Philosophische und wissenschaftliche Kritik
Leseauszug aus: Karl Marx - Marxistische Theorie und Klassenbewegung

von Karl Korsch

09/11

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Marx ist bei seiner Kritik der Politischen Ökonomie von einem revolutionären Standpunkt ausgegangen. Es hat aber nach jenem Zeitpunkt, wo ihm bei der Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie die Bedeutung der Politischen Ökonomie als der »Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft« zuerst aufgegangen ist, noch einer längeren Entwicklung bedurft, bis dieser Standpunkt sich aus einem allgemeinen revolutionären in einen spezifisch proletarischen und sozialistischen und aus einem philosophisch idealistischen in einen materialistisch wissenschaftlichen Standpunkt verwandelt hat.

In der »Einleitung zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie«, in der Marx den Beruf des Proletariats zur sozialen Revolution zum ersten Mal aussprach,(1) betrachtete er die Politische Ökonomie der Engländer und Franzosen noch als einen an sich revolutionären Fortschritt. Er stellt diese zeitgemäße Form, »die Industrie, überhaupt die Welt des Reichtums« auf die »politische Welt« zu beziehen, in Kontrast zu jener kümmerlichen und reaktionären Form, in der dieses »Hauptproblem der modernen Zeit« damals anfing, die Deutschen zu beschäftigen: »Während das Problem in Frankreich und England lautet: Politische Ökonomie oder Herrschaft der Sozietät über den Reichtum, lautet es in Deutschland: Nationalökonomie oder Herrschaft des Privateigentums über die Nationalität.«(2)

Aber schon kurze Zeit darauf erhebt er gegen den (von ihm sonst um diese Zeit noch als radikaler proletarischer Revolutionär gepriesenen) französischen Sozialisten Proudhon den Vorwurf, daß er in seiner Schrift »Qu'est-ce-que la propriete?« die Nationalökonomie nur »vom Standpunkt der Nationalökonomie« kritisiert habe. Das Proudhonsche Werk werde also wissenschaftlich überschritten »durch die Kritik der Nationalökonomie, auch der Nationalökonomie, wie sie in der Proudhonschen Fassung erscheint«.(3) Marx steht selber jetzt auf einem die ökonomische Wissenschaft radikal transzendierenden Standpunkt. Die aus

dieser Periode stammenden ökonomisch-philosophischen Manuskripte (4) nehmen inhaltlich fast alle kritisch-revolutionären Erkenntnisse des »Kapital« voraus. Seine Überschreitung der Ökonomie hat aber um diese Zeit in der Hauptsache noch  eine philosophische Form. Er konfrontiert die Begriffe der Ökonomie  mit den Begriffen der Hegelschen Philosophie. Marx sagt: »Hegel steht auf dem Standpunkt der modernen Nationalökonomie«.(5) Seine »Kritik der Nationalökonomie« erscheint noch als eine (materialistisch gewendete) Fortsetzung des alten, idealistisch philosophischen Kampfes um die »Aufhebung der menschlichen Selbstentfremdung«.(6) Marx faßt auch seine Kritik an Proudhon um diese Zeit noch zusammen in dem Satz, daß Proudhon »die nationalökonomische Entfremdung nur innerhalb der nationalökonomischen Entfremdung« aufhebt.(7) Es war noch ein weiter Weg zu durchlaufen, ehe Marx von dieser philosophischen Form der Überschreitung der Nationalökonomie zu dem materialistisch wissenschaftlichen Standpunkt gelangte, von dem aus er in seinen späteren Werken die Grenzen der Politischen Ökonomie wirklich überschritten hat. Zur vollständigen Überwindung dieser Nachklänge seines philosophischen Idealismus gelangte Marx in der nächsten Phase seiner Entwicklung vermittels einer umfassenden Kritik der nach-hegelschen Philosophie. Das erste Resultat seiner jetzt beginnenden Zusammenarbeit mit Friedrich Engels bestand in einer umfangreichen Auseinandersetzung mit ihren bisherigen Freunden aus der Hegeischen Linken (Feuerbach, Bruno Bauer, Stirner) und der philosophisch schöngeistigen Richtung des »Deutschen« oder »Wahren Sozialismus«.(8) Sie haben in diesem Werke den Gegensatz ihrer eigenen, materialistisch wissenschaftlichen Ansicht gegen die ideologische der deutschen Philosophie ausgearbeitet und damit zugleich mit ihrem »ehemaligen philosophischen Gewissen« endgültig abgerechnet.(9) In einer bald darauf veröffentlichten polemischen Schrift gegen das inzwischen erschienene ökonomische Hauptwerk Proudhons hat dann Marx die allgemeine philosophische Methode der Proudhonschen Ökonomie schon vollkommen materialistisch von dem Standpunkt seiner neuen Geschichtsauffassung kritisiert.(10) Er hat gezeigt, daß Proudhon, indem er die ökonomischen Kategorien nicht als »theoretische Ausdrücke historischer Produktionsverhältnisse« behandelt, die einer bestimmten Entwicklungsstufe der materiellen Produktion entsprechen, sondern als »präexistierende, ewige Ideen«, auf diesem Umwege »wieder auf dem Standpunkt der bürgerlichen Ökonomie ankommt«.(11) Dagegen hat er sich jetzt bei der Kritik des besonderen ökonomischen Inhalts des Proudhonschen Werks in der Hauptsache damit begnügt, den von Proudhon an eine verballhornisierte Form der bürgerlichen Ökonomie angeknüpften kritischen Theoremen die vollendete Gestalt dieser bürgerlichen Ökonomie, d. h. die Ricardosche Werttheorie entgegenzusetzen.(12) Er hat dem Proudhon also jetzt nicht mehr, wie in der früheren Phase, vorgeworfen, daß er die Nationalökonomie noch nicht (philosophisch) überschritten habe. Er wirft ihm jetzt vor, daß er »die Illusionen der spekulativen Philosophie« teile und den wirklichen (wissenschaftlichen) Boden der Ökonomie noch nicht betreten habe. Die (j) von nun an beginnende Ausbildung einer selbständigen kritischen Theorie der Politischen Ökonomie, als Grundlage für die materialistische Theorie der revolutionären Aktion der proletarischen Klasse fand ihren ersten positiven Ausdruck in den von Marx im Brüsseler deutschen Arbeiterverein 1847 gehaltenen Vorträgen über »Lohnarbeit und Kapital«.(13) Aufbau und Inhalt lassen unschwer erkennen, daß wir es hier mit der ersten fragmentarischen Ausführung jener umfassenden Darstellung aller den gegenwärtigen Klassenkämpfen und nationalen Kämpfen zugrunde liegenden ökonomischen Verhältnisse zu tun haben, welche später nach mehrfacher vollständiger Neubearbeitung als »Das Kapital« erschienen ist.(14) Nur mit dem Unterschied, daß die Darstellung hier noch nicht unter dem allgemeinen Gesichtspunkt der »Ware«, sondern unter dem besonderen Gesichtspunkt der »Ware Lohnarbeit« und des daraus unmittelbar entspringenden Gegensatzes der Lohnarbeiter- und der Kapitalistenklasse erfolgt. Schon in dieser Darstellung finden wir die großartige, und an schneidender Kraft auch durch spätere Marxsche Formulierungen nicht mehr übertroffene Kennzeichnung des Kapitals als eines nicht zwischen Mensch und Natur, sondern auf der Grundlage des Verhältnisses von Mensch zu Natur zwischen Mensch und Menschen bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisses.(15) Die Fortsetzung dieser ersten kritischen Analyse des Kapitals wurde (ganz ähnlich, wie eine weltgeschichtliche Periode später die Leninsche Darstellung der »Lehre des Marxismus vom Staat und der Aufgabe des Proletariats in der Revolution«) »gestört« durch den Ausbruch der Februar-Revolution.(16) Erst seit den fünfziger Jahren hat Marx, der inzwischen nach der Teilnahme an der Revolution von 1848/49 in London seine Erforschung der ökonomischen Grundlagen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung »ganz von vorn wieder angefangen« hatte,(17) die voll entwickelte Form seiner materialistischen Theorie ausgearbeitet. Sie ist zugleich politische Ökonomie und Kritik der politischen Ökonomie. Sie verbindet die vollständige Durchführung des klassischen Systems der bürgerlichen Ökonomie mit der kritischen Überschreitung aller Phasen und Formen der bürgerlichen Ökonomie. Sie entlarvt alle, auch die allgemeinsten Begriffe und Grundsätze der Ökonomie als »fetischistisch« verkleidete Ausdrücke bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse und als bloß historisch gültige Gesetze einer bestimmten Epoche der ökonomischen Gesellschaftsformation. Sie zeigt den geschichtlichen Prozeß, in dem die von der politischen Ökonomie als Entwicklungsformen der Produktivkräfte dargestellten bürgerlichen Produktionsverhältnisse zu Fesseln der Produktivkräfte geworden sind, und proklamiert die Veränderung dieser Produktionsverhältnisse durch die soziale Revolution der proletarischen Klasse. In diesem Sinne verstanden, ist das Marxsche »Kapital« nicht nur das letzte große Werk der (bürgerlichen) klassischen Ökonomie. Es ist, als Verbindung der bis zu Ende durchgeführten Theorie der bürgerlichen Ökonomie mit der revolutionären proletarischen Kritik der bürgerlichen Ökonomie, zugleich das erste große Werk der revolutionären proletarischen Gesellschaftswissenschaft.

Fußnoten

1) MEW, Bd. 1, S. 389 ff.

2) MEW, Bd. 1, S. 382. - Viel kritischer stand zu der ganzen zeitgenössischen Oekonomie bereits damals Friedrich Engels in seinen Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie, [MEW, Bd. 1, S. 499-5^4.

3). Die Heilige Familie 1845, MEW, Bd. 2, S. 32

4) Zur Kritik der Nationalökonomie. Mit einem Schlußkapitel über die Hegelsche Philosophie 1844, MEGA I, 3; S. 33-172.

5) 1. c. S. 157.

6) 1. c. S. 152 ff.

7) MEW, Bd. 2, S. 44

8) siehe. K. Marx, F. Engels, Die Deutsche Ideologie . . ., MEW, Bd. 3

9) Vorwort 1859, S. MEW, Bd. 13, S. 10

10) siehe: Misere de la Philosophie. Reponse à la Philosophie de la Misere de M. Proudhon, 1847 - eh. 2: La Metaphysique de l'Economie Politique, dt.: MEW, Bd. 4, S. 125-175, und den dieselben Fragen erörternden Brief von Marx an Annenkoff vom 28. 12. 1846, Mouvement Socialiste, dt.: MEW, Bd. 27, S. 451 ff.

11) siehe den im Social-Demokrat (Jg. 1865, Nr. 16-18) abgedruckten Brief an J. B. v. Schweitzer, vom 24.1.1865, in welchem Marx seine frühere Kritik an Proudhon noch einmal wiederholte, MEW, Bd. 16, S. 28

12) siehe Vorbemerkung von D. Rjazanov zur deutschen Übersetzung des Marxschen Briefes an Annenkoff in Neue Zeit XXXI, 1; S. 822.

13) siehe. MEW, Bd. 6, S. 535-556 und den von Marx später, in der zweiten Phase der 1848er Revolution für den Abdruck in der Neuen Rheinischen Zeitung (5.-11.. April 1849) neu redigierten Text dieser Vorträge, MEW Bd. 6, S. 397-423

14) siehe dazu auch die Marxsche Skizzierung des Gesamtplans des damals beabsichtigten Werkes in dem Leitartikel der Neuen Rheinischen Zeitung vom 4. April 1849. Dieser Artikel, der in MEGA I, 6 aus formellen Gründen nicht mit aufgenommen ist, wurde zuerst veröffentlicht von Engels als Einleitung zu seinem Neudruck der Marxschen Vorträge in Broschürenform, 1891, MEW, Bd. 6, S. 397 f.

15) siehe: MEW, Bd. 6, S. 407 ff. und Bd. 3, S. 29 f.

16) siehe Vorwort 1859, MEW, Bd. 13, S. 10, und Lenin, Nachwort zu Staat und Revolution 1917 mit dem für die Auffassung beider Autoren gleichermaßen charakteristischen Schlußsatz, daß es »angenehmer und nützlicher ist, die Erfahrungen der Revolution mitzumachen, als über sie zu schreiben«.

17) siehe: Vorwort 1859, MEW, Bd. 13, S. 10 f.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Karl Korsch, Karl Marx - Marxistische Theorie und Klassenbwegung, Reinbek, 1981, S. 77-81  - OCR-scan red. trend