Wahlkampf in Berlin
Am 18.September 2011 wird in Berlin das Abgeordnetenhaus für die nächsten fünf Jahre gewählt. Wir wollen diese Wahl durch Ereignisse, Texte und dergleichen Dinge ein wenig begleiten, die uns am Rande der Werbematerialschlacht der bürgerlichen Parteien und ihres Personals auffallen. (red. trend)

09/11

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Berlin als Selbsterfahrungsgruppe
Notizen über grüne Therapeutisierung der Politik
von Karl-Heinz Schubert

Die Selbsteinschätzung der Grünen, dass es ihnen gelänge, die SPD als stärkste Partei in Berlin abzulösen, war schon mehr als verwegen. 14 Tage vor der Abgeordnetenhauswahl bekommen sie laut Umfragen nur noch zwei Drittel der Stimmen, die die SPD erhalten wird. Ganz offensichtlich haben die grünen Parteistrategen die sozialen Strukturdaten Berlins falsch gedeutet. Sie meinten, wenn in Berlin von 1,7 Millionen Erwerbstätigen 1,4 Millionen im so genannten Dienstleistungsbereich tätig sind, dann müssten die neuen Mittelschichten quantitativ so stark vertreten sein, dass bei einer Wahlbeteilung von 58 %  wie  2006 (= 1,4 Mio. WählerInnen) 2011 locker 30 % der Stimmen (ca. 420.000) auf sie entfallen könnten.

Und nicht von ungefähr beginnen die Berliner Grünen ihr Wahlprogramm 2011, einem Konvolut von 236 Seiten, mit einem Zitat aus Saint-Exupérys  „Die Stadt in der Wüste“, welches bekanntlich als eine Art religiöses Patchwork aus Gebeten  und Meditationen, Bildern und Gesprächen gilt und damit das Lebensgefühl der Bionade-Bourgeoisie recht gut widerspiegelt. (Wahlprogramm S. 15)

Die Grünen wollen echte Gutmenschen sein und andere Gutmenschen für die gemeinsame Sache gewinnen: "Wir haben viel mit  Energie, Ernsthaftigkeit und Begeisterung an einer Idee für Berlin gearbeitet, die die Stadt bewegt und alle mitnimmt." (S.15)

Grüne Klientelpolitik soll für MittelschichtlerInnen freilich ganz vertraut klingen, nämlich so wie eine Selbsterfahrungsgruppe funktioniert, „in der man sich zuhört und gemeinsam Lösungen entwickelt“. (S.16) Dazu bedarf es gewisser Voraussetzungen, deren sprachliche Herkunft aus der Gestalttherapie nicht zu übersehen ist: „soziale Blockaden lösen“ und „die Potentiale aller fördern“ (S.18),  

Ähnlich einem Therapeuten, der eine Selbsterfahrungsgruppe betreut, deren Mitglieder von Selbstzweifeln zernagt sind, wird der grünen Klientel die kniende Haltung als aufrechter Gang verkauft. Nicht einfach fordern, sondern mit „Lernbereitschaft“ (S.23) an eine Sache herangehen. So hätten es die Grünen gern und garantieren dafür die Einrichtung von „regelmäßigen BürgerInnensprechstunden“ (S.23), wenn sie als regierendes Personal an den Stellschrauben der Macht (mit-)drehen dürfen, um Berlin mit ihrem „New Green Deal“ aufzuwecken (S.32).  

"Green New Deal" soll laut Böll-Stiftung angeblich die richtige Antwort auf die Doppelkrise von Wirtschaft und Umwelt sein. Um im Lichte dieser Erkenntnis wandeln zu können, braucht Berlin folgerichtig  „eine frische, engagierte und zukunftsorientierte Landesregierung.“ (S.33) 

Was grüne Therapeutisierung der Politik praktisch heißt, wollen wir einmal anhand der derzeit brennenden Frage nach der Zukunft der Mieten- und Wohnungspolitik aufzeigen. Im Wahlprogramm werden diesem Bereich unter der Losung "Wohnen darf kein Luxus sein  - Mieterschutz stärken" ganze   2 1/2 (!) Seiten gewidmet. Wer nun denkt, die hätten es sozusagen in geballter Form in sich, der irrt. Los geht es mit dem gleichen Psycho-Blah-Blah.

Gegen die Gentrifizierung - also den kapitalistischen Stadtumbau - setzen die Grünen "einen breiten Diskussions- und Entscheidungsprozess", den wollen sie "mit allen Akteuren führen" (S. 37) und zwar für folgende Forderungen:

  • Eine Bundesratinitiative für zeitlich begrenzte Mietobergrenzen (S. 37), aber: Vorschriften zur Verhinderung von Mietpreisüberhöhungen müssen für Bezirke und Kieze gelten und nicht unbedingt für das gesamte Stadtgebiet (S.38)

  • Der Kündigungsschutz in Gebieten mit einem hohen Druck (?!) hinsichtlich der Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen sollte von sieben auf zehn Jahre ausgeweitet werden. (S.38)

  • Vermieterunabhängigen Mieterberatungen in Sanierungs- und Erhaltungsgebieten erhalten und ausbauen.(S.38)

  • MieterInnen in ehemaligen Sozialwohnungen, die  von drastischen Mieterhöhungen bedroht sind, sollen von den
    städtischen Wohnungsbaugesellschaften bezahlbaren Wohnraum möglichst in der Nähe ihres alten Wohnumfeldes angeboten bekommen. (S. 38)

  • Die Zusammenarbeit der Sozial-, Wohn- und Bürgerämter, Jobcenter und freien Träger muss verbessert werden.

  • Den Anteil landeseigener Wohnungen am Wohnbestand auf 15 Prozent erhöhen und besser auf die Stadt verteilen (S.39)

  • Miete oder Eigentum in zukunftsweisenden und kooperativen Projekten wie Baugruppen (S.39)

Beim genaueren Nachprüfen dieser Forderungen zeigt sich jedoch, dass es sich keineswegs um einen Mieterschutz handelt, sondern um ein um bestimmte Forderungen (z.B. Bundesratsinitiative) erweitertes Plagiat; nämlich dem so genannten Interessenausgleich nach dem "win-win-Prinzip" zwischen dem Wohnungskapital und den als "Akteuren" chiffrierten MieterInnen, wie er im Ergebnisbericht März 2008 zur Rahmenstrategie "Soziale Stadtentwicklung" des rot-roten Senats beschrieben ist.



"Soziale Stadtentwicklung" S.47/48

Alles vergessen?

Über 500.000 BürgerInnen Westberlins unterzeichneten 1987 einen  Aufruf, der sich gegen die drohende  Aufhebung der Mietpreisbindung und Einführung des "weißen Kreises" richtete. So eine breite Bewegung gegen eine am Marktgeschehen und der Profitmaximierung orientierten Wohnungspolitik hat es seit dem in dieser Stadt nicht mehr gegeben. Die Alternative Liste für Demokratie und Umweltschutz, die Vorläuferorganisation der Berliner Grünen, kann zurecht als wesentlicher Initiator und Träger dieser Protestwelle angesehen werden, die sie 1989 in Berlin in die Regierungsverantwortung als Juniorpartner der SPD trug.

Ihr Wahlprogramm von 1985, das sie für 1989 im wesentlichen nur fortschrieb, war gemessen am Wahlprogramm 2011 von ganz anderen wohnungspolitischen Zielvorstellungen geprägt:

"Ziel ist die rechtliche Überführung des überwiegenden Teils der Wohnungen im Alt- und Neubau in öffentliches Eigentum und die Übertragung der tatsächlichen Verfügungsrechte an die Bewohner. Dabei müssen die Verfügungsrechte an die tatsächliche Nutzung gebunden bleiben: Verkauf und individuelle Verwertung sind ausgeschlossen."

Doch daran möchten sich die Grünen ungern erinnern. In der Dokumentation der Grünen Ausstellung 30 Jahre im Abgeordnetenhauses gibt es daher nur neben einem Plakat den kryptischen Hinweis auf vormals andere wohnungspolitische Grundpositionen:

"In den frühen 80er Jahren spielen Hausbesetzungen eine wichtige Rolle in der linken Szene. Die AL versteht sich als Spielbein der sozialen Bewegungen und unterstützt alternative Wohnformen. Bekannte Mitglieder der Alternativen Liste wohnen in besetzten Häusern." (S.15)

Mehr von damals findet sich nicht und mehr wäre auch peinlich.
 

Editorische Hinweise

Den Text bekamen wir vom Autor für die Ausgabe.

Wer sich's antun will, kann das Berliner Wahlprogramm 2011 bei den Grünen auch runterladen. Dort gibt es auch eine bebilderte  Light-Version.