Marx ist bei seiner Kritik der
Politischen Ökonomie von einem revolutionären Standpunkt
ausgegangen. Es hat aber nach jenem Zeitpunkt, wo ihm bei
der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie die Bedeutung
der Politischen Ökonomie als der »Anatomie der bürgerlichen
Gesellschaft« zuerst aufgegangen ist, noch einer längeren
Entwicklung bedurft, bis dieser Standpunkt sich aus einem
allgemeinen revolutionären in einen spezifisch
proletarischen und sozialistischen und aus einem
philosophisch idealistischen in einen materialistisch
wissenschaftlichen Standpunkt verwandelt hat. In der
»Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie«, in
der Marx den Beruf des Proletariats zur sozialen
Revolution zum ersten Mal aussprach,(1)
betrachtete er die Politische Ökonomie der Engländer und
Franzosen noch als einen an sich revolutionären
Fortschritt. Er stellt diese zeitgemäße Form, »die
Industrie, überhaupt die Welt des Reichtums« auf die
»politische Welt« zu beziehen, in Kontrast zu jener
kümmerlichen und reaktionären Form, in der dieses
»Hauptproblem der modernen Zeit« damals anfing, die
Deutschen zu beschäftigen: »Während das Problem in
Frankreich und England lautet: Politische Ökonomie oder
Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in
Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des
Privateigentums über die Nationalität.«(2) |

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Aber schon kurze Zeit darauf erhebt er gegen den (von ihm
sonst um diese Zeit noch als radikaler proletarischer
Revolutionär gepriesenen) französischen Sozialisten Proudhon den
Vorwurf, daß er in seiner Schrift »Qu'est-ce-que la propriete?«
die Nationalökonomie nur »vom Standpunkt der Nationalökonomie«
kritisiert habe. Das Proudhonsche Werk werde also
wissenschaftlich überschritten »durch die Kritik der
Nationalökonomie, auch der Nationalökonomie, wie sie in der
Proudhonschen Fassung erscheint«.(3)
Marx steht selber jetzt auf einem die ökonomische Wissenschaft
radikal transzendierenden Standpunkt. Die aus
dieser Periode stammenden ökonomisch-philosophischen
Manuskripte (4)
nehmen inhaltlich fast alle kritisch-revolutionären Erkenntnisse
des »Kapital« voraus. Seine Überschreitung der Ökonomie hat aber
um diese Zeit in der Hauptsache noch eine
philosophische Form. Er konfrontiert die Begriffe der Ökonomie
mit den Begriffen der Hegelschen
Philosophie. Marx sagt: »Hegel steht auf dem Standpunkt der
modernen Nationalökonomie«.(5)
Seine »Kritik der Nationalökonomie« erscheint noch als eine
(materialistisch gewendete) Fortsetzung des alten, idealistisch
philosophischen Kampfes um die »Aufhebung der menschlichen
Selbstentfremdung«.(6)
Marx faßt auch seine Kritik an Proudhon um diese Zeit noch
zusammen in dem Satz, daß Proudhon »die nationalökonomische
Entfremdung nur innerhalb der nationalökonomischen
Entfremdung« aufhebt.(7)
Es war noch ein weiter Weg zu durchlaufen, ehe Marx von
dieser philosophischen Form der Überschreitung der
Nationalökonomie zu dem materialistisch wissenschaftlichen
Standpunkt gelangte, von dem aus er in seinen späteren
Werken die Grenzen der Politischen Ökonomie wirklich
überschritten hat. Zur vollständigen Überwindung dieser
Nachklänge seines philosophischen Idealismus gelangte Marx in
der nächsten Phase seiner Entwicklung vermittels einer
umfassenden Kritik der nach-hegelschen Philosophie. Das erste
Resultat seiner jetzt beginnenden Zusammenarbeit mit Friedrich
Engels bestand in einer umfangreichen Auseinandersetzung mit
ihren bisherigen Freunden aus der Hegeischen Linken (Feuerbach,
Bruno Bauer, Stirner) und der philosophisch schöngeistigen
Richtung des »Deutschen« oder »Wahren Sozialismus«.(8)
Sie haben in diesem Werke den Gegensatz ihrer eigenen,
materialistisch wissenschaftlichen Ansicht gegen die
ideologische der deutschen Philosophie ausgearbeitet und damit
zugleich mit ihrem »ehemaligen philosophischen Gewissen«
endgültig abgerechnet.(9)
In einer bald darauf veröffentlichten polemischen Schrift gegen
das inzwischen erschienene ökonomische Hauptwerk Proudhons hat
dann Marx die allgemeine
philosophische Methode der Proudhonschen Ökonomie schon
vollkommen materialistisch von dem Standpunkt seiner neuen
Geschichtsauffassung kritisiert.(10)
Er hat gezeigt, daß Proudhon, indem er die ökonomischen
Kategorien nicht als »theoretische Ausdrücke historischer
Produktionsverhältnisse« behandelt, die einer bestimmten
Entwicklungsstufe der materiellen Produktion entsprechen,
sondern als »präexistierende, ewige Ideen«, auf diesem Umwege
»wieder auf dem Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie ankommt«.(11)
Dagegen hat er sich jetzt bei der Kritik des besonderen
ökonomischen Inhalts des Proudhonschen Werks in der
Hauptsache damit begnügt, den von Proudhon an eine
verballhornisierte Form der bürgerlichen Ökonomie angeknüpften
kritischen Theoremen die vollendete Gestalt dieser bürgerlichen
Ökonomie, d. h. die Ricardosche Werttheorie entgegenzusetzen.(12)
Er hat dem Proudhon also jetzt nicht mehr, wie in der früheren
Phase, vorgeworfen, daß er die Nationalökonomie noch nicht
(philosophisch) überschritten habe. Er wirft ihm jetzt vor, daß
er »die Illusionen der spekulativen Philosophie« teile und den
wirklichen (wissenschaftlichen) Boden der Ökonomie noch nicht
betreten habe. Die (j) von nun an beginnende Ausbildung
einer selbständigen kritischen Theorie der Politischen Ökonomie,
als Grundlage für die materialistische Theorie der
revolutionären Aktion der proletarischen Klasse fand ihren
ersten positiven Ausdruck in den von Marx im Brüsseler deutschen
Arbeiterverein 1847 gehaltenen Vorträgen über »Lohnarbeit und
Kapital«.(13)
Aufbau und Inhalt lassen unschwer erkennen, daß wir es hier mit
der ersten fragmentarischen Ausführung jener umfassenden
Darstellung aller den gegenwärtigen Klassenkämpfen und
nationalen Kämpfen zugrunde liegenden ökonomischen Verhältnisse
zu tun haben, welche später nach mehrfacher vollständiger
Neubearbeitung als »Das Kapital« erschienen ist.(14)
Nur mit dem Unterschied, daß die Darstellung hier noch nicht
unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der »Ware«, sondern unter
dem besonderen Gesichtspunkt der »Ware Lohnarbeit« und des
daraus unmittelbar entspringenden Gegensatzes der Lohnarbeiter-
und der Kapitalistenklasse erfolgt. Schon in dieser Darstellung
finden wir die großartige, und an schneidender Kraft auch durch
spätere Marxsche Formulierungen nicht mehr übertroffene
Kennzeichnung des Kapitals als eines nicht zwischen Mensch und
Natur, sondern auf der Grundlage des Verhältnisses von Mensch zu
Natur zwischen Mensch und Menschen bestehenden
gesellschaftlichen Verhältnisses.(15)
Die Fortsetzung dieser ersten kritischen Analyse des
Kapitals wurde (ganz ähnlich, wie eine weltgeschichtliche
Periode später die Leninsche Darstellung der »Lehre des
Marxismus vom Staat und der Aufgabe des Proletariats in der
Revolution«) »gestört« durch den Ausbruch der
Februar-Revolution.(16)
Erst seit den fünfziger Jahren hat Marx, der inzwischen nach der
Teilnahme an der Revolution von 1848/49 in London seine
Erforschung der ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Entwicklung »ganz von vorn wieder angefangen«
hatte,(17) die
voll entwickelte Form seiner materialistischen Theorie
ausgearbeitet. Sie ist zugleich politische Ökonomie und Kritik
der politischen Ökonomie. Sie verbindet die vollständige
Durchführung des klassischen Systems der bürgerlichen Ökonomie
mit der kritischen Überschreitung aller Phasen und Formen der
bürgerlichen Ökonomie. Sie entlarvt alle, auch die allgemeinsten
Begriffe und Grundsätze der Ökonomie als »fetischistisch«
verkleidete Ausdrücke bestehender gesellschaftlicher
Verhältnisse und als bloß historisch gültige Gesetze einer
bestimmten Epoche der ökonomischen Gesellschaftsformation. Sie
zeigt den geschichtlichen Prozeß, in dem die von der politischen
Ökonomie als Entwicklungsformen der Produktivkräfte
dargestellten bürgerlichen Produktionsverhältnisse zu Fesseln
der Produktivkräfte geworden sind, und proklamiert die
Veränderung dieser Produktionsverhältnisse durch die soziale
Revolution der proletarischen Klasse. In diesem Sinne
verstanden, ist das Marxsche »Kapital« nicht nur das letzte
große Werk der (bürgerlichen) klassischen Ökonomie. Es ist, als
Verbindung der bis zu Ende durchgeführten Theorie der
bürgerlichen Ökonomie mit der revolutionären proletarischen
Kritik der bürgerlichen Ökonomie, zugleich das erste große Werk
der revolutionären proletarischen Gesellschaftswissenschaft.
Fußnoten
1) MEW, Bd. 1,
S. 389 ff.
2) MEW, Bd. 1,
S. 382. - Viel kritischer stand zu der ganzen zeitgenössischen
Oekonomie bereits damals Friedrich Engels in seinen Umrissen
zu einer Kritik der Nationalökonomie, [MEW, Bd.
1, S. 499-5^4.
3). Die Heilige Familie 1845, MEW,
Bd. 2, S. 32
4) Zur Kritik der
Nationalökonomie. Mit einem Schlußkapitel
über die Hegelsche Philosophie 1844,
MEGA I, 3; S. 33-172.
5) 1. c. S. 157.
6) 1. c. S. 152 ff.
7) MEW, Bd. 2, S. 44
8) siehe. K. Marx, F. Engels, Die
Deutsche Ideologie . . ., MEW, Bd.
3
9) Vorwort 1859, S.
MEW, Bd. 13, S. 10
10) siehe:
Misere de la Philosophie. Reponse à
la Philosophie de la Misere de M. Proudhon, 1847 - eh. 2:
La Metaphysique de l'Economie Politique, dt.: MEW, Bd. 4,
S. 125-175, und den dieselben Fragen
erörternden Brief von Marx an Annenkoff
vom 28. 12. 1846, Mouvement Socialiste,
dt.: MEW, Bd. 27, S. 451 ff.
11) siehe den
im Social-Demokrat (Jg. 1865, Nr. 16-18) abgedruckten
Brief an J. B. v. Schweitzer, vom 24.1.1865,
in welchem Marx seine frühere Kritik an Proudhon noch einmal
wiederholte, MEW, Bd. 16, S. 28
12) siehe
Vorbemerkung von D. Rjazanov zur
deutschen Übersetzung
des Marxschen Briefes an Annenkoff in Neue Zeit XXXI,
1; S. 822.
13) siehe.
MEW, Bd. 6, S. 535-556 und den von Marx später,
in der zweiten Phase der 1848er
Revolution für den Abdruck in der Neuen Rheinischen Zeitung
(5.-11.. April 1849) neu
redigierten Text dieser Vorträge, MEW Bd. 6, S. 397-423
14) siehe
dazu auch die Marxsche Skizzierung des Gesamtplans des damals
beabsichtigten Werkes in dem Leitartikel der Neuen
Rheinischen Zeitung vom 4. April
1849. Dieser Artikel, der in MEGA I, 6 aus formellen
Gründen nicht mit aufgenommen ist, wurde zuerst veröffentlicht
von Engels als Einleitung zu seinem Neudruck der Marxschen
Vorträge in Broschürenform, 1891, MEW,
Bd. 6, S. 397 f.
15) siehe:
MEW, Bd. 6, S.
407 ff. und Bd. 3, S. 29 f.
16) siehe
Vorwort 1859,
MEW, Bd. 13, S. 10, und Lenin, Nachwort zu
Staat und Revolution 1917 mit dem für die Auffassung
beider Autoren gleichermaßen charakteristischen Schlußsatz,
daß es »angenehmer und nützlicher ist, die Erfahrungen der
Revolution mitzumachen, als über sie zu schreiben«.
17) siehe: Vorwort
1859,
MEW, Bd. 13, S. 10 f.
Editorische Hinweise
Der Text wurde entnommen aus: Karl Korsch,
Karl Marx - Marxistische Theorie und Klassenbwegung,
Reinbek, 1981, S. 77-81 - OCR-scan red. trend
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