Das Philosophische Wörterbuch  BAND 2

hrg. von Georg Klaus & Manfred Buhr

09/10

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Mannigfaltigkeit - Begriff, der die unendliche qualitative Verschiedenheit der Erscheinungen der materiellen Weh in verallgemeinerter Form widerspiegelt.
Zusammen mit dem Begriff der Einheit der Welt bezeichnet er den Sachverhalt, daß die einheitliche Materie nicht auf eine bestimmte Form der Materie oder auf eine qualitätslose Urmaterie (Substanz) zurückgeführt werden kann, sondern stets in unendlich vielen qualitativ bestimmten Entwicklungsformen existiert. Diese Auffassung von der Einheit und Mannigfaltigkeit der Welt wurde erst auf der Grundlage der organischen Vereinigung von Materialismus und Dialektik möglich, die Marx und Engels vollzogen.  

Der Widerspruch von Einheit und Mannigfaltigkeit der Welt hat in der Geschichte der Philosophie in der Auseinandersetzung zwischen den philosophischen Grundrichtungen eine bedeutende Rolle gespielt. Einige materialistische Philosophien der Antike führten die Mannigfaltigkeit der Welt auf einen einheitlichen, qualitativ bestimmten Urstoff zurück, wie Thales auf das Wasser und Anaximenes die Luft. Anaximander dagegen hielt den Urstoff, der allen Erscheinungen zugrunde liege, für qualitätslos. Der Eleate parmenides versuchte, den Widerspruch zwischen der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen und ihrer einheitlichen Grundlage auf radikale Weise zu lösen, indem er das eine, unteilbare, ewige und unveränderliche materielle Sein für die wahre Substanz und die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen zu bloßem Sinnenschein erklärte.

Demokrit führte die Mannigfaltigkeit der Dinge und Erscheinungen auf die qualitätslosen Atome zurück, deren Vereinigung und Trennung die verschiedenen Gegenstände entstehen und vergehen lassen. Im Gegensatz zu den materialistischen Philosophen, die darum rangen, das dialektische Wechselverhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit in der materiellen Welt zu verstehen, suchten die Idealisten die Einheit der Welt in der Regel in geistigen Wesenheiten oder im menschlichen Bewußtsein. Für Platon sind die Ideen das wahre einheitliche Sein, und die mannigfaltigen Erscheinungen der materiellen Welt sind nur vergängliche Nachbildungen der Ideen. Nach kants Auffassung wird die Mannigfaltigkeit der Anschauung durch die Verstandestätigkeit mittels der Kategorien zur Einheit der Apperzeption gebracht. Die Einheit der Welt der Erscheinungen ist mithin ein Produkt unseres Verstandes.

Der mechanische Materialismus des 18. Jahrhundert versuchte, die ganze Mannigfaltigkeit der materiellen Welt auf stoffliche Körper und die mechanische Bewegungsform der Materie zurückzuführen. Die Geschichte der Wissenschaften, insbesondere die revolutionierenden Entdeckungen der modernen Naturwissenschaft über die Struktur der Materie, haben zu der Erkenntnis geführt, daß es unmöglich ist, die Mannigfaltigkeit der Welt auf eine letzte einheitliche Grundlage, sei es eine qualitätslose Substanz, eine qualitativ bestimmte Urmaterie oder «letzte» Elementarteilchen, zurückzuführen.

Die Materie ist ihrem Wesen nach eine Einheit des Mannigfaltigen, d. h., sie existiert immer in unendlich vielen qualitativ unterschiedenen Formen, die in einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang stehen und deren Einheit in ihrer Materialität besteht.

Editorische Anmerkung

Der Text wurde entnommen aus:

Buhr, Manfred, Klaus, Georg
Philosophisches Wörterbuch Band 2, Berlin 1970, S. 670
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