Was bisher geschah
Am 13. Juli 2010 erschienen Beamte des Landeskriminalamts
Berlin in den Buchläden oh21 und Schwarze Risse, sowie im
Infoladen M99. Sie durchsuchten die Räume nach den zuletzt
erschienen zwei Ausgaben der Szenezeitschrift Interim (Nr. 713
+ 714) und beschlagnahmten die gefundenen Exemplare und die
Computer. Einige der eingezogenen Arbeitsgeräte konnten erst
nach drei Tagen beim LKA („Abteilung Linksextremismus“) wieder
abgeholt werden.
Es war nicht das erste Mal, dass sich Justiz und Polizei macht
ihrer ausübenden Gewalt Zutritt zu linken Läden und
Einrichtungen verschafften und diese nach den Zeitschriften
Interim, Prisma, Radikal, nach Plakaten, Flugblättern und
elektronischen Daten durchsuchten. Innerhalb des letzten
Jahres wurden die Läden von Schwarze Risse fünfmal, der
Infoladen M99 viermal und der Buchladen oh21 und der
Antifa-Laden Fusion/Red Stuff zweimal durchsucht. Weiterhin
kam es im Rahmen eines Ermittlungsverfahrens wegen der
Zeitschrift Prisma zu einer Hausdurchsuchung beim
Domaininhaber der Internetseite projektwerkstatt.de und in
Folge der staatlichen Repression zur vorübergehenden
Abschaltung der Internetseite durch den Provider JPBerlin.1
Desweiteren wurden im Zusammenhang mit der Suche nach
Verantwortlichen für die antimilitaristische Webseite bamm.de
eine Privatwohnung in Berlin sowie die Serverräume des
Berliner Internet-Providers so36.net durchsucht.2 In München
wurde im Juli 2010 das Kafe Marat durchsucht, um Exemplare der
Interim und Radikal zu beschlagnahmen. Bei den meisten Razzien
ging es um inkriminierte Zeitschriften. Begründet wurden sie
jedes Mal mit dem § 130a StGB „Anleiten zu Straftaten“ in
Verbindung mit § 40 WaffenG (Verbotene Waffen inklusive des
Verbots, solche herzustellen oder zur ihrer Herstellung
aufzufordern).3
Buchhandlungen verstoßen gegen das Waffengesetz?
Neu an den jüngsten Durchsuchungsbeschlüssen vom 13. Juli ist,
dass die Geschäftsführer der jeweiligen Buch- bzw. Infoläden
als Beschuldigte aufgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft
behauptet, die Beschuldigten hätten die Ausgaben der Interim
selbst ausgelegt und seien über den Inhalt informiert gewesen.
Die Vorwürfe "Aufforderung zu Straftaten" und "Verstoß gegen
das Waffengesetz" werden nun nicht nur gegen die Redaktion der
Zeitschriften, sondern gegen die Buchhändler erhoben!
Buchhändlerinnen und andere Ladenbetreiberinnen sollen
verantwortlich gemacht werden für den Inhalt der von ihnen
vertriebenen Schriftstücke.
Die Staatsanwaltschaft bekräftigte auf Nachfrage eines
Anwalts, dass es ihr Ernst ist mit diesem Vorstoß: Sie strebt
ein Gerichtsverfahren an, das die bisherige Rechtsprechung
revidieren soll. Diese geht bisher davon aus, dass Buchhändler
zu wenig Kontrollmöglichkeiten haben, um die Rechtmäßigkeit
der Inhalte der von ihnen angebotenen Bücher und Zeitschriften
zu beurteilen; daher könne ihnen keine "Tatherrschaft"
zugesprochen werden.
Wir haben es also mit einer politischen Initiative der
Staatsanwaltschaft zu tun, die, so sie Erfolg haben sollte,
die Möglichkeiten zur staatlichen Verfolgung von politischen
Gedanken und Einstellungen ausweiten wird. So, wie der §130a
keine konkrete Tat unter Strafe stellt, sondern die
"Anleitung" zu einer solchen schon zur Straftat macht, wird
nun versucht, vom bloßen Vorhandensein bestimmter
Schriftstücke auf deren inhaltliche Befürwortung durch die
Ladenbetreiber zu schließen und diese zu kriminalisieren.
Angeblich - siehe Artikel 5 Grundgesetz - findet eine Zensur
nicht statt, dafür aber aktive Verunsicherung und
Einschüchterung, wenn HändlerInnen und LeserInnen nicht wissen
können, ob das radikale Blatt, das sie in Händen halten nicht
morgen schon kriminalisiert werden wird, und sie gleich mit4.
Oliver Tolmein schrieb 1987 anlässlich der Wiedereinführung
des §130a: "Erschwert werden soll dadurch die
Selbstverständigung der außerparlamentarischen Opposition. Ein
öffentlicher Meinungsaustausch über Aktionen soll weitgehend
verhindert und zugleich der Anschein, es werde Zensur geübt,
umgangen werden. So verordnet man Selbstzensur."
„Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm eine Ende
setzt.“ Karl Kraus
Es geht der Staatsanwaltschaft aber nicht nur um eine
gerichtliche Verurteilung. Ob sie mit ihrem Schuldkonstrukt
vor Gericht Erfolg haben wird, ist auch ungewiß.
Wie im Fall des §129a -
"Bildung einer terroristischen Vereinigung" - haben wir es
beim §130a mit einem sogenannten Ermittlungsparagraphen zu
tun, dessen Zweck nicht zuletzt darin besteht die Szene zu
durchleuchten, indem er u.a. die Staatsanwaltschaft dazu
ermächtigt, Läden, Computer und Wohnungen durchsuchen zu
lassen.
Schon hier ist das Ziel die Abschreckung. Allein die Drohung,
radikale Teile der linken Opposition zu kriminalisieren, soll
das Umfeld entsolidarisieren und Spaltungsprozesse fördern. Es
war nie das Ziel der Durchsuchungen und Beschlagnahmungen,
bestimmte Zeitschriftenausgaben möglichst vollständig aus dem
Verkehr zu ziehen. Denn an vielen Orten, an denen die
inkriminierten Publikationen vermutet werden könnten, ist die
Polizei offiziell nicht aufgetaucht. Linke Buchläden aber sind
Schnittstellen zwischen der breiten Öffentlichkeit und linken
Strömungen und Subkulturen. Dadurch provozieren sie die
staatlichen Repressionsorgane. Sie werden angegriffen, um
Berührungsängste zu verbreiten.
Für die Buchhandlungen bedeuten
Durchsuchungen, beschlagnahmte Computer und gerichtliche
Auseinandersetzungen zudem Extrakosten und Extraarbeit. Wir
gehen davon aus, dass dieser ökonomische Druck die
Bereitschaft der Buchhandlungen fördern soll, als vorgelagerte
Zensurbehörde für Szeneveröffentlichungen zu agieren.
Die einschüchternde Wirkung der Durchsuchungen mag sogar um so
stärker sein, je dürftiger ihre Anlässe sind - und je häufiger
sie achselzuckend und ohne öffentliche Reaktionen hingenommen
werden.
"Man darf im sehr späten Kapitalismus fast alles sagen oder
denken, aber nichts tun." Dietmar Dath
Die politisch motivierte strafrechtliche Verfolgung linker
Gruppen und Publikationen als Gewalttäter bzw. -blätter fällt
auf den extremismustheoretisch genährten Boden. Als
"extremistische Gefahr" werden Linke mit Rechten
gleichgestellt und auf ein polizeiliches Problem für "die
Mitte" der Gesellschaft reduziert.
In diesen Kontext passt auch
die vom Tagesspiegel-Journalisten Hasselmann verfaßte Meldung
zu den Durchsuchungen am 13. Juli 2010: "Nachdem Interim die
Anleitung für den Bau einer Bombe gebracht hatte, durchsuchten
Beamte die Redaktion. Auch gegen einen rechtsextremen
Online-Versand in Marzahn ging die Polizei vor."
In den beschlagnahmten Zeitschriften wurden u.a. Anleitungen
zum Bau eines Molotow-Cocktails, eines Brandsatzes und eine
Erklärung zu einem Anschlag auf einen Geldautomaten
veröffentlicht. Vorgeblich sind es solche Anleitungen zu
Gewalttaten, die Polizei und Justiz auf den Plan rufen.
Aber Bauanleitungen für
Molotowcocktails und Brandsätze sind in Zeiten des Internets
nicht unter Verschluss zu halten, indem ein paar Zeitungen
einkassiert werden.
Die Dingfestmachung der
gedruckten Exemplare soll vielmehr der Selbstdarstellung der
Polizei als Kämpfer gegen "linke Gewalt" Glaubwürdigkeit und
Dramatik verleihen. Die Fokussierung auf "Gewalt" ist seit
jeher das Mittel, um linksradikale Kritik und Praxis als
Verbrechen zu diffamieren.
"Gewalt" wird vom Staat äußerst
selektiv verfolgt. Kein Staatsanwalt schreitet ein, wenn die
bürgerlichen Medien oder ein bürgerlicher Funktionär wie Thilo
Sarrazin die Gesellschaft zur Gewalttätigkeit anleiten, indem
sie Chauvinismus, Rassismus und sozialen Hass schüren.
Was ist ein Bekennerschreiben
zu einem Anschlag auf einen Bankautomaten gegenüber einem
System, das in immer mehr Bereichen, der Arbeit, der Schule,
den Behörden und den Medien die Angst regieren lässt, mit
Zwang den Status Quo im Inneren aufrecht erhält, mit Krieg
Außenpolitik macht und sich auf Kosten von Menschenleben das
wachsende Elend der Welt vom Leib hält?
Ob eine Äußerung als "Anleitung zu Straftaten" oder
"Volksverhetzung" verstanden und verfolgt wird, hängt immer
weniger von ihrem Inhalt ab, und immer mehr von dem Kontext,
in dem diese Aussage getroffen wird. Die heutige Gesellschaft
hat für umstürzlerische Reden und Schriften etwas übrig,
solange sich der Radikalismus auf die kulturellen Spielwiesen
der Feuilletons, der Theater- und Kongresssäle beschränkt.
Radikale Kritik an den Verhältnissen wird dort zugelassen, wo
niemand Ernst damit macht, diese Verhältnisse abzuschaffen.
An Orten aber, an denen aus Worten und Stimmen eine
organisierte Kraft werden könnte, ist die Repression zur
Stelle.
Linke Buchläden vertreiben Bücher, Broschüren und Flugblätter,
die die politischen Verhältnisse analysieren, kritisieren und
Handlungsoptionen diskutieren - aus unterschiedlichen
Perspektiven, aber mit dem Ziel einer radikalen Veränderung
der Gesellschaftsordnung.
Dafür sollen sie kriminalisiert werden. Von diesem
Kriminalisierungsversuch müssen sich alle betroffen fühlen,
"die nicht einverstanden sind, und es auch noch wagen wollten,
ihr Mißfallen öffentlich kundzutun." (O.
Tolmein)
Wir lassen uns nicht einschüchtern und wir werden uns nicht
selbst zensieren!
Verteidigen wir unabhängige und unkontrollierte Medien!
Für eine militant demokratische linke Öffentlichkeit!
M99, oh21, Schwarze Risse
1 Auf der Seite war eine PDF-Datei mit Ausschnitten der
Zeitschrift eingestellt.
2 Auf der Seite bamm.de, die bei SO36.NET gehostet ist, war
ein Flyer eingestellt, der zum „Schampussaufen“ beim Tod von
Bundeswehrsoldaten aufrief.
3 Im Fall der antimilitaristischen Internetseite sowie einem
antimilitaristischen Flyer wurden die Maßnahmen mit
„Volksverhetzung“ begründet und eine Durchsuchung im
Antifa-Laden Red Stuff wg. des Blockadeaufrufs gegen den
Naziaufmarsch in Dresden mit „Aufruf zu Straftaten“.
4 Es gibt noch andere Methoden der Zensur, wenn z.B. linke
Publikationen - wie aktuell wieder das Gefangenen Info - mit
Anzeigen wegen Verleumdung und ähnlichem überzogen werden und
sie zu Geldstrafen verurteilt werden, die ihre Existenz
gefährden.
Editorische
Anmerkungen
Die Erklärung
erhielten wir von den AutorInnen.
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