichzeitig an die StudentInnen richtete. [6] Außerdem finden die Forderungen der SchülerInnen und StudentInnen immer mehr Gehör bei der Gewerkschaftszentrale CUT und progressiven politischen Parteien wie der Partido Progresista de Chile von Marco Enríquez-Ominami. [7]

Nach mehrstündiger Beratung erklärten sich am 27.August schließlich die in der CONFECH zusammengeschlossenen StudierendenvertreterInnen bereit, doch auf ein Verhandlungsangebot der Regierung einzugehen. Unter den Bedingungen, dass die Regierung die 12-Punkte-Agenda der StudentInnen ernstnimmt, zwei Gesetzesentwürfe zur Reform des Bildungswesens stoppt, und eine Untersuchung der Umstände einleitet, unter denen Manuel Gutiérrez Reinoso in der Nacht des 25.August getötet wurde, will die CONFECH nun verhandeln. [8]

Diskurs der Bildungspolitik

Die Primär- und Sekundärerziehung in Chile gliedert sich nach einem komplexen Finanzierungssystem in drei Einheiten: öffentliche staatlich finanzierte und kostenlose Gemeindeschulen, die der Verwaltung durch lokale Regierungen unterstehen; Privatschulen, die staatliche Subventionen erhalten und teilweise Schulgeld einfordern; und Privatschulen, die Schulgeld einheben. Das LOCE, (Organisches Verfassungsgesetz zur Erziehung) wurde von Diktator Augusto Pinochet einen Tag vor seinem Rücktritt 1990 verabschiedet und regelt in Grundzügen bis heute das Bildungswesen in Chile. [9] Die Verwaltung des öffentlichen Bildungswesens wurde mit dem LOCE dezentralisiert und vom Bildungsministerium an die Gemeinden übertragen, was dazu führt, dass in ärmeren Regionen die Qualität der Bildung leidet. Staatliche Subventionen an die Privatschulen richten sich nach den Einschreibungen der SchülerInnen. Die Einhebung von Schulgeldern führt bei vielen Familien zur Verschuldung. Neben der sozialen Segregation wird auch den indigenen Mapuche in den ländlichen Gemeinden des Südens der Zugang zur Bildung erschwert. [10]

Durch das LOCE wurde ein Prozess der Dezentralisierung und Privatisierung in Gang gesetzt, bei dem es im Kern um die Profitmaximierung geht. Im Zuge der sog. „Pinguinrevolution“, der Massenproteste von SchülerInnen im Jahr 2006, versprach die damalige Präsidentin Michelle Bachelet eine Bildungsreform und die Abschaffung des LOCE. 2009 wurde vom Kongress das LGE (Allgemeines Erziehungsgesetz) beschlossen, welches jedoch die Fehler des Bildungssystems nur kosmetisch und nicht im Kern korrigierte. [11] Die Regierung Piñera entwarf das „große nationale Abkommen für die Bildung“ (GANE), in dem zusätzliche Ausgaben für Bildung ungefähr in der Höhe des Jahresbudgets versprochen wurden. [12] Ein weiterer 21-Punkte-Plan der Regierung beinhaltete u.a. die Festschreibung von qualitätsvoller Bildung als einem Recht in der Verfassung; die Rücknahme der Dezentralisierung von Bildung; und die Reform des Stipendiensystems und der Kredite für Universitätsstudien. [13] Am 11.August unterzeichnete Präsident Piñera das Gesetz zur Qualitätssicherung in der Erziehung, das u.a. eine Agentur für die Überwachung der Qualität der Bildung einrichtet, mehr Stipendien gewährt und die Zinsen auf Studierendenkredite leicht senkt. [14]

Jesús Redondo vom chilenischen Observatorium für Bildungspolitik an der Universität Chile stellt dazu fest: „Die politische Führung versuchte die Krise durch ein allgemeines Gesetz zur Finanzierung der Bildung – und nicht zur Bildung – zu lösen,“ und er fügt hinzu, dass die Krise ausbrach, weil „in diesem Land das Recht auf Bildung nicht reguliert ist; im Gegensatz dazu ist Bildung eine Dienstleistung, die dem Recht auf Eigentum unterworfen wird.“ [15]

Die politische Agenda der Bildungsproteste beinhaltet die Forderung an den Staat, freie Bildung und einen breiten Zugang zur Bildung bereitzustellen; die Verwaltung der Bildung soll wieder von den Kommunen an das Bildungsministerium übertragen werden, damit das Ungleichgewicht zwischen armen und reichen Regionen beendet wird; die Aufhebung der ökonomischen Durchdringung von Bildung und die Sicherstellung von Bildung als einem Recht; den Zugang der indigenen Bevölkerung zum Bildungswesen. [16] Die Protestbewegung möchte erreichen, dass die Finanzmittel der Schulen in das Bildungswesen investiert und nicht wie bisher zur Profitmaximierung eingesetzt werden. [17] PoLin So von COHA bemerkt: „Was als faire Warnung an die chilenische Regierung bezüglich der Forderungen der SchülerInnen und StudentInnen auf allen Ebenen der Bildung begann, hat sich in eine unbeugsame politische Kraft verwandelt, die nach konstitutioneller und struktureller Reform ruft. Auf allen Ebenen der Erziehung fordern heute die SchülerInnen und StudentInnen eifrig die markt-getriebenen, profit-orientierten öffentlichen Schulen und Universitäten heraus. Unterdessen thematisieren Studierende an den Universitäten das Management der Regierung mit StudentInnenkrediten und den Mangel an Gerechtigkeit im Zulassungsprozess an den Universitäten. Weitere Forderungen beinhalten Stipendien für Studierende aus niederen und mittleren Einkommensschichten und ganzjährige Fahrausweise.“ [18]

Protest-Multitude

Die Protestbewegung greift zu vielfältigen Mitteln: Streiks, Schulbesetzungen, Demonstrationen, Cacerolazos (Lärmdemonstrationen, bei denen auf Kochtöpfe und Pfannen geschlagen wird), Performances in Superhelden-Kostümen und „Besa-thons“ (stundenlange Massen-Kiss-ins). Die ca. 4.000 TeilnehmerInnen schafften in 75 Tagen das Ziel, 1.800 Stunden ununterbrochen um den Präsidentenpalast La Moneda in Santiago de Chile zu joggen, womit die 1.8 Milliarden Dollar symbolisiert werden sollten, mit denen die Einführung eines freien Bildungssystems in Chile finanziert werden könnte. In der Hauptstadt wurde außerdem Michael Jacksons „Thriller“ von 3.000 SchülerInnen und Studierenden nachgestellt – der Aufmarsch der Zombies sollte den Niedergang des chilenischen Bildungswesens darstellen.

Ferner befinden sich 28 Jugendliche und weitere 22 Studierende im Hungerstreik, vier von ihnen seit mehr als 40 Tagen. [19]

Eine Idee, die unter den StudentInnen und SchülerInnen zunehmenden Einfluss gewinnt, ist die Abhaltung eines Plebiszites über eine Bildungsreform. Aufgrund der engen Grenzen, die Pinochets Verfassung für ein Plebiszit setzt, wäre dazu jedoch eine Verfassungsänderung notwendig. Drei von vier Oppositionsparteien engagieren sich für die Idee eines Plebiszites, wobei die ChristdemokratInnen in dieser Frage gespalten sind. [20]

Quellen:

[1] http://www.santiagotimes.cl/chile/education/22319-16-year-old-killed-in-chile-during-strike-violence-

[2] http://upsidedownworld.org/main/news-briefs-archives-68/3178-chile-students-lay-out-plans-for-more-protests

[3] http://jungle-world.com/artikel/2011/33/43815.html

[4] http://upsidedownworld.org/main/chile-archives-34/3190-seeking-social-justice-through-education-in-chile

[5] http://upsidedownworld.org/main/chile-archives-34/3190-seeking-social-justice-through-education-in-chile

[6] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56336

[7] http://www.coha.org/the-fight-to-make-education-a-guaranteed-right-chilean-students-vs-the-nation%E2%80%99s-president

[8] http://www.santiagotimes.cl/chile/education/22329-chiles-student-representatives-agree-to-meet-with-president

[9] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56794

[10] http://upsidedownworld.org/main/chile-archives-34/3190-seeking-social-justice-through-education-in-chile

[11] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56794

[12] http://www.coha.org/the-fight-to-make-education-a-guaranteed-right-chilean-students-vs-the-nation%E2%80%99s-president

[13] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56794

[14] http://upsidedownworld.org/main/news-briefs-archives-68/3178-chile-students-lay-out-plans-for-more-protests

[15] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56336

[16] http://upsidedownworld.org/main/chile-archives-34/3190-seeking-social-justice-through-education-in-chile

[17] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=56794

[18] http://www.coha.org/the-fight-to-make-education-a-guaranteed-right-chilean-students-vs-the-nation%E2%80%99s-president

[19] http://ipsnews.net/news.asp?idnews=104897

[20] http://www.santiagotimes.cl/chile/education/22232-support-for-education-plebiscite-grows-among-chiles-opposition

 

Editorische Hinweise

Auf Empfehlung unserer LeserInnenschaft spiegelten wir den Artikel von
http://austria.indymedia.org/ wo er am 1.9.2011 erschien.