Gegen die Vertafelung der Gesellschaft

von
Anne Seeck

09/10

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Bundespräsident Christian Wulff hatte am 20.8.2010 zur „Tafel der Demokratie“ geladen, mit 3 Gang Menü, konzipiert vom Küchendirektor des Hotel Adlon Kempinski, dass eines der luxuriösesten Hotels in Deutschland ist. Es gab allerdings nur Eintopf, Eisbein und Sülze...für 1500 geladene Gäste, darunter viele Ehrenamtler.

Die „Überflüssigen & Tagelöhner“ riefen ebenfalls auf, sie forderten eine Regelsatzerhöhung, damit die Hartz IV-Bezieher nicht dazu gezwungen sind, Almosenempfänger von Tafeln zu sein. Schon das Sozialforum in Berlin hatte gefordert: Soziale Rechte statt Almosen!

Gewöhnlich assoziiert man mit Tafeln „das Festliche, Vielfältige, Reichhaltige“. Gewöhnlich sieht aber die bittere Realität anders aus. Denn ein Hartz IV-Bezieher muß im Monat von dem leben, was Deutsche Bank-Chef Josef Ackermann, der im Kempinski bestimmt gern gesehener Gast ist, in sechs Minuten verdient.

Heute stellen Tafeln das Gegenteil dar „Abfall, Armut und Hilfsbedürftigkeit“. Von Lebensstil kann keine Rede sein. Es geht darum, satt zu werden. Mit der Klasse der „Überflüssigen“ sind auch die Lebensmitteltafeln entstanden.

Die Geschichte der Tafelbewegung ist eine „Erfolgsgeschichte“. Dieter Hartmann schreibt: „Den Ärmsten helfen und die Umwelt schützen- und dies kostenneutral für den klammen Vater Staat. Eine klassische Win-Win-Situation. Die Frage ist nur: Für wen?“ (Selke 2009, S.263)

1963 gab es die erste Tafel in den USA, 1993 wurde die erste in Berlin gegründet. Inzwischen existieren 800 Tafeln mit mehr als 2000 Ausgabestellen, die von einer Millionen Menschen genutzt werden, ca. 40 000 meistens ehrenamtliche Tafelaktivisten, einige Tausende Ein-Euro-Jobber.

2004 entstand das Kooperationsprojekt „Laib und Seele“ in Berlin, Ende 2005 gab es bereits 33 Lebensmittelausgabestellen, bis Ende 2006 waren es 43.

„Gegenwärtig beliefert der Verein (Berliner Tafel) über 300 soziale Einrichtungen und versorgt darüber sowie mit Hilfe der Ausgabestellen von ‘LAIB UND SEELE’ etwa 125 000 Bedürftige, also ca. 3,6% der Berliner Bevölkerung, monatlich mit etwa 550 Tonnen Lebensmitteln...Neben den 600 Ehrenamtlichen und den etwa in gleicher Zahl helfenden Kirchengemeindemitgliedern bei ‘LAIB UND SEELE’ arbeiten etwa 20 Straftäter im Rahmen des Arbeit-statt-Strafe-Programms sowie 50 MAE-Kräfte bei der Berliner Tafel. Durch Letztere tragen zumindestens indirekt auch öffentliche Gelder erheblich zur Unterstützung der Arbeit bei. Der Verein zählt 1 165 Mitglieder...und benötigt monatlich etwa 25 000 Euro, um die laufenden Kosten zu decken.“ (Selke 2009, S. 182)

Die Tafeln sammeln überschüssige Lebensmittel und geben diese an Bedürftige ab. Die Tafeln organisieren das Umverteilen des gesellschaftlichen Überflusses.

Lebensmittelvernichtung- Der Konsumüberfluss

Ein typisches Phänomen der Konsumgesellschaft ist der Lebensmittelüberfluss. „Die exessive Erzeugung des Überflusses mündet in einen ‘respektlosen’ Umgang mit Lebensmitteln, nämlich ihrer massenhaften Entsorgung.“ (Selke 2009, S. 77) Wir leben in einer Überflußgesellschaft, in der mehr als 20% der produzierten Lebensmittel weggeworfen werden. Die Öffentlichkeit soll natürlich nicht erfahren, dass zuviel produziert wird. Es werden bewußt zu viele Lebensmittel produziert, die schließlich auf dem Müll landen. Stefan Selke schreibt in seinem Buch „Fast ganz unten“: „Lebensmittelhersteller produzieren immer 120 bis 140 Prozent des Bedarfs, damit Engpässe, Verkaufsschwankungen, Transportprobleme und andere Störungen ausgeglichen werden können. 20 bis 40 Prozent werden also bewusst für den Müll produziert...In Deutschland gibt es nicht nur Lebensmittelarmut sondern gleichzeitig auch Lebensmittelvernichtung...Weil die Marktkunden so anspruchsvoll sind, wird das Tafelwesen möglich. Von der Zweitverwertung ernähren sich die Bedürftigen. Auch durch die strengen Hygienerichtlinien ist es möglich. Wenn sich eine faule Banane in einer Kiste befindet, muß die ganze Kiste entsorgt werden. „Das, was die Lebensmittelhersteller wegwerfen, weil es den Ansprüchen ihrer Kunden nicht mehr entspricht, ist eine Art ‘Einnahmequelle’ der Tafeln.“ (Selke 2008, S.66f.)

Die Sponsoren

Die Spenderinstitutionen geben viel verdorbene Ware mit, um auch die Entsorgungskosten zu sparen. Dafür verlangen sie aber Dankbarkeit und natürlich eine Spendenbescheinigung.

Stefan Selke beschreibt den barschen Ton eines Filialleiters- „Mitkommen“. Die Supermärkte sparen sich die Entsorgungskosten. So holen die Tafeln jährlich über 100 000 Tonnen brauchbare Lebensmittel ab. Die Tafeln „helfen, die massenhaft überproduzierten Warenberge abzubauen und minimieren die Müllberge, die sonst anfallen würden.“ (Selke 2008, S.67) Sie holen die Waren kostenlos ab, Spenden spart Entsorgungskosten.

Die Spender lassen sich sogar von Tafeln die Restware aussortieren und sparen so auch noch Personalkosten. Die ehrenamtlichen Tafelmitarbeiter haben es bei der Spendenakquise mit Profis und Hierarchien zu tun. Die Mitarbeiter in den Supermärkten wiederum dürfen nichts Überflüssiges mitnehmen, sonst riskieren sie eine Bagatellkündigung. Die Supermärkte wollen oft nicht, dass die Waren weiterverkauft werden, wie in den Tafelläden. Also jene, die aus ökonomischen Gründen spenden, sind gegen eine profitable Weiterverwertung der gespendeten Lebensmittel. Sie wollen nicht, dass mit den Spenden Gewinn gemacht wird.

Die Sponsoren erwarten, dass die überflüssigen Lebensmittel zuverlässig entsorgt werden, sie Kosten sparen und gleichzeitig einen Imagegewinn durch ihre „gute Tat“ erzielen.

Die Unternehmen wollen durch die Spenden und Unterstützung ihr Image aufpolieren. So McKinsey, die seit 1996 die Tafeln unterstützen und sie in ein straffes Netzwerk umfunktioniert haben. McKinsey initiierte Werbekampagnen, suchte Sponsoren, erarbeitete einen Leitfaden für den Aufbau einer Tafel und ein Handbuch für den Betrieb einer Tafel. Sie entwickelten Grundsätze und ein geschütztes Corporate Identity der Tafeln. Das heißt für eine Tafel-Neugründung bedarf es der Genehmigung des Bundesverbandes Deutsche Tafel e.V. Gerade McKinsey tritt hier als Samariter auf, ein Unternehmen, dass für den Abbau von vielen Arbeitsplätzen und damit die zunehmende Verarmung verantwortlich ist.

Seit 1998 gehört zu den Hauptsponsoren die damalige Daimler-Crysler AG, die seitdem ca. 450 Transportfahrzeuge gesponsert hat. Ohne deren logistische Unterstützung wäre die Tafelarbeit heute so nicht möglich. Auch dieses Unternehmen engagiert sich gleichzeitig für den Sozialabbau und die Deregulierung. So saßen Vertreter von McKinsey und Daimler in der Hartzkommission. Bei den Tafeln profilieren sie sich als soziale Wohltäter. „Die Spender geben Denk-, Sprach- und Handlungsmuster vor, an die sich die Tafeln anpassen müssen, wenn sie weiter Erfolg haben wollen.“ (Selke 2008, S.194)

Auch andere Unternehmen sind Sponsoren: die Metro-Gruppe (Extra, real, die Cash&Carry-Märkte) hat den strukturellen Aufbau finanziell unterstützt, Gruner+Jahr schaltet kostenlos Anzeigen, General Overnight versendet Pakete, D+S europe übernimmt Callcenter-Leistungen, Vodafone stiftet Handys, und Kirchhoff Consult AG hilft bei der Erstellung der Tafel-Zeitschrift Feedback. Lebensmittelspenden kommen unter anderem von Galeria Kaufhof, Kaufland, Lidl. Zu den Sponsoren gehören Bahlsen, Bofrost, Burda, Bosch.. So schreibt Dieter Hartmann. „Die entstehenden Kosten sind aus der Portokasse bezahlte ‘peanuts’, doch der resultierende symbolische Mehrwert in der öffentlichen Wahrnehmung geradezu unbezahlbar.“ (Selke 2009, S. 265)

Die Familienministerin Ursula von der Leyen war Schirmherrin der Deutsche Tafel e.V., danach Familienministerin Kristina Schröder. Schirmherrin von der Leyen ließ in ihrem Grußwort zur Ehrung 15 großer Unternehmen am 1.12.2008 an die Vertreter von Coca-Cola, Daimler AG, Kirchhoff Consult AG, Lidl, Metro, Rewe, u.a. ausrichten: „Die Tafeln sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich immer mehr Unternehmen langfristig für gemeinnützige Projekte einsetzen wollen, die nicht nur zu ihrem Geschäft, sondern auch zu ihrer Firmenkultur passen." (Selke 2009, S. 263)
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Lebensmittelarmut- Die Überflüssigen

Einem Überangebot an Nahrungsmitteln steht eine wachsende Armut entgegen. Durch die Produktion von Bedürftigkeit werden die Tafeln legitimiert. Ohne die Armut wären sie aufgabenlos. Bei den „Überflüssigen“ herrscht Lebensmittelmangel. Ein typisches Phänomen einer Gesellschaft des Sozialabbaus (z.B. durch Hartz IV) ist der Ausschluss der Armen vom Konsum. Die Tafelnutzer sind die Endverbraucher jener Lebensmittel, die den Kriterien der Erstverbraucher nicht genügen. Was am Markt nicht gewählt wird, bleibt übrig für die Tafelnutzer. Dadurch werden die Vielfalt und Qualität der Lebensmittel vorherbestimmt. „Es wird eine Tafel angekündigt, aber ein Resteessen aufgetragen.“ (Selke 2009, S.77) Die Lebensmittel sind nicht mehr marktgängig, aber verzehrfähig. Sie müssen hygienisch einwandfrei und noch verwertbar sein. Für Tafelkunden gelten andere Kriterien als bei üblichen Marktkunden, die Waren entsprechen eben nicht den üblichen Anforderungen (Mindesthaltbarkeit, Ästhetik).

Der tägliche Essensplan richtet sich nach dem Angebot der Tafel, die Reihenfolge nach der Resthaltbarkeit. Wer sich nur von der Tafel ernährt, leidet unter einer Mangelernährung. Die Tafelnutzer können sich mit den gespendeten Lebensmitteln nicht gesund ernähren. Sie müssen mit dem zufrieden sein, was angeliefert wurde. Die Tafel kann so nur eine Ergänzung sein. Wenn sie nicht Lebensmittel zusätzlich aus dem Handel erwerben, ist die Gefahr einer Mangelversorgung an Energie- und Nährstoffen gegeben.

„Da Lebensmittel der Tafel im Allgemeinen für die Tafelnutzer eine große Rolle bei deren Ernährung spielen, erscheint es vor diesem Hintergrund um so wichtiger, dass die Bedürftigen ihre Ernährung eigenverantwortlich gezielt durch entsprechende Lebensmittel aus dem Einzelhandel ergänzen. Geschieht dies nicht oder ohne hinreichenden Bedacht, drohen Erscheinungen von Mangelernährung.“ ( Gerhard Igl u.a. 2008, S. 46)

Zudem müssen sie darauf achten, dass die Lebensmittel noch nicht verdorben sind. In dem Buch „Die Tafeln“ heißt es: „Im Einzelnen wurden als Qualitätseinschränkungen bei den zur Abholung bereitgestellten Lebensmitteln vor allem Mängel am Obst bzw. Gemüse in Form von braunen Stellen, Druckstellen oder beschädigten, runzeligen Stellen festgestellt. Ebenso vorhanden waren Überreife, verloren gegangene Frische oder ein flacher, fader oder künstlicher Geruch. In wenigen Fällen fiel ein muffiger, zum Teil auch ein gäriger, fauler Geruch auf, was auf den Verderb des Lebensmittels hinwies.“ ( Gerhard Igl u.a. 2008, S. 37)

Zu viel Monat am Ende des Geldes. Hartz IV- Bezieher können zwar überleben, aber sie können nicht am sozialen Leben teilnehmen. Also gehen sie zur Tafel, und sparen bei den Lebensmitteln, um doch noch an Aktivitäten teilhaben zu können.

Mit Hartz IV ist ein stark angestiegenes Wachstum der Tafeln festzustellen. Mit der Vermehrung von Armutslagen entstehen auch immer mehr Tafeln. Die Gesellschaft hat sich mittlerweile an Tafeln gewöhnt.

Die „abgespeisten“ Tafelnutzer

Am Anfang der „Tafelkarriere“ steht oft die Scham. Vielen fällt es schwer, die Schamgrenze zu überwinden. Sie stehen öffentlich auf der Straße, um sich mit abgelaufenen Lebensmittel zu versorgen, die die Supermärkte entsorgt haben. Damit wird ihre Armut sichtbar gemacht, was ein Bruch mit der Normalität ist.

Wenn sie auf der Straße Schlange stehen, drücken sie ihre Bedürftigkeit aus und haben Angst vor der Abwertung anderer Menschen. Dabei grassieren aber auch bei den Tafelnutzern häufig Vorurteile gegenüber anderen Nutzern, z.B. „unverschämten“ Ausländern oder „faulen“ Jugendlichen.

Die „Kunden“ erwarten, dass sie regelmäßig und zuverlässig mit Lebensmitteln versorgt werden. Da es immer mehr Tafelnutzer gibt, wird die Menge pro Kopf geringer und die Qualität der Zusammensetzung schlechter. Insbesondere werden die Tafeln von ALG II-Beziehern, Rentnern, Familien, Alleinerziehenden und Migranten genutzt.

Finanzielle Zwänge treiben Einkommensschwache in die Lebensmittelausgaben. Ursachen sind Arbeitslosigkeit und Schulden. Da das Geld vorn und hinten nicht reicht, sind die Betroffenen auf die gespendeten Lebensmittel angewiesen. Die finanzielle Not wird zwar abgemildert, aber es besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das entwürdigend und stigmatisierend wirkt.

Die Ausgabestellen haben eine starke soziale Funktion. Viele pflegen in den Tafeln soziale Kontakte, um ihrer sozialen Isolation zu entgehen. So entstehen in den Lebensmittelausgabestellen „Parallelgesellschaften“, wo sich aber keine politische Interessenvertretung herausbildet. Die Menschen richten sich ein, ohne sich politisch zu wehren. Und sie sind auch noch dankbar für die Almosen.

Die Helfer

Die Tafeln sollen eigentlich grundsätzlich ehrenamtlich sein, aber es sind auch Ein-Euro-Jobber beschäftigt, die vom Jobcenter geschickt werden.

Die Mitarbeiter müssen die Lebensmittel nach der Eignung zum Verzehr sortieren. Ca. ein Drittel der Lebensmittel muß weggeworfen werden. Die Helfer erwarten, dass sie auch weiterhin gebraucht werden und dass die Nutzer dankbar sind. Das Ehrenamt, oder auch bürgerschaftliches Engagement genannt, wird in Zeiten des Sozialabbaus als Problemlöser herangezogen. Viele Helfer haben romantische Vorstellungen von der Arbeit, oftmals bleibt aber keine Zeit für Kommunikation, sie müssen körperliche Arbeit leisten sowie dem Dauerstress und Kundenandrang gewachsen sein. Ihr Wunsch ist es, immer genügend Lebensmittel vorrätig zu haben. Stefan Selke schreibt: „Die Tafelarbeit füllt ein Vakuum im eigenen Leben...Der innere Weg ist eher eine Antwort auf eine Leerstelle im eigenen Leben...Der innere Weg ist gekennzeichnet durch den Wunsch, der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Man könnte auch kritisch kommentieren: Eine Schuld abzubauen...Der Gewinn für sie liegt hauptsächlich im Gefühl, von anderen gebraucht zu werden.“ (Selke 2008, S.91ff.) Sie beuten sich selbst aus und sehen die Tafel als soziales Auffangbecken. Das Ehrenamt in der Tafel wird zum zweiten Beruf. Die ehrenamtlichen Funktionsträger müssen immer erreichbar sein. Die Helfer suchen immer neue Betätigungsfelder, schaffen sich immer neue Nischen. Es geht um sie selbst. Die Arbeit wird andererseits nie spürbar anerkannt.

Viele Mitarbeiter spüren eine Nähe zu den Tafelnutzern.

„Zwischen der Welt ‘auf der sicheren Seite’ und der Welt ‘fast ganz unten’ gibt es eine relative Nähe. Und jede Menge Durchlässigkeit in Richtung des sozialen Abstiegs...Die Tafeln sind eine Reaktion auf die massenhafte Verbreitung und Verstetigung dieser Lebenslagen...Immer mehr spüren die neuen Dimensionen des eigenen Scheiterns...Dieses Hartz IV Gespenst hat uns alle erschreckt.“ (Selke 2008, S.105)

Natürlich ist es richtig, überschüssige Lebensmittel einzusammeln und zu verteilen, weil sie sonst weggeworfen werden. Auch die Umsonstökonomie praktiziert diese Umverteilung.
Aber diese institutionelle Umverteilung wirft Probleme auf:

Die Disziplinierung des Elends

Vor den Hartz IV-Gesetzen im Jahr 2003 gab es 320 Tafeln, im Jahre 2008 bereits 800.
Mit der Zunahme der Tafelnutzer nehmen auch die Restriktionen zu. Die Tafelnutzer müssen ihre Bedürftigkeit nachweisen. Die Tafeln verlangen für die Waren zwischen 50 cent und zwei Euro. „Die Würde der Kunden, die eigentlich bewahrt werden soll, wird durch Erziehungs- und Disziplinierungsmaßnahmen immer wieder untergraben.“ (Selke 2008, S.109)

Durch Erziehungsstrategien soll das Verhalten der Tafelnutzer kontrolliert und verändert werden. Es gibt Listen, Stempel, Ausweise und Kontrollen. Der Tafelkunde ist gläsern, denn seine Wohn- und Haushaltsdaten werden erfaßt. Der Druck auf die Helfer wird an die Kunden weitergegeben. Aufgrund der Disziplinierungsmaßnahmen ist zu bemerken, dass es sich bei den Tafelkunden nicht um „normale“ Kunden handelt. Die Kunden müssen sich anpassen, viele sind nicht bereit, diesen Preis zu zahlen. Diese Disziplinierung ist abschreckend, viele haben aber auch noch Schwellenangst, weil sie sich schämen. Die engagierten Helfer suchen wiederum eine Idealisierung; die Realisierung ist eine Bedrohung der Idealisierung

„Sie wollen das Elend bekämpfen aber es- beim besten Willen- nicht sehen. Wenn das Elend schon Teil der eigenen Idealisierung ist, dann muss es sich auch- bitte schön!- nach den Spielregeln richten. Warten, bis es drankommt, eine Form annehmen, die vorzeigbar ist. Aber das Wesen des wirklichen Elends ist immer, dass es weder zum richtigen Zeitpunkt kommt noch eine ansehnliche Form annimmt. Es wirkt immer derangiert, es ist immer deplaziert. Auch die Tafeln sind, unter dieser Perspektive betrachtet, nichts anderes, als der Versuch, dem Elend einen konkreten Ort und eine akzeptable Form zu geben. Die Tafeln sind ein gesellschaftlicher Mechanismus zur Disziplinierung des Elends. Das Elend wird in einen Plan gepresst. Einen Plan, der Logistik, Bedürftigkeit und Zeitschemata als Strukturgeber enthält. Dies aber ist ein Primärwiderspruch. Elend ist mit Disziplin nicht zu vereinbaren..“ (Selke 2008, S. 183)

Stefan Selke spricht von einer „verunreinigenden Entbößung“ der betroffenen Menschen. „Dies beginnt mit den Regeln der Bedürftigkeitsfeststellung, geht weiter über Zugangsregelungen zu den Tafeln und Tafelläden, Verhaltensregeln bei der Warenannahme, Akzeptanzregeln bezogen auf die Ware selbst, implizite (und manchmal auch explizite) Dankbarkeitsregeln sowie Kontrollregeln, mit denen z.B. eine ‘Doppelabholung’ bei mehreren Tafeln kontrolliert bzw. unterbunden wird.“ Dieses führe zu einer „Zwangsstrukturierung des eigenen Lebens...Autonomer Konsum wird hierdurch auf den Empfang von Almosen eingeschränkt.“ (Selke 2009, S. 276)

Vom Sozialstaat zum Almosenwesen

Wie im Mittelalter sollen die Wohlhabenden spenden und die Bedürftigen dankbar sein.

„Nach der Deformation des Sozialstaates kommt die Soziale Frage in die reiche Bundesrepublik zurück und mit ihr auch die private Wohltätigkeit.“ resümiert Franz Segbers, Professor für Sozialethik an der Universität Marburg, die Tafelentwicklung. Die Rückkehr zur privaten Wohltätigkeit des 19. Jahrhunderts mache die Armen wieder zu Almosenempfängern. „Berechtigte Forderungen nach bedarfsgerechter Erhöhung der Regelsätze, nach Anerkennung in der Gesellschaft und einem menschenwürdigen Leben, werden damit begraben.“ Der Staat gibt seine soziale Verantwortung an die karitative Wohltätigkeit ab.

Die Politiker erwarten, dass das flächendeckende System der Tafeln auch weiterhin funktioniert. Mit ihrer Politik haben sie sozialstaatliche Leistungen, die einklagbar waren, abgebaut, nun ersetzen sie diese durch private Hilfen, also Almosen. An die Stelle eines Rechtsanspruches auf soziale Sicherung tritt ein System der Armenfürsorge. Als Begründung heißt es immer, dass der Staat kein Geld hat.

Die öffentlichen Kassen sind leer, aber dafür ist nicht der Sozialstaat verantwortlich, sondern die Steuersenkungen für die Besserverdienenden sowie z.B. die Abschaffung der Vermögenssteuern. Privater Reichtum und öffentliche Armut steigen gleichzeitig an.

Auch die Armut vieler Menschen. Hartz IV hat die Republik verändert: „Die Zusammenlegung der bisherigen Arbeitslosenhilfe, die in der Tradition der Arbeiterpolitik stand, und der bisherigen Sozialhilfe, deren Ursprung in der Armutspolitik liegt, zum Arbeitslosengeld II war die Antwort. Damit aber wurde die strikte Trennung zwischen Armuts- und Lebensstandardsicherung und damit eine wesentlicher politischer Stabilisierungsfaktor aufgegeben. Die Armut ist jetzt unübersehrbar geworden. Sie kann auch diejenigen treffen, die heute noch eine gute Arbeit haben und die sich bisher vor Armut sicher fühlen konnten. Damit aber brauchte der neue Sozialstaat, der sich zunehmend auf Armutssicherung beschränkt, eine neue Legitimationsideologie: und genau dafür stehen die Tafeln!“ (Selke 2009, S. 268) Schließlich leben die Tafeln nicht nur von der Armut, sie befördern auch prekäre Arbeitsverhältnisse. Die Tafeln arbeiten mit Lebensmittelketten zusammen, die immer mehr „working poor“-Jobs anbieten. Ein Beweis für die Refeudalisierung der Gesellschaft. Auch der zunehmende Einsatz von Ein-Euro-Jobbern ist problematisch.

„Tafeln sind ein Indikator für eine Schieflage in unserer Gesellschaft.“ ( Selke 2009, S. 18)
Die Öffentlichkeit erwartet, dass die Tafeln sich etablieren und dort das Problem der Armut gut aufgehoben ist. Die sozialen Probleme werden so befriedet.

Befriedigung der Empörung über die soziale Spaltung

Das Sozialforum Berlin schreibt in einem Flugblatt: „Die ‘großzügigen’ Spender aus der Wirtschaft, die ja von der wachsenden sozialen Ungleichheit profitieren, können sich vor laufenden Kameras als Wohltäter darstellen, obwohl ihre Spenden lächerlich sind im Vergleich zu ihren Profiten – und die Besucher der Tafeln müssen sich als Almosen-Empfänger auf der Straße in die Schlange stellen. Und Politiker – wie etwa Sarrazin, der meint, dass man von Hartz IV ja toll leben kann - erhöhen die Regelsätze nicht, weil die Tafeln ja schon helfen werden.“ Geh doch zur Tafel, heißt es. Die Tafeln stützen eine menschenunwürdige Sozialpolitik.

Der Bundesvorstandsvorsitzender der Tafeln Gerd Häuser äußerte sogar selbstkritisch: „Es gibt Leute, die sagen, wir verhindern den Aufstand von unten.” (Selke 2009, S.264)

„Die Tafeln stabilisieren die Gesellschaft, weil sie ganz offensichtlich eine Leerstelle füllen. Sie erzeugen damit aber auch Armut und ‘zementieren’ den Staus quo...Statt an einer Abschaffung der Armut mitzuwirken, beteiligen sich die Tafeln- sicher unintendiert- an einer Segmentierung der Gesellschaft in ‘Oben’ und ‘Unten’. Bedürftige Menschen werden durch ein gut funktionierendes Tafelsystem zwar nicht vom Staat, dafür aber umso effektiver von freiwilligen Hilfsorganisationen ‘ruhig gestellt’.“ (Selke 2008, S. 213)

Die öffentliche Empörung über die zunehmende soziale Spaltung wird in Mitleid für  die Betroffenen kanalisiert. Auf diese Weise wird jeder politische Widerstandswille im Keim erstickt. Das sei der gefährlichste Effekt der Tafeln, so Dieter Hartmann vom Berliner Sozialforum.

Die Tafeln wären wirklich erfolgreich, wenn sie sich selbst abschaffen würden, aber sie sonnen sich in ihrem „Erfolg“ und expandieren. „Je erfolgreicher die Tafeln sind, desto weniger ändert sich am eigentlichen Problem.“ (Selke 2008, S.215)

Die Tafeln können nicht von heute auf morgen geschlossen werden, denn zu viele Menschen sind auf sie angewiesen. Das kann uns aber nicht davon abhalten, Kritik an den Tafeln zu üben. Es muss um eine Politisierung der Akteure gehen. Franz Seghers schreibt: „Statt der Abspeisung der Armen ist die Selbstorganisation und ihre Befähigung zum politischen Widerstand angesagt.“ (Selke 2009, S. 292)

Mit der politischen Gegenwehr müssen wir dafür sorgen, dass die Tafeln überflüssig werden.

Dafür steht der Kampf für eine Regelsatzerhöhung.

Am Mittwoch, den 8. September 2010 findet um 19 Uhr im Blauen Salon (Mehringhof, Gneisenaustraße 2a, Berlin-Kreuzberg) die Berliner Mobilisierungsveranstaltung für Oldenburg statt.

Am 10.10.2010 ist in Oldenburg die bundesweite Demonstration der erwerbslosen und prekären Frauen und Männer. Es geht um eine kraftvolle Einmischung bei der Festlegung der Hartz-IV-Regelsätze, um die Verknüpfung gemeinsamer Interessen von Beschäftigten und Erwerbslosen und um die Durchkreuzung von „Gegeneinander-Ausspiel“ -Strategien der Herrschenden und ihrer Helfer. Es ist der Versuch eine zerklüftete Bewegung zusammenzubringen in einer konzertierten Aktion. Aufrufende Organisationen sind:

ALSO (Oldenburg), Tacheles (Wuppertal), Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen (KOS), Aktionsbündnis Sozialproteste (ABSP), Erwerbslosen Forum Deutschland und Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Prekäre Lebenslagen.

Weiterführende Informationen gibt es im Internet unter www.krach-statt-kohldampf.de

Literatur:

Stefan Selke, Fast ganz unten, Westfälisches Dampfboot Münster 2008
Stefan Selke (Hrsg), Tafeln in Deutschland, VS Verlag für Sozialwissenschaften Wiesbaden 2009
Gerhard Igl, Stefanie Meischak, Stefanie Metze, Christina Ruch und Jana Töth, Die Tafeln, Rhombos Verlag Berlin 2008
 

Editorische Anmerkungen

Die Autorin stellte uns Ihren Artikel für diese Ausgabe zur Verfügung.