Alltag und Repression in der DDR
Vortrag in einer Veranstaltungsreihe zum 20. Jahrestag des Mauerfalls

von
Anne Seeck

09/09

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“Die sieben Weltwunder der DDR” (Volksmund)

1.     Obwohl keiner arbeitslos ist, hat die Hälfte nichts zu tun.

2.     Obwohl die Hälfte nichts zu tun hat, fehlen Arbeitskräfte.

3.     Obwohl Arbeitskräfte fehlen, erfüllen und übererfüllen wir die Pläne.

4.     Obwohl wir die Pläne erfüllen, gibt es in den Läden nichts zu kaufen.

5.     Obwohl es in den Läden nichts zu kaufen gibt, haben die Leute fast alles.

6.     Obwohl die Leute fast alles haben, meckert die Hälfte.

7.     Obwohl die Hälfte meckert, wählen 99,9% die Kandidaten der Nationalen Front. 

Meine Perspektive ist die von unten. Sowohl in der DDR als auch nach 1989 habe ich das Leben am unteren Rand der Gesellschaft kennengelernt. Die DDR war ein autoritärer Staat und auch dieser Staat wird immer autoritärer, aus der Perspektive jener Menschen gesehen, die “unten” leben. Das Entscheidende für mich ist, wie ein Staat mit seiner Unterschicht, dem Anderssein, den Andersdenkenden umgeht. Ich vergleiche ständig beide Systeme, die ich erfahren mußte. Aber mir würde im Traum nicht einfallen, die DDR der 1980er Jahre, die ich bewußt kennengelernt habe, mit dem Nationalsozialismus zu vergleichen oder gar gleichzusetzen, daher lehne ich die Anwendung der Totalitarismustheorie ab. Der Nationalsozialismus war einmalig, das Grauen unvergleichlich. Es gibt keine Worte für Auschwitz. Außerdem habe ich in meinen Jahren in Dresden-Neustadt und Ostberlin eine DDR-Subkultur kennengelernt, die sich Freiräume eroberte. Es gab die Möglichkeit, anders zu sein, viele waren aufgrund ihres Andersseins allerdings auch mit Repression konfrontiert.  

Was ist die Totalitarismustheorie? In ihr wird in aktueller Anwendung die DDR mit dem Nationalsozialismus verglichen, und damit die DDR dämonisiert und der Nationalsozialismus verharmlost.. Die sechs Wesenszüge einer “totalitären” Diktatur seien: eine Ideologie, eine Partei, eine terroristische Geheimpolizei, ein Nachrichtenmonopol, ein Waffenmonopol, eine zentral gelenkte Wirtschaft. Die Totalitarismusdiskussion begann in den 1920er Jahren, dabei wurden die Begriffe “totalitär” und “Totalitarismus” von italienischen Antifaschisten 1923 erfunden, die Mussolini kritisierten, der seit 1922 herrschte. Durch den Hitler-Stalin-Pakt wurde die These bestätigt, damit erreichte die Totalitarismusdiskussion ihren Höhepunkt. In Zeiten des Kalten Krieges wurde die Totalitarismustheorie als Waffe benutzt. Später, in Zeiten der Entspannung wurde es ruhig um diese Diskussion. Der stille Sieg der Totalitarismustheorie kündigte sich dann schon in den 1980er Jahren an, beschleunigte sich aber nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus. Besonders die DDR-Forschung bedient sich der Totalitarismustheorie, zieht Vergleiche zwischen Nationalsozialismus und DDR.

Wolfgang Wippermann meint, dass ein Abgrund zwischen Geschichtswissenschaft und Öffentlichkeit klafft, was er zum Beispiel an der Diskussion um die Speziallager und die Stasi festmacht. So werden Speziallager in der Öffentlichkeit manchmal als Konzentrationslager und die Stasi als Rote Gestapo bezeichnet. Allerdings müsse man in der Debatte um die DDR-Vergangenheitsaufarbeitung natürlich auch aufpassen, dass man nicht die relativierende Sichtweise von Zeitgenossen übernimmt. Wie Wolfgang Wippermann warnt, habe man dabei Erfahrungen aus der NS-Zeit von Zeitgenossen, “die bekanntlich häufig nichts getan und von nichts gewußt haben wollen”. (Wippermann, S. 58) “...die Betonung, dass es eben auch in der DDR einen Alltag gab, (kann) zu einer Verharmlosung ihres diktatorischen Charakters führen”. (Wippermann, S.58) Zwar war die DDR nicht völlig durchherrscht, aber die Repression konnte jeden treffen. Daher dürfe man den Alltag nicht verharmlosen und verherrlichen. Auch hier gäbe es einen geschichtspolitischen Skandal. Dazu hätte die Literatur von DDR-Nostalgikern beigetragen, aber auch die Dämonisierung der DDR, die zu Trotzreaktionen und zu Desinteresse geführt hätte. Wie Wolfgang Wippermann ist auch Karl-Heinz Roth, der die Totalitarismustheorie kritisiert, für eine Aufarbeitung der Geschichte des Staatssozialismus: “Die (selbst-) kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte der staatssozialistischen Diktaturen gehört gerade heute zu den Grundvoraussetzungen für das Überleben und Weiterwirken des sozialistischen Projekts überhaupt....Nur so können die Voraussetzungen für einen Neuanfang geschaffen werden, durch den die Verschränkung von Sozialismus und Demokratie von vornherein garantiert ist.” (Roth, S. 64ff.)

Dankbar bin ich Bini Adamczak für ihr Buch “Gestern Morgen”: Sie schreibt: “Ohne den Gang durch die Geschichte der revolutionären Versuche wird es keine revolutionäre Versuchung mehr geben.” (Adamczak, S.121) Und abschließend: “Auf die (antikommunistische) Kritik des Kommunismus reagieren Kommunistinnen

mit Verteidigung- es sei nicht alles am Kommunismus schlimm-, mit Abwehr- das sei überhaupt kein Kommunismus gewesen- oder mit Angriff- die Kritik der kommunistischen Verbrechen diene nur der Legitimation der Verbrechen seiner Feinde. Jedes Mal haben sie Recht. Aber was über den Kommunismus ist gesagt damit, dass der Nationalsozialismus schlimmer, der Kapitalismus ebenso schlimm gewesen ist? Welches Urteil gesprochen über einen Kommunismus, in dem nicht alles, nur fast alles schlimm war? Und vor allem, welcher Anspruch erhoben auf einen Kommunismus, der trotz jahrehundertelanger Versuche ihn zu realisieren real doch nur in der Phantasie derer existierte, die, immer wenn sie befragt werden, leider ohne alle Macht sind....Das Diktum, das schöne Bild des wahren Kommunismus lasse sich nicht zeigen, wird zur Legitimation, vor den hässlichen Bildern des falschen Kommunismus die Augen zu verschließen.” (Adamczak, S.139 ff.)

Aufarbeitung ist also unbedingt notwendig, vor allem auch von Seiten der Kommunisten.  

Aber was erlebe ich. Verharmlosung durch die ehemaligen Funktionäre- Verklärung durch viele ostdeutsche Normalbürger, die sich nach sozialer Sicherheit sehnen- Banalisierung durch die Medien. Will ich Ostalgie erleben, muß ich nur die Zeitung Junge Welt aufschlagen.

Die Historikerin Anette Leo führte Befragungen von Ost- und Westdeutschen durch und stellte fest, dass es eine geteilte Erinnerung gibt. Westdeutsche thematisieren oft den Machtapparat in der DDR sowie den Mangel an Freiheit und Demokratie. Ostdeutsche sprechen dagegen meistens über ihre Lebenswelt, während sie die Repression ignorieren. Nur jene Ostdeutsche, die dem System kritisch und distanziert gegenüberstanden, erinnern sich auch an Überwachung und Repression. Ostdeutsche stellen die soziale Sicherheit in den Vordergrund, vor allem die Sicherheit der Arbeitsplätze und die “solidarische” Gemeinschaft.

(Was war das für eine Solidarität, die mit dem Systemwechsel sofort zerbrach, außerdem war die “solidarische” Gemeinschaft mit Spitzeln durchsetzt.) Hauptursachen für das Scheitern sind bei den befragten Ostdeutschen die wirtschaftliche Ineffizienz und bei den befragten Westdeutschen die fehlenden Freiheiten. M.E. waren sowohl der Mangel an Waren (aufgrund der zunehmenden Konsumorientierung) als auch der Mangel an Freiheiten (wie z.B. die fehlende Reisefreiheit) Ursache für den Untergang der DDR. Ich bin der Meinung, dass die Repressionsopfer der DDR ein Anrecht haben, dass die Repression auch heute noch thematisiert wird. Viele Biographien wurden durch den Staat DDR zerstört. Es kann nicht sein, dass die ehemaligen Systemträger und Mitläufer in der DDR den Kampf um das DDR-Bild gewinnen und nur noch den geschönten Alltag präsentieren. Dieser Alltag war im Staat DDR vollkommen reglementiert. Die Normalbiographie war in ein “stahlhartes Gehäuse” (Max Weber) eingebettet. Aber es gab auch Freiräume, die sich Menschen eroberten. Oftmals werden weder die Autonomie von Menschen noch die Wandlungen in der DDR-Gesellschaft wahrgenommen. Daher bin ich für eine differenzierte Aufarbeitung der DDR, in der sowohl die Repression als auch der Alltag, zu dem z.B. selbstbestimmte Arbeitsbiographien gehörten, einen Platz haben. Leider wird eine Vermittlung eines kritischen DDR-Bildes kaum geleistet, so wurde in der Studie “Soziales Paradies oder Stasistaat”, in der 5219 Schüler in Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Bayern sowie in Ost-und Westberlin befragt wurden, festgestellt, dass gerade die Schüler in Brandenburg und Ostberlin am ahnungslosten waren, sie bewerteten die DDR auch positiver und lobten die “soziale Seite” der DDR. Je mehr die Schüler dagegen wußten, desto kritischer waren sie. Der Berliner Bildungssenator gab eine Gegenstudie in Auftrag. Der Professor, der den Auftrag bekam, meinte, man könne die DDR nicht mehr im Unterricht behandeln, das könnte die Schüler eventuell in “Konflikte mit ihren Familien treiben”. Daher weht also der Wind. Es kann nicht sein, dass kritische Geister wie ich, die schon die DDR kritisch sahen, wieder in eine Außenseiterposition, was das DDR-Bild betrifft, gedrängt werden bzw. plötzlich mit dem Antikommunismus der CDU in eine Ecke gestellt werden. Bevor ich zur repressiven Seite der DDR komme, die bei mir weder Verständnis, Verharmlosung noch Verkärung hervorruft, möchte ich den “schönen” Alltag beleuchten, eben die “soziale Sicherheit”.  

Sozialpolitik 

Was war die Motivation der DDR-Führung, insbesondere von Erich Honecker, die Sozialpolitik in den Vordergrund zu stellen. Ein Schock für die Systemträger war der Arbeiteraufstand am 17.Juni 1953, der in Folge von Normsteigerungen entstand. Die SED scheute seitdem Lohnkürzungen und die Rücknahme der Sozialpolitik. Die SED strebte eine bessere Gesellschaft ohne Not an, denn ihre Führungskräfte wie Honecker & co hatten noch eine prekäre Existenz erfahren müssen. Außerdem stand die DDR immer im Vergleich zur BRD und besonders zur Sozialdemokratie (Keynesianismus). Ohne die Ost-West-Konkurrenz hätte es die beiden Staaten so nicht gegeben. Mit dem Wegfall des Konkurrenzsystems begann dann auch der rigorose Sozialabbau. Und mit dem Sozialabbau und insbesondere der Massenarbeitslosigkeit blühte die “Ostalgie” in den neuen Bundesländern auf. Aber die DDR war kein soziales Paradies, sondern ein autoritär-paternalistischer Wohlfahrts- und Arbeitsstaat, der welfare und workfare miteinander verknüpfte.   

Fragt man DDR-BürgerInnen nach den sozialen Errungenschaften der DDR, so wird man folgendes hören: das Recht auf Arbeit, guter Zugang zum staatlichen Gesundheitssystem, niedrige subventionierte Warenpreise des täglichen Lebens, der Miete und der Preise von öffentlichen Verkehrsmitteln, Erwerbstätigkeit der Frauen, Familienförderung, Recht auf Wohnraum, Sozialpolitik in den Betrieben: Die Betriebe erfüllten auf zahlreichen Gebieten von Kindergärten und –krippen über die Altenbetreuung und das Wohnungswesen bis zu den betrieblichen Polikliniken und Ferieneinrichtungen eine wichtige Dienstleistungsfunktion. 

Natürlich muß man aber die Sozialpolitik in der DDR differenzieren, wobei ich nur einige Punkte anreißen kann.   

  • Das Recht auf Arbeit, Vollbeschäftigung, Arbeitsplatzsicherheit 

Hört sich für viele erstmal gut an, aber die DDR war eine ausgesprochene Arbeitsgesellschaft. Auch in der fordistischen Industriegesellschaft der DDR ging es um die Verwertung der Arbeitskraft. Die Sozialpolitik war auf Arbeit ausgerichtet, die Priorität lag in der DDR bei der Arbeit. Es gab Arbeitsplatzsicherheit, allerdings nicht für Ausreiseantragsteller, z.B. wenn sie Lehrer waren. Gewünscht war fleißiges und diszipliniertes Arbeiten in Kombination mit politischem Wohlverhalten. Unproduktive, wie Alte und Behinderte wurden dagegen vernachlässigt. Die Vollbeschäftigungspolitik führte zur verdeckten Arbeitslosigkeit, d.h. viele Arbeitsplätze waren überbesetzt, es gab zu viele Arbeitskräfte. (Wie oft habe ich das erlebt...) Manfred G. Schmidt schreibt: “Die Vollbeschäftigung wurde mit einer verdeckten Arbeitslosigkeit erkauft, die nach den DDR-üblichen Produktions- und Absatzbedingungen auf rund 1,4 Mio. Beschäftigte veranschlagt wurde. Hinzu kamen weitere 1,6 Mio. Beschäftigte, die gemessen an marktwirtschaftlichen Produktions- und Absatzbedingungen, zur überflüssigen Arbeitsbevölkerung zählten.” (Schmidt, S.97)

Meine größte Kritik ist aber, dass es neben einem Recht auf Arbeit  auch eine Pflicht zur Arbeit und eine Kriminalisierung von sogenannten Arbeitsscheuen gab. Dazu erstmal nur zwei Gesetze. In der Gefährdeten-Verordnung heißt es u.a.: Kriminell gefährdet sind Personen, “die ernsthafte Anzeichen von arbeitsscheuen Verhalten erkennen lassen, obwohl sie arbeitsfähig sind.” Wer sich nicht in die sozialistische Gemeinschaft einordnete, der wurde einfach stigmatisiert und ggf. kriminalisiert. Häufig waren das ehemalige Heimkinder, AlkoholikerInnen, Langhaarige, Punks etc. Kriminell “gefährdeten” Personen (also sie hatten noch keine Straftaten begangen) konnten folgende Auflagen erteilt werden: eine Arbeitsplatzbindung, d.h. es wurde ein Arbeitsplatz zugewiesen, den man nicht wechseln konnte, eine Wohnraumzuweisung, wobei man auch diese nicht wechseln durfte, Umgangsverbot mit bestimmten Personen, Aufenthaltsverbote für bestimmte Orte, Heilbehandlung bei Alkoholmißbrauch. Ob man nun als kriminell gefährdet eingestuft war oder nicht, man konnte in der DDR wegen der “Beeinträchtigung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit durch asoziales Verhalten” verurteilt werden. Im Asozialengesetz der DDR (§249) heißt es u.a.: “Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigt, indem er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, wird mit Verurteilung auf Bewährung, Haftstrafe oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.” Nach der Haft ging dann die Repression weiter. Ähnlich wie bei den “kriminell gefährdeten Personen” gab es Auflagen, wie die Arbeitsplatzbindung. Wer einmal in diesem Kontroll-und Repressionsapparat gefangen war, dem gelang es kaum, sich daraus zu befreien. 

  • Betriebliche Sozialpolitik 

Die Betriebe waren die wichtigsten Orte des gesellschaftlichen Lebens.  Zur Sozialpolitik in den Betrieben gehörten Prämien- und Zuschlagszahlungen, ein umfangreiches Warensortiment, Dienstleistungen, ein betriebliches Gesundheitswesen, Kinderkrippen, Kinderferienlager, Kultureinrichtungen, Wohnungswirtschaft u.v.m. Die staatliche Gewerkschaft, der FDGB, war das größte Reiseunternehmen. Die Arbeitskollektive in den Betrieben spielten eine große Rolle, sie wirkten nicht nur integrierend, sondern auch kontrollierend. Immer mehr abweichende Jugendliche versuchten, sich diesem Kontrollsystem zu entziehen. Es gab “Arbeitslose” in der DDR und wenn auch meistens nur vorübergehend. 

  • Familien- und Frauenpolitik 

Die hauptsächliche Motivation für die Familien- und Frauenpolitik in der DDR lag in der Bevölkerungspolitik (Geburtenförderung) und beim Arbeitsvermögen. Da viele Menschen geflüchtet waren, brauchte die DDR die erwerbsfähigen Frauen als Arbeitskräfte. Zudem war die Familienpolitik auf ein Mütterleitbild ausgerichtet. Für die Frauen bedeutete das eine Doppelbelastung, Mutterschaft und Erwerbstätigkeit. Nur die arbeitende Mutter war auch eine “gute” Mutter. Der Patriarchalismus war in der DDR an der Tagesordnung.

  • Wohnungspolitik

Das Leitbild in der DDR war die Kleinfamilie als Wohnform. Die staatliche Wohnraumlenkung war ein schwerfälliger Apparat, der Familien und Alleinerziehende mit Kindern bei der Wohnraumvergabe bevorzugte. Abweichende Jugendliche, die in die Großstädte strömten, mußten deshalb Wohnungen besetzen, um überhaupt an Wohnraum zu gelangen. Die stillen Wohnungsbesetzungen wurden oftmals geduldet, es sei denn es waren konspirative Stasiwohnungen. Viele warteten jahrelang auf eine Wohnung, dabei hatte jeder DDR-Bürger das Recht auf Wohnraum. Offiziell gab es keine Obdachlosen, einige kurzzeitige Fälle waren mir aber bekannt. Aber- Die Wohnungssubstanz verfiel, die DDR saß auf einem Pulverfaß, denn eine Wohnungsnot kündigte sich an. Während Plattenbausiedlungen wuchsen, verfiel der Altbaubestand. Auch bei den Wohnverhältnissen gab es Unterschiede, am schlechtesten wohnten un- und angelernte Arbeiter, am besten Leitungskader und Geistesschaffende.  

  • Sozialversicherung 

90% der Bevölkerung gehörten 1989 der Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten (SVAA) an. Die Sozialversicherung beinhaltete viele Leistungen, z.B. bei Krankheit und Invalidität. Oftmals werden zum Beispiel die Polikliniken als vorbildlich dargestellt, allerdings war die materielle Ausstattung im Gesundheitswesen schlecht. Die Lebenserwartung nahm in den 1980er Jahre ab, es gab eine 4,6 mal höhere Sterberate bei heilbaren Krankheiten im Vergleich zur BRD. Außerdem war auch die Gesundheitspolitik arbeitszentriert.

  • Preissubventionen, Bezuschussung von Waren des Grundbedarfs, Tarifen und Dienstleistungen 

Preisgestützt waren Nahrungsmittel, sozialpolitisch bedeutsame Industriewaren wie Kinderbekleidung, Kinderschuhe, Schulartikel, Arbeits- und Berufskleidung, Mieten, Fahrpreise im Nah- und Fernverkehr, Wasserpreise, ausgewählte Reparaturen und Handwerkerdienste in Privathaushalten. Es gab Mindestlöhne und -renten. Die Grundversorgung war in der DDR gesichert, daher gab es keinen bzw. kaum Existenzdruck. Diese Versorgung lag aber auf einem relativ kargen Niveau, daher strebte die Mehrheit der DDR-Bevölkerung nach dem “Wohlstand” im Westen, den sie bei dem westdeutschen Normalbürger vermutete. Anderseits wurden die subventionierten Güter aber auch verschwendet, so Strom oder Brot, das an Tiere verfüttert wurde. Die Subventionen kamen allen zu gute, nicht nur den Bedürftigen.  

Die Sozialpolitik der DDR hatte einen ambivalenten Charakter, einerseits gab es eine Grundversorgung, wozu sogar Bildung und Kultur gehörten, andererseits ein ausgefeiltes Belohnungssystem, wie Prämien, Feiern, Orden etc. Mit der “sozialen Sicherheit” begann der Rückzug ins Private der Normalbürger, die Konsumorientierung wuchs. Aufgrund der “sozialen Sicherheit”, d.h. den niedrigen Lebenshaltungskosten, konnte sich aber auch die Subkultur Freiräume verschaffen. 

Soziale Gleichheit und Soziale Differenzierung 

Als DDR-Sozialisierte werde ich mich niemals mit der sozialen Ungleichheit in diesem gegenwärtigen Gesellschaftssystem abfinden. Dagegen war die soziale Ungleichheit in der DDR lächerlich. Der Unterschied zur heutigen Gesellschaft bestand in der DDR natürlich in einer viel geringeren Spaltung der Gesellschaft. Es gab zwar Armut, aber nicht diesen unermeßlichen Reichtum. Die Einkommensspanne war nicht groß, Lohnunterschiede gering. Die Spitze der Einkommenshierarchie war eingeebnet. Auch die Vermögensunterschiede und der sozial-psychische Abstand zwischen den verschiedenen sozialen Schichten waren gering.

Die DDR hat soziale Ungleichheiten abgebaut. So gab es eine Grundsicherung durch den Mindestlohn und Preissubventionen. Das Wohlstandsniveau der DDR-Normalbürger lag allerdings unter dem der BRD-Normalbürger.  

Und es gab auch in der DDR soziale Differenzierungen, die so benannt werden sollten, denn diese führten zu Unzufriedenheit.

  • in der Bildungspolitik

Trotz staatlicher Kindererziehung blieb der schichtspezifische Einfluß der Familie groß. Es bestand ein Zusammenhang zwischen familiärer Herkunft und Bildungschancen. Die Schule erfüllte auch in der DDR Selektionsfunktionen. Der Zugang zu weiterführenden Schulen war beschränkt. 10-12% eines Schülerjahrganges durfte diese besuchen.

Was die Bildungspolitik betraf, wandelte sich die DDR. In der Nachkriegsphase setzte in der ehemaligen DDR eine Phase hoher sozialer Mobilität ein, große Bevölkerungsteile stiegen sozial auf. Es erfolgte eine “Umschichtung nach oben” durch die Öffnung der Hochschulen für die Kinder der Arbeiterschaft. 1958 waren 53% der Studenten Arbeiterkinder. Ab den 60er Jahren nahm die soziale Ungleichheit der Bildungschancen wieder kontinuierlich zu. 1960 studierten nur 19% der Kinder aus der Intelligenz, 1989 war dagegen jeder 2.Student ein Akademikerkind. Es wird von Erstarrungs-und Schließungstendenzen in den letzten 2 Jahrzehnten des Bestehens der DDR gesprochen. Der Mobilisierung der Arbeiterkinder folgte die Selbstrekrutierung der sozialistischen Dienstklassen. Die Aufstiegschancen für Kinder aus unteren Schichten sahen nach 40 Jahren DDR schlecht aus, 1989 waren  7-10% der Studenten Arbeiterkinder. In den 1980er Jahren ging es vor allem um die Herkunft aus der Dienstklasse, Vitamin B und Systemloyalität. Systemloyalität wurde zur wichtigen Bedingung sozialer Mobilität in der DDR. Die politischen Ressourcen wurden “weitervererbt”. Die privilegierten Klassen reproduzierten sich selbst.

  • in der Alterssicherung

Es existierten Zusatz- und Sonderversorgungssysteme bei der Rente. Sonderversorgungssysteme wurden für politisch wichtige Mitarbeiter des Staatsapparates eingerichtet, so für MFS- und NVA-Angehörige. Zusatzversorgungssysteme waren eine Ergänzung der Rente, z.B. für die Intelligenz. Es gab auch Ehrenpensionen für politische Loyalität.

Andererseits drohte vielen, insbesondere Frauen, im Alter der Abstieg in die Armut. Die durchschnittliche monatliche Rente lag im Dezember 1989 bei 446,62 Mark (mit Freiwilliger Zusatzrentenversicherung 555,42 Mark). Viele Frauen bezogen aber nur die Mindestrente. (300 DDR-Mark) Viele pflegebedürftige Ältere und Behinderte waren eine Randgruppe in der DDR. Die Alterssicherung und Sozialfürsorge waren das problematischste Kapital in der DDR-Sozialpolitik.

  • Besitz von Westgeld

Soziale Differenzierungen existierten auch aufgrund des Besitzes von Westgeld.

Die DDR begann sich aber auch nach dem Besitz von Westgeld sozial zu unterscheiden. Es bildete sich eine Zwei-Klassen-Gesellschaft heraus. In der Ladenkette Intershop und dem Versandhandel Genex konnte man in der DDR besonders attraktive Waren für Westgeld kaufen. Legitimiert wurde das durch die Devisennot der DDR.

Konsum

Das Preissystem stellte sich als Ausdruck der Sozialpolitik dar. Aber auch bei den Preisen gab es eine soziale Differenzierung. Während bestimmte Warengruppen hochsubventioniert waren, wurden andere künstlich verteuert und als Luxusgüter angesehen. Lobenswert war, daß sich viele Preise an den Bedarfen der einkommensschwächtsten Bevölkerungsgruppen orientierten. Wohnen, Ernährung, Verkehr, Kultur und Bildung wurden durch staatliche Subventionen niedrig gehalten. Für wenig Geld war viel zu haben. Aber gerade bei den gehobenen Konsumgütern kann von einer schleichenden Preiserhöhung gesprochen werden, Autos, Waschmaschinen, Fernseher, Kühlschränke, überhaupt technische Geräte etc. waren teuer. Auch ansonsten war eine Zwei-Klassen-Struktur von Waren zu beobachten. In den 60er Jahren wurden die Läden Exquisit und Delikat eröffnet. Dort gab es modische Kleidung und hochwertige Lebensmittel zu hohen Preisen. Der Kaufkraftüberhang sollte abgeschöpft werden. Das Geld war so in der DDR im Umlauf, Sparguthaben wurden aufgebraucht. Durch die unterschiedlichen Konsummöglichkeiten bildeten sich in der DDR sozio-kulturelle Unterschiede heraus.

schichtspezifische Differenzen 

Soziologen entdeckten Milieus und Schichten in der DDR. Wurde zunächst von einer Arbeiter-und Bauernklasse sowie der Intelligenz gesprochen, so kam es in den 80er Jahren in der DDR zu einem Wertewandel und einer Differenzierung von Lebenslagen. Es bildeten sich auch in der DDR moderne Lebenswelten (z.B. das subkulturelle und links-intellektuell-alternative Milieu), trotzdem dominierten die traditionellen Lebenswelten. 2/3 gehörten diesen Milieus an. Mit 27% war das traditions-verwurzelte Arbeiter-und Bauernmilieu die größte Lebenswelt in Ostdeutschland. Schichten waren die Machtelite, die Selbständigen, Dienstleistungsschicht (untere und mittlere Angestellte, sozialistische Intelligenz, sozialistische Dienstklasse), Arbeiterschicht, Randschicht seien Mindestrentner gewesen. Und die Soziologen vergessen meistens die unterste soziale Schicht in der DDR.

Problematisch war die Situation insbesondere für Behinderte, Pflegebedürftige und für Personen mit einer Konzentration von Merkmalen wie alleinstehend, weiblich, Kinder, niedrige Qualifikation. Zur unteren Schicht in der DDR gehörten Bezieher niedriger Renten und Berufstätige mit niedriger Qualifikation, dabei waren Frauen in dieser Randlage öfter anzutreffen als Männer.  

ungleiche politische Macht

Zwar war die soziale Ungleichheit in der DDR gering, aber die politische Macht war ungleich verteilt. Parteikonformes Verhalten wurde zum Beispiel durch Prämien, Orden etc. belohnt.  

Westliche Kritik an der DDR ist oft die Gleichmacherei, denn Menschen sind verschieden. M.E. sollte es auch nicht um Gleichheit im Sinne von Unterdrückung der Individualität und Zwangskollektivierung gehen, sondern um Chancengleichheit, keine Unterdrückung der Chancen anderer, freie Entfaltung der Persönlichkeit. Mit den Entfaltungsmöglichkeiten sah es in der DDR häufig schlecht aus.  

Die Normalbiographie

Diese zeichnete sich durch Uniformität aus und wurde deshalb in der Subkultur abgelehnt. In der typischen DDR-Familie mittleren Alters von 1989 hatten beide Eltern eine abgeschlossene Berufsausbildung. Beide Elternteile waren vollzeiterwerbstätig, die Fünftagewoche zählte 43 ¾ Arbeitsstunden (für Frauen von 2 Kindern unter 16 Jahren 40 Stunden). Die Familie wohnte in einer kleinen Wohnung mit geringem Komfort, mit Warmwasserversorgung (vor allem im Plattenbau), ohne Telefon. Die Einrichtung wurde mit einem zinsbaren Ehekredit von maximal 7000 Mark finanziert. Von diesem Kredit wurden bei der Geburt des ersten Kindes 1000 Mark erlassen. Beim 2. Kind waren es 1500 Mark und beim dritten 2500 Mark. Damit hatte man die Wohnungseinrichtung dann “abgekindert”.

90% der Frauen hatten mindestens 1 Kind. Frühe Berufstätigkeit, Heirat und Elternschaft waren Normalität in der DDR. Das Heiratsalter lag Ende der 80er Jahre bei 22,7 (Frauen) bzw. 24,8 Jahren (Männer). Die generative Phase (also die Phase des Kinderkriegens) der Frauen war zwischen dem 19. und 25. Lebensjahr.

Die Kinder der zumeist jungen Eltern wurden in der Regel nach dem 1.Lebensjahr wieder in staatlichen Institutionen betreut. 84% der Kinder unter 3 Jahren besuchten durchschnittlich 9 Stunden täglich eine Krippe, 95% der Kinder ganztags einen Kindergarten, 80% nach der Schule den Hort. In der Schule wurden die Kinder dann organisiert. 90% aller Kinder waren zunächst Jungpioniere, mit 10 Jahren Thälmannpioniere und mit 14 FDJ-Mitglieder. Die dann vielleicht aufmüpfige Jugend sollte schnell integriert werden, früh arbeiten, früh heiraten, früh Kinder bekommen. Man kann von einem beschleunigten Lebenslauf sprechen, auffallend ist insbesondere die Beschleunigung der Übergänge vor allem für Hineinwachsende ins Erwachsenenleben.  

Zentralistische Planwirtschaft  

Die DDR-Verfassung von 1968 schrieb die “sozialistische Planwirtschaft” als Wirtschaftsordnung der DDR fest. Elemente der Planwirtschaft in der DDR waren:

die führende Rolle der SED: Die Partei, also die SED, hatte das Wahrheitsmonopol. Die Zentrale war immer unfehlbar. Somit war diese Planwirtschaft nur eine bürokratische Zentralverwaltungswirtschaft. Die Partei traf die Entscheidungen. Die wichtigsten Beschlüsse wurden von einer kleinen Gruppe im Politbüro gefaßt. Den Verstand brachten ein Dachdecker (E.Honecker) und ein Eisenbahner (G.Mittag) mit...

das sozialistische Eigentum an Produktionsmitteln: In der DDR hatte keine Vergesellschaftung, sondern nur eine Verstaatlichung stattgefunden. Das Volkseigentum blieb anonym, die Arbeiter hatten kein Eigentümerbewußtsein, weil die Autonomie der Betriebe mit dem politischen System nicht vereinbar war. Pläne wurden gefälscht und beschönigt. Kein Mensch nahm die Pläne ernst. Die Zentrale wollte hohe Planauflagen durchsetzen, die Betriebe wollten dagegen risikoarme Pläne aushandeln; deshalb hatten Betriebsleitungen Interesse, Pläne auch nicht zu sehr überzuerfüllen. Die Betriebe hatten ja keine Eigenverantwortung und Autonomie, geschweige denn Selbstverwaltung. Die Arbeiter waren zwar von der Ausbeutung durch das Kapital befreit, aber nicht frei in der Selbstbestimmung der Produktion. Die Produzenten verfügten nicht wirklich über die Produktionsmittel und konnten auch nicht die Ziele der Produktion beeinflussen, daher blieben sie eigentums- und interessenlos. Hier hätte sich die Frage nach der Autonomie der Betriebe gestellt. 

und die Planung und Leitung auf Grundlage des demokratischen Zentralismus: Der Zentralismus hatte sich bei Industrialisierung der SU und in der Nachkriegszeit als erfolgreich erwiesen. Aber 1952/53 traten die Mängel der praktizierten Planwirtschaft immer mehr hervor. Die DDR konnte mit der wissenschaftlich-technologischen Revolution nicht mithalten, in der Mikroelektronik lag sie z.B. 8-10 Jahre hinter der Weltentwicklung zurück. Die Planwirtschaft war eher ein Industrialisierungsprojekt, die Planwirtschaft war der zweiten (chemisch-elektrischen) und der dritten Revolution (Computerzeitalter) nicht gewachsen. Zur BRD hatte die DDR einen enormen Produktivitätsrückstand, die Arbeitsproduktivität in der DDR war gering. Das Konsumangebot blieb hinter der Nachfrage zurück. Die DDR war eine Mangelgesellschaft. Auf die Differenzierung der Bedürfnisse hatte der Zentralismus keine Antworten. Die Planwirtschaft setzt Transparenz und Konstanz der Bedürfnisse voraus. Sie hat 2 Annahmen: die für die Planung zuständigen Instanzen kennen die individuellen und kollektiven Bedürfnisse und die Bedürfnisse bleiben lange konstant.

Die Innenschulden der DDR waren belanglos, die Außenschulden dagegen dramatisch, weil es Devisen waren. Sie hatten sich seit 1971 verzwangzigfacht. Ob die DDR vor der Pleite stand, darüber streiten sich die Geister, allerdings war der Verfall schon in der DDR sicht- und spürbar. Der Kahlschlag durch die Privatisierung bzw. Vernichtung des “Volkseigentums” tat dann ihr übriges. Es wurden nicht die Produktionsstätten, sondern der Absatzmarkt gebraucht. Hätten allerdings die Arbeiter der DDR massenhaft ihr Schicksal einmal selbst in die Hände genommen, wie bei den Besetzungen von Fabriken in Argentinien, dann hätte vieles gerettet werden können. Aber sie rannten lieber der DM und Kohl hinterher.  

Vom Alltag (“Soziale Sicherheit”, Normalbiographie, Planwirtschaft) komme ich jetzt zur Repression. Beginnen möchte ich mit der Unterschicht oder sozialen Randschicht in der DDR, diese wird oft vergessen. So habe ich im Mammutwerk der Enquetekommission “Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland” nichts zum Themen “Kriminalisierung von ‘Asozialität’” gefunden, da weiß man gleich, was für die Herrschaften legitim ist. Wahrscheinlich würden sie die sogenannten Asozialen auch heute am liebsten wegsperren, statt ihnen Hartz IV auszuzahlen.  

Unterschicht der DDR  

Heimkinder 

Am Stichtag den 31.5.1989 waren insgesamt 27 847 Heimplätze belegt. In den Jugendwerkhöfen saßen 2607 Jugendliche.  In der Durchführung des Tagesplanes wurde die Nähe zur Armee deutlich. Auf die Affinität zum Militärischen wiesen hin: Appell, Disziplin, Kontrolle, Arrest usw. Miltärische Umgangsweisen gab es vor allem in Torgau. Für die Eingewiesenen in Torgau galt: “Ihr Problem war, aus schwierigen Familien zu stammen, sich an den zugewiesenen Arbeitsstellen nicht einfügen zu können, die falsche Musik zu hören. Kein Gericht sprach ein Urteil, keine unabhängige Instanz prüfte die Einweisungen. Bis zu sechs Monaten konnte die drakonische Verwahrung hinter Hundelaufgräben, Stacheldraht und Wachtürmen dauern. Für Tausende von unbequemen DDR-Jugendlichen wurde ‘Torgau’ zum Synonym für Angst, Drill und Strafe.” (Einweisung nach Torgau, S.95)

Die Jugendlichen waren im Jugendwerkhof der Willkür der Erzieher ausgeliefert, Strafmaßnahmen waren z.B. Arrest, sportliche Schikanen, Nachtisolierung, Reinigungsarbeiten, Esseneinnahme und Essenentzug, Vergünstigungssperre, Verlängerung des Aufenthalts. Im schulischen Bereich das Schreiben von seitenlangen Aufsätzen zu sinnlosen Themen, Stellungnahmen zum eigenen Verhalten, hundertfaches Schreiben bestimmter Sätze, Schreiben politischer Aufsätze, In- der- Ecke- oder Vor-der-Tür-Stehen.  

Psychiatrie 

Die Psychiatrie in der DDR war mit zwei besonders schwerwiegenden Problemen konfrontiert. Die DDR hatte eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. Ende der 1980er Jahre lag die DDR an dritter Stelle, bei der Männern hinter Ungarn und Finnland, bei den Frauen hinter Ungarn und Dänemark. Und auch der Alkoholmißbrauch wuchs. Sowohl die Suizid- als auch Alkoholproblematik wurde in der DDR-Gesellschaft lange tabuisiert.

Es hatte bei den Ärzten im Gegensatz zu den Lehrern und der Justiz keinen wirklichen Elitenwechsel gegeben. So zum Beispiel Dr. Friedericke- Christine Pusch, die an der Aussonderung von Kindern und Jugendlichen im Rahmen der T4-Aktion beteiligt war, bis zu ihrem Tod 1980 leitete sie eine psychiatrische Abteilung im Harz.

Zu häufigen Rechtsverletzungen kam es durch polizeirechtliche Psychiatrieeinweisungen. Bei Parteitagen und anderen Höhepunkten wurden potentielle Störer wie psychisch Kranke und Alkoholabhängige in Krankenhäuser verbracht.

Besonders in geschlossenen Langzeitbereichen, wie in Waldheim, machten Patienten Erfahrungen mit Zwang und Gewalt. In den geschlossenen Langzeitbereichen gab es ein Sammelsurium von Psychosen, geistiger Behinderung, Epilepsie. Aber auch Patienten, die fehlplaziert waren. Hospitalisierungsschäden gab es sowohl bei den Patienten, als auch Pflegekräften. Medikamente wurden in extrem hohen Dosen gegeben, deshalb gab es bei den Patienten viele Nebenwirkungen. Viele Patienten, routinemäßig Psychotiker, erhielten eine Elektroschockbehandlung. Mehrere Betroffene in dem Buch haben auch eine Insulin-Schocktherapie erlebt. Auch Zwangsmaßnahmen wie die “Zelle”(Raum mit Matratze und nackten Patienten), die “Matte”(Hängematte, in der Patienten nackt eingewickelt wurden und im Schlafsaal in der Luft hingen) und die Fixierung (Anbinden bei aggressivem Verhalten) waren in den Langzeitbereichen verbreitet. Frauen wurden zum Schwangerschaftsabbruch und zur Sterilisation überredet. Positiv zur DDR-Psychiatrie ist zu vermerken, dass Patienten nach dem Psychiatrieaufenthalt wieder in das Arbeitsleben integriert wurden, was allerdings auch Zwang sein konnte. Die Vorzeigeklinik in der DDR war die Uni-Klinik Leipzig.  

Alkoholismus 

Die DDR-Führung versuchte die sozialen Probleme des Alkoholkonsums totzuschweigen. Beim Spirituosenverbrauch nahm die DDR 1987/88 den Spitzenplatz ein. Es wurde auch ein Nord-Süd-Gefälle festgestellt, im Süden wurde mehr Bier, im Norden mehr Spirituosen getrunken. Beim Bierverbrauch lag die DDR im Weltmaßstab ab 1980 an zweiter Stelle.

Die Ursachen des Alkoholismus wurden nicht in der Gesellschaft gesucht. Die Gesellschaft sei vollkommen, bei den Alkoholikern handele es sich um Außenseiter und Randerscheinungen. Alkoholiker wurden oftmals als “Asoziale” abgewertet. Erst ab Mitte der 1960er Jahre wurden Alkoholiker von der Sozialversicherung der DDR als Kranke akzeptiert. Ab Mitte der 1970er Jahren wurden spezielle Einrichtungen für Alkoholkranke etabliert, sowohl Kliniken als auch die ambulante Therapie. DDR-spezifisch waren die “besonderen Brigaden”, die in den 1980er Jahren in Betrieben entstanden. Natürlich steckte dahinter auch Zwang, die Alternative für “Asoziale” war der Strafvollzug. Alkoholiker in der DDR waren auch mit der Gefährdetenverordnung in der DDR konfrontiert. “Als kriminell gefährdet wurden in diesem Sinne Bürger angesehen, die ...c) durch ständigen Missbrauch von Alkohol die Arbeitsdisziplin resp. die Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens verletzen...” (Buch, S.220)  

“Asoziale” 

In der DDR herrschte ein Druck zur Uniformität, so trat das Problem “Asozialität” hervor. 1968 begann dann eine neue Etappe der Verfolgung “Asozialer”. Es trat § 249 StGB in Kraft: “Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch asoziales Verhalten”. Nach Inkraftsetzung dieses Gesetzes gab es einen deutlichen Anstieg der Verurteilten. 1969 3713 Verurteilungen, 1973 13 581, 1980 12 795, im Jahre 1988 7640. 1970 mußte man in Suhl nur 2-4 Wochen nicht arbeiten, in Berlin 6-8 Wochen, in Rostock dagegen ein Jahr, um verurteilt zu werden. Abhängig war das Ganze von den Bezirks- und Kreisverwaltungen und der Willkür einzelner Sachbearbeiter. 1968 trat auch eine Gefährdetenverordnung in Kraft. Viele wegen “Asozialität” Verurteilte waren schon als Kinder und Jugendliche auffällig geworden. Viele wurden aber auch als “Lebensuntüchtige” eingeschätzt, sie waren zu einer selbständigen Gestaltung des Lebens nicht fähig. Sie hätten eigentlich der Betreuung und nicht des Strafvollzugs bedurft.

Joachim Windmüller benennt einige Berliner Einzelfälle von “kriminell Gefährdeten”(nach damaliger Terminologie):

-     “..(m, 40) Labiler Charakter, wurde von der arbeitenden Frau miternährt, Mitbewohner im Haus informierte Polizei

-     (w, 21) Laufende Arbeitsbummelei, Negieren jeglicher Einflußnahme, trieb sich wohnungslos umher

-     (w, 38) Kam mit Wirtschaftsgeld des Mannes nicht aus, daher Geldbeschaffung durch Diebstähle und Prostitution...

-     (m, 40) Negative Grundhaltung zur Arbeit, spricht im Übermaß dem Alkohol zu und kann diesen nicht von sich aus meiden...

-      (w, 43) Alkoholmißbrauch, mehrfach erfolglose Entziehungskuren, stark verwahrlost, lebte vom Altstoffsammeln aus Mülltonnen, Volkspolizei verlangte von der Abt. Gesundheitswesen ihre erneute Einweisung zur Entziehungskur ‘noch vor dem 25. Jahrestag’ (der DDR 1974), Gesundheitswesen lehnte Einweisung wegen disziplinlosen Verhaltens ab, danach wurde Anzeige erstattet, da sie das gesellschaftliche Zusammenleben und die öffentliche Ordnung und Sicherheit ‘erheblich’ gefährdete....” (Windmüller, S.283ff.)

Straffällige 

In dem Buch “Ich kam mir vor wie`n Tier- Knast in der DDR” berichten Strafgefangene über ihre Biographie und ihre Situation im Gefängnis. Insbesondere bei den Mehrfachtätern und Kurzstrafern wird ein biographisches Muster deutlich. Sie sind meistens in zerrütteten Familienverhältnissen aufgewachsen. Die Mutter wird als “asozial”, überfordert oder krank geschildert. Der Vater war oft Alkoholiker. Meistens kamen die Kinder, die in diesen Verhältnissen aufwuchsen, ins Heim. Jene Kinder, die ständig abhauten, kamen in Spezialkinderheime, Heime für schwererziehbare Jugendliche und schließlich in den Jugendwerkhof. Vom Jugendwerkhof zum Strafvollzug war es kein langer Weg. Die “kriminell gefährdeten” Jugendlichen waren mit starken Auflagen konfrontiert, so mit Arbeitsplatzbindung und Meldefristen. Es entstanden kriminelle Karrieren in der DDR.

Oftmals wird positiv hervorgehoben, dass es eine geringe Kriminalität gab. Die DDR war eine geschlossene Gesellschaft, mit einem Kontrollnetz überzogen. Außerdem war die DDR-Mark keine Devise. Die Tendenz allerdings, sich persönlich zu bereichern, spielte eine zunehmende Rolle, Eigentumsdelikte machten die Masse der Delikte aus.  

Prostitution 

Zwiespältig ist es, die Prostitution in der DDR in die Kategorie Unterschicht einzuordnen, denn seit den siebziger Jahren war die Prostitution an Luxus und Konsum orientiert. Aber noch in den fünfziger und sechziger Jahren entstammten die Prostituierten den klassischen Unterschichten, danach veränderte sich die soziale Zugehörigkeit der Prostituierten. Durch die Integration der Frauen in den Arbeitsprozeß brauchten Frauen sich seit den sechziger Jahren nicht mehr aus Not prostituieren. Ab den siebziger Jahren entwickelte sich eine Zusammenarbeit zwischen MfS und Prostituierten. Die Prostituierten sollten Informationen über die ausländischen Freier weitergeben. In diese Falle tappten z.B. Uwe Barschel und Heinrich Lummer. Prostitution war in der DDR ein tabuisiertes Thema und daher in der Öffentlichkeit nicht präsent. HwG (häufig wechselnder Geschlechtsverkehr) wurde bei diesbezüglich auffälligen im Personalausweis vermerkt... 

Homosexuelle 

Sie zählten zwar meistens in der DDR nicht zur Unterschicht, waren aber durchaus noch eine Randgruppe. 1968 wurde der alte Homosexuellen- § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. Bestraft wurden nur noch Erwachsene, die mit Jugendlichen verkehrten. Der Rest des DDR-Paragraphen gegen Homosexualität wurde schließlich 1988 vollständig getilgt. Die Staatssicherheit interessierte sich für Homosexuelle, weil oftmals Kontakt zum westlichen Ausland bestand und unter den Homosexuellen viele Ausreisewillige waren.  

Altersarmut 

Auch die Altersarmen kann man zur Unterschicht in der DDR zählen, meistens waren es Frauen. Frauen mit weniger als 15 Arbeitsjahren erhielten 300 Mark, Frauen mit mehr als 15 Arbeitsjahren einen Mindestbeitrag von 300 bis 370 Mark.  

Politische Gefangene 

Nach vorläufigen Schätzungen sind 1945 bis 1989 in der SBZ/DDR bis zu 280 000 Menschen aus politischen Gründen zu Haftstrafen verurteilt worden. Ab 1977 bestanden die politischen Gefangenen vor allem aus Republikflüchtigen und hartnäckigen Ausreiseantragstellern. Auch jugendliche Subkulturen wurden verfolgt. Ein politischer Häftling im Strafvollzug Brandenburg war der Punk Klaus-Steffen Drenger. Er hatte eine Punkband gegründet, die Texte verfasst. Ihm wurde der Vorwurf der Zusammenrottung gemacht, aber eigentlich ging es um die Liedtexte. Wegen Zusammenrottung und Herabwürdigung wurde er zu zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Zentrale Erfassungsstelle in Salzgitter befragte praktisch alle 33 000 freigekauften politischen Gefangenen. Im “Salzgitter Report” sind viele Beispiele von Tötungshandlungen an der Grenze, als auch politische Verurteilungen enthalten. So das Schicksal von Emil Redecker, der als hartnäckiger Ausreiseantragsteller das Zeichen “A” an seinem Wohnungsfenster befestigt hatte. Wegen “Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit” wurde er zu 15 Monaten verurteilt. Oder der Ausreiseantragsteller Thomas Schmied, der am Wohnungsfenster ein Plakat mit der Aufschrift “Wenn Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht!” hängte, und damit zu 20 Monaten Haft verurteilt wurde, die Strafe mußte er voll verbüßen. Klaus-Dieter Vortisch wurde wegen der Veröffentlichung eines kritischen Gedichtes (“Öffentliche Herabwürdigung”)  zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und 4 Monaten verurteilt, die er in Cottbus absitzen mußte. Reinhard Biernath wurde wegen “Unterlassen einer Anzeige” zu 2 Jahren und einem Monat verurteilt, er hatte von der Republiksflucht eines Freundes gewußt. Verrat wurde in der DDR zur gesetzlichen Pflicht gemacht. 3000 Denunziationen, deren Folge Inhaftierung war, wurden von der Erfassungsstelle registriert. Weitere Fälle sind zum Beispiel im Buch “Im Namen des Volkes?” nachzulesen. Ein 27jähriger Theologe, der als Friedhofsarbeiter tätig war, verlieh das Buch “1984” von Georg Orwell an Freunde. Wegen “staatsfeindlicher Hetze” bekam er eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 4 Monaten. Als ein Ingenieur sich im Arbeitskollektiv kritisch äußert, bekommt er wegen “öffentlicher Herabwürdigung” eine Freiheitsstrafe von einem Jahr und 6 Monaten. Als ein junger Mann an eine Verkaufsstelle für Busfahrkarten den Satz “Keiner hat das Recht Menschen zu regieren” schreibt, erhält er eine Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten, er hatte außerdem versucht, Verbindung zu einer westdeutschen Zeitung aufzunehmen. Als ein Dachklempner ein weißes Band (steht für Ausreise) am Auto befestigt, und nicht den Anweisungen der Polizei folgt, das Band zu entfernen, wird er wegen “Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit” zu 18 Monaten Haft verurteilt. Ein Dreher befestigt an einer Transitautobahnbrücke das Transparent: “Freiheit= Rechte für alle. E.Honecker, rück meine Ausreise raus”, dafür bekommt er ein Jahr und 6 Monate. Ein Ingenieur gab 1988 eine Petition in der Sowjetischen Botschaft ab, dafür gab es ein Jahr und 6 Monate Haft.

Praktisch seit dem 17.Juni 1953 wurden Isolierungslager geplant. Fast 86 000 DDR-Bürger wären davon betroffen gewesen. Im Vorbeugekomplex waren im Bezirk Karl-Marx-Stadt 24 237 Personen erfaßt, in Ostberlin dagegen “nur” 3 891. An der Spitze der Erfassungen lagen nach dem Bezirk Karl-Marx-Stadt, die Bezirke Leipzig, Gera und Schwerin. In Eberswalde wurden noch zwischen dem 10. und 13. November 1989 Listen von Wendeaktivisten erfaßt.  

Die Ausreisebewegung 

Von 1945 bis 1989 verließ ca. ¼ der Gesamtbevölkerung die SBZ/ DDR, das waren 4,5 Millionen. Zwischen 1950 und 1961 waren es sogar 3,9 Millionen DDR-Flüchtlinge. 1975 unterschrieb die DDR die KSZE-Schlußakte, in der auch im Bereich der Menschenrechte Zugeständnisse gemacht wurden. Daraufhin beriefen sich viele Ausreiseantragsteller auf diese Akte. Die Zahl der Antragsteller nahm zu. Ein lohnendes Geschäft für die DDR war der Freikauf. Seit 1963 gab es den Freikauf, für die Freilassung eines politischen Häftlings in der DDR wurden 40 000 DM bezahlt. Seit 1977 forderte die DDR dann 95 847 DM pro Kopf. Insgesamt wurden im Rahmen des Freikaufs Gegenleistungen im Wert von über 3,5 Milliarden DM erbracht. Der Westen stand als moralischer Gewinner da. Ludwig A.Rehlinger, CDU und bis 1988 Staatssekretär des Bundesministeriums für innerdeutsche Beziehungen, war mit dem Freikauf befaßt. Ein Beispiel ist besonders augenfällig, zeigt es doch auf, was für den CDU-Mann “kriminell” ist. “Einer wurde mehrfach wegen sogenannten asozialen Verhaltens verurteilt, weil er angebotene Arbeit grundlos verweigert und sich nicht in die Gesellschaft hat eingliedern lassen. Nun wollte er in den Westen überwechseln und ist geschnappt worden.” (Rehlinger, S.111) Auch beklagt er, was da manchmal für Leute in die Ständige Vertretung kamen, “die man als Gast wahrlich nicht gern bei sich zu Hause gesehen hätte...Es gab Asoziale, wegen krimineller Delikte Vorbestrafte und auch Personen aus der Drogenszene.” (Rehlinger, S.129) Nach der Ausreisewelle kam die Fluchtwelle. Es war vor allem meine Generation der unter Dreißigjährigen. Von den ca. 100 000 Flüchtlingen im Sommer und Herbst 1989 waren 70% unter 30 Jahre alt, 90% unter 40.

Die Opposition 

Während die Flucht- und Ausreisebewegung ¼ der DDR-Bevölkerung ausmachte, wird geschätzt, dass es in der DDR 2000 Oppositionelle gab. Die Opposition war also marginal, was diametral ihrer damaligen Präsenz im Westfernsehen und ihrer heutigen Selbstbeweihräucherung entgegensteht. Für mich jedenfalls war die Theologisierung der DDR-Opposition abstoßend. Die Opposition hielt sich meistens in Kirchen auf, viele Oppositionelle waren Pfarrer, hatten Theologie studiert oder arbeiteten in kirchlichen Einrichtungen. Studenten waren im Gegensatz zur Westlinken kaum vertreten. Die Karriere erforderte Systemloyalität. Die Nähe zur Kirche verlieh der Opposition in der DDR eine protestantische Aura. Die Wirkung der Opposition beschränkte sich damit auf den kirchlichen Raum. Und selbst in der Phase des Umbruches pflegten sie ihre kirchlichen Ritualen, mit ihrem Dauerslogan der Gewaltlosigkeit, und ihren Andachten, Gebeten, Mahnwachen, Gottesdiensten etc. In den 1980er Jahren saßen kaum noch Oppositionelle im Gefängnis, Vera Wollenberger bekam statt Knast zur “Strafe” z.B. ein Visum für einen Studienaufenthalt in England. Die Oppositionsgruppen wurden dagegen von der Staatssicherheit zersetzt. Die Opposition war von IM`s durchsetzt. Das einzig Interessante, was in der Kirche anzutreffen war, war m.E. die Offene Arbeit, die Jugendarbeit mit randständigen jungen Leuten, zuerst Gammler, später Punks. Die Jugendarbeit des Braunsdorfer Pfarrers Walter Schilling (Thüringen) wurde das Vorbild für die Offene Arbeit in der DDR. Allerdings ist hier auch die Theologisierung der Opposition anzumerken. So verstanden der Pfarrer Schilling und auch andere Vertreter der Offenen Arbeit ihre Arbeit als missionarischen Auftrag. “Viele junge Menschen ließen sich taufen oder konfimieren. Nicht wenige ergriffen kirchliche Berufe, was sich später in der Prägung der Mitarbeiterschaft auswirkte.” (Neubert, S.291) Nach 10 Jahren Offener Arbeit wünschten sich “Hunderte Jugendlicher aus diesem Umfeld, einen kirchlichen Beruf ergreifen zu wollen.”(Neubert, S.426) In vielen Gruppen war eine stärkere Hinwendung zu religiöser Praxis zu beobachten, “anarchistische Idee und die Jesus-Typologie” bezeichnet Erhardt Neubert das. Später sollte es zu einer religiösen Kultur des Widerstandes auch auf der Straße kommen, wie Mahnwachen und eine Menschenkette. Oftmals wurden diese religiösen Formen konserviert. Erst mit dem Montagsdemos im Herbst 1989 wurden die religiösen Formen abgelöst. Natürlich war auch dem MfS und der Kirchenführung an einer Theologisierung der Opposition gelegen. 

Andere abweichende Gruppen in der DDR waren die Wehrdienstverweigerer und Bausoldaten, die Kulturszene z.B. am Prenzlauer Berg und die Schwulen und Lesben.

Im September 1964 wurden die Baueinheiten in der NVA eingeführt, damit gab es auch in der DDR einen Ersatzdienst ohne Waffe, allerdings errichteten die Bausoldaten militärische Anlagen. Die Wehrdienstverweigerer, Totalverweigerer und ehemaligen Bausoldaten, 1977 ca. 10 000, wurden ein großes Potential der Friedensbewegung.

Anfang der 1980er Jahre entwickelte sich die Kulturszene am Prenzlauer Berg. Viele junge Künstler zogen in den verfallenen Stadtteil. Das MfS versuchte die Szene zu kontrollieren und zu verunsichern. Spitzel waren Sascha Anderson und Rainer Schedlinski. 

Eine weitere Szene in der DDR war die Homosexuellen-Szene. Obwohl 1968 der Paragraph 175 des Strafgesetzbuches abgeschafft wurde, setzte sich die Diskriminierung der Homosexuellen fort. Mitte der 1970er Jahre gab es erste Selbstorganisationsversuche im Keller des Gründerzeitmuseums von Charlotte von Mahlsdorf (übrigens IM), bis das 1978 verboten wurde. Als homosexuelle Gruppen auf Kirchentagen 1983 öffentlich erschienen, wurde das von den Kirchenleitungen verboten. Nachdem sich erste Schwulen- und Lesbengruppen in kirchlichen Gemeinden etablierten, gingen die innerkirchlichen Konflikte weiter. Naja, zu den Vera Lengsfelds, Rainer Eppelmanns und wie sie alle hießen, die bekannten Oppositionellen, gibt es wohl nichts mehr zu sagen. Mit ihren dicken Stasiakten haben sie ihre Posten in der “Demokratie” gefunden. Nur wenige, wie Reinhard Schult, sind noch in der heutigen linken Opposition aktiv und kritisieren auch den Kapitalismus.  

Abweichende Jugendliche 

Auch DDR-Jugendliche begeisterten sich für die Beatmusik. Spontan entstanden in der gesamten DDR seit 1963 Hunderte von Gruppen, die diese in West und Ost gleichermaßen unkonventionelle Musik- und Subkultur pflegten. Zunächst versuchte die DDR-Führung diese Jugendkultur “sozialistisch zu zivilisieren”, initiierte z.B. die Gitarrenbewegung. Das ZK-Kahlschlagplenum von 1965 markierte das Ende der Toleranz mit dieser Subkultur. Das “Neue Deutschland” schrieb am 17.Oktober 1965 über die “Amateurgammler”: “Das sind junge Menschen, die Helden zu sein wähnen, indem sie die Gammler westdeutscher Prägung nachahmen, die dort auf Straßen und Plätzen herumlungern, herumpöbeln und herumrempeln. Ihr Anblick bringt das Blut vieler Bürger in Wallung: verwahrlost, lange, zottlige, dreckige Mähnen, zerlumpte Twist-Hosen. Sie stinken zehn Meter gegen den Wind. Denn Waschen haben sie ‘freiheitlich’ aus ihrem Sprachschatz gestrichen. Und von einer geregelten Arbeit halten die meisten auch nichts.” (Rauhut Beat, S.119) Jugendliche, die mit ihrem Outfit von der Norm abwichen, wurden zum Friseur gezehrt oder zur Zwangsarbeit in Lager eingewiesen. Am 25.10.1965 gab es eine Demonstration in Leipzig (“Beataufstand”). Die Polizei ging mit äußerster Brutalität vor, 267 Personen wurden zugeführt, 162 inhaftiert, 97 in ein Arbeitslager verbracht. Die Gammler und Beat-Fans der DDR stammten vorrangig aus dem proletarischen Milieu. Unter den verhafteten 357 der Beat-Demo am 31.10.1965 in Leipzig waren 8 Studierende und 166 Arbeiter. Die ‘Gammler’ wurden in der Öffentlichkeit als Sozialschmarotzer übelster Prägung dargestellt. Wie mit ihnen umzugehen wäre, hatte die FDJ-Zeitung Junge Welt....demonstriert. Auf der Titelseite brachte sie die Reportage eines Berliner FDJ-Sekretärs, der sich brüstete, seine Klasse habe einem langhaarigen Mitschüler gegen dessen Willen die Mähne gestutzt.” Als ein Vater eines betroffenen Lehrlings sich in einem anderen Fall wehrte, er zeigte den Betrieb wegen Körperverletzung an, schrieb die Junge Welt, “wir (sind) keine Rolling-Stones-Macht, sondern eine Arbeiter- und- Bauern- Macht”. (Ohse, S.98)

Nach den Gammlern kamen auch in der DDR die Punks. Punks in der DDR wehrten sich gegen einen “tabellarischen Lebenslauf”, die “Verurteilung zu zweimal lebenslanger Haft”, wie Henryk Gericke es in dem Buch “too much future” formuliert. (S.12) Die Arbeitsverweigerung von Punks wurde in der DDR hart bestraft, wie in folgendem Fall: “ Krug, Storch und Mucke kamen aus Neuenhagen am Rande von Berlin. Sie hatten keinen Bock mehr auf Arbeit und kamen auf die Idee, sich gegenseitig die Finger mittels einer Eisenstange zu brechen. Finger auf Tischkante, Schluck Blauen Würger, Augen zu. Die Stange traf mit voller Wucht, der Staat ebenso. Anklagen wegen Selbstverstümmelung und asozialen Verhaltens brachten acht bis zwölf Monate Knast. Um die Verurteilten langfristig aus dem Verkehr ziehen zu können, gab`s nach der Entlassung Berlinverbot, Meldepflicht und Arbeitsplatzbindung. Natürlich war vorauszusehen, daß die Auflagen nicht eingehalten würden, und eine erneute Inhaftierung war die Folge.” (Boehlke, Gericke, S.40) Punks wurden in der DDR als Randgruppe repressiv behandelt. Kaiser schildert: “Jeder, der irgend etwas mit Punk zu tun hatte, wurde mindestens zweimal in der Woche zum Abschnittsbevollmächtigten vorgeladen. Uns wurde da erst klar, wie instabil dieses System sein muß, wenn die solche Angst vor uns haben.” (Boehlke, Gericke, S.54)

Eine Punk-Biographie in der DDR war die von Otze. Otze Ehrlich von der Punkband Schleimkeim war ein bekannter Punk in der DDR. Mit 11 Jahren wurde Otze erstmals beim Diebstahl einer Flasche Korn erwischt. Er schloß die 6. Klasse ab und startete in sein Arbeitsverweigerungs-Leben. Er macht eine Lehre zum Stahlarbeiter, die zum Fiasko gerät. Er hört Radio und kommt so zum Punk. 1981 wird er kurzzeitig inhaftiert. Öffentliche Herabwürdigung (§220), aufgrund seines äußeren Erscheinungsbildes und anderer Nichtigkeiten. Die Kripo führt die Akte “Nadel” zur Überwachung von Otze und Erfurter Punks. Am 11.12.1981 hat seine Band Schleimkeim den ersten Auftritt. Als Schleimkeim im Westen auf einer Plattenseite veröffentlicht wird, beginnt der Ärger. Otze kommt dafür 4 Wochen in U-Haft. Es wird eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Die Liedtexte werden als gefährlich eingestuft. Und Otze wird schließlich als inoffizieller kriminalpolizeilicher Mitarbeiter für operative Aufgaben geführt. 1 ½ Jahre liefert er Berichte ab. Aufgrund seiner Dekonspiration, seiner Arbeitsbummelei und seines Ausreiseantrages wird er umregistriert, in KA “Keim” operativ bearbeitet. Kurz darauf wird er wegen asozialen Verhaltens inhaftiert. Otze fährt bis zur Wende immer wieder ein. Paragraphen, wegen denen er belangt wurde, waren § 100 Staatsfeindliche Verbindungen, § 158 und §177 Diebstahl, §249 Asozialität, §215 Rowdytum, §219 Ungesetzliche Verbindungsaufnahme, §220 Staatsverleumdung. Seinen Ausreiseantrag zog er wieder zurück. Nach der “Wende” hatte er noch Auftritte mit Schleimkeim. Bis 1994 hatte er sich noch in Griff. Aber die letzten Auftritte von Otze waren eine Katastrophe. Otze hat nie gearbeitet, wenn man sein Musikmachen nicht als Arbeit betrachtet. Er bezog zu Westzeiten Sozialhilfe. Zu Ostzeiten trank er hauptsächlich Alkohol oder die Punks nahmen Tabletten, Antiepileptika, Faustan, Radedorn, Radepur. Nach der Wende nahm er zunehmend Drogen, LSD, Kokain, Speed, Ecstasy, schließlich Heroin. Außerdem soff er auch noch. Otze war immer ziemlich gewaltätig, er war unberechenbar. Viele hatten Angst vor ihm. Ab 1995 ging es los mit seinem Wahn. Er wohnte vier Monate im Treppenhaus des Tacheles, und  schlug einmal im Tacheles mit einem Hammer um sich, so dass er rausgeschmissen wurde. Wenn er aufgegriffen wurde, wurde er weggesperrt. Er war vogelfrei. Dreimal war er in der Geschlossenen in Erfurt. 1998 räumte Otzes Vater sein Zimmer leer und schmiß alles weg, Der Vater wollte ihn entmündigen lassen. 1999 erschlug Otze seinen Vater mit der Axt. 2005 kam Otze in der Forensik unter rätselhaften Umständen ums Leben.  

Das war eine Subkultur- Biographie, die im Westen tragisch endete. Aber ich will auch dazu kommen, wie die Subkultur sich in der DDR Freiräume eroberte.  

Es war damals Opposition gegen eine spießige Gesellschaft, gegen eine standardisierte Biographie von der Wiege bis zur Barre, gerade dem, welchem viele ehemalige DDR-Bürger heute nachtrauern. Oder wie es in dem Buch “Auch im Osten trägt man Westen” heißt: “Kaum ist man geboren, schon hat man die Planstelle weg”. War das nun politisch? Für viele hatte das nichts mit Politik zu tun, allein durch ihr Aussehen und ihren Musikgeschmack provozierten sie die Herrschenden und die Normalos.

In der Subkultur war Arbeit ein Thema, nämlich sich der stumpfsinnigen Arbeit in der Industriegesellschaft (War es auch nur Fordismus?) zu entziehen. So hangelten sich einige von Job zu Job, machten Gelegenheitsjobs oder stellten Schmuck, Klamotten, Kitsch her und verkauften das. Für einen Oberstleutnant der Staatssicherheit waren die “jugendlichen Arbeitsscheuen” so: “Dazu kam für uns die emotionale Schranke im Kopf: Hier kommen Asoziale, Arbeitsscheue, Dreckige. Was hat das eigentlich mit unserer sauberen, guten Gesellschaft zu tun? Also haben wir doch alles Recht der Welt, als Ordnungsmacht einzugreifen.” (Rauhut, Kochan 2004, S. 131)  In einer Stasi- “Operativ-Information” heißt es: “Andererseits entziehen sich negativ-dekadente Jugendliche bewusst den Einflüssen einer sozialistischen Erziehung durch häufigen Arbeitsplatzwechsel, Austritt aus gesellschaftlichen Organisationen und Aufnahmen von Tätigkeiten in kleineren bzw. solchen Betrieben, wo der erzieherische Einfluss gering ist....Dabei wählen sie häufig solche Arbeitsplätze, die ihnen die erwünschte “persönliche Freiheit” und genügend Spielraum für ihr dekadentes bis feindliches Wirken garantieren. Viele dieser Jugendlichen fallen durch Verletzung der Arbeitsdisziplin auf oder gehen zeitweise überhaupt keiner Arbeit nach. Zum Zeitpunkt unserer Überprüfungen konnte bei über 20 Personen festgestellt werden, dass sie kein Arbeitsverhältnis unterhielten bzw. keiner geregelten Arbeit nachgingen.” (Rauhut, Kochan 2004, S. 265)  Im Zuge der Kriminalisierung subkultureller Milieus konnte “Asozialität” in vielen Fällen mit anderen Strafbeständen gekoppelt werden. Dazu waren etwa die Paragraphen 106, “staatsfeindliche Hetze”, 214, “Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit”, oder 220, “Staatsverleumdung, später “öffentliche Herabwürdigung”, geeignet.

Für mich stellt sich die Frage, inwiefern die Subkultur in der Industriegesellschaft DDR nicht eigentlich zu ihrem Ende beitrug, denn die Herrschenden wollten keine “Modernisierung” zulassen. In der Subkultur wurden bereits diskontinuierliche Erwerbsverläufe gelebt, das war ein Auflehnen gegen die entfremdete Normalarbeit von der Ausbildung bis zur Rente. Also “Vorreiter” der Flexibilisierung? Sie suchten sich Nischen und begannen mit der Herstellung von begehrten Konsumgütern und handelten damit. Es wurden Märkte installiert, weil es in den Läden nichts zu kaufen gab, also “Vorreiter” der Marktwirtschaft? Sie begehrten gegen die Spießigkeit auf, gegen die autoritären Charaktere und eine autoritäre Gesellschaft. Machte sich da nicht auch ein 1968 in der DDR breit, der gerade unter Jugendlichen zu einem Wertewandel führte, meistens zum Hedonismus, in der Subkultur zu postmaterialistischen Werten, die z.B. nach dem Sinn der Arbeit fragten. Und war es nicht ein Aufbegehren gegen die Institutionen und den allumfassenden Staat, der seine Bürger entmündigte. Im Grunde genommen kündigte sich in der Industriegesellschaft DDR die Postmoderne an. Das System war so erstarrt, dass es zu Veränderungen nicht mehr fähig war. Perestroika und Glasnost, damit konnten die Herrschenden in der DDR nichts anfangen. Rowinnes Schlußwort im Buch

“By by, Lübben City” ist: “ Wir haben es geschafft, als gebrannte Kinder gegen alle Widerstände eine Gegenkultur mit zu entwickeln, die viele beeinflusst hat. Aus einem Schnellball wurde eine Lawine. Da war nichts mehr mundtot zu machen und wegzusperren. Das war das Ende der Zone.” (Rauhut, Kochan 2004, S. 106)  Ein wichtiger Aspekt zur Subkultur in der DDR muß noch erwähnt werden. Die stillen Besetzungen, die Aneignung von Freiräumen. “Eine wesentliche Voraussetzung dafür (die Szene im Prenzlauer Berg) ist der rapide Verfall der Bausubstanz- ein Zustand, den der Prenzlauer Berg mit vielen Altstadtvierteln der DDR teilt...Dabei handelt es sich vor allem um Künstler, Intellektuelle, Studenten, Freiberufler, Aussteiger sowie um Kriminelle, die am Prenzlauer Berg eine Resozialisierungschance erhalten.

Man kann sich vorstellen, dass in diesem Milieu auch die “Verrücktheit” erblühte. Bohemien Scheffler “Meine Verbündeten sind Menschen, die am Rande oder exterritorial leben, also jene Phantasten, Bohemiens, Taugenichtse, Dandys, Glücksritter und viele andere, die ihr Tun und Streben nicht in den Dienst irgendwelcher `Systeme` stellen bzw. an ihrer Karriere im Sinne der Systeme arbeiten. Querschläger, Getriebene und Zerrissene zwischen Abenteuer, Magie und Alltag.” Der Bohemien Roesler wird wegen einer Aktion bei den Wahlen von der Schauspielschule exmatrikuliert, arbeitet dann als Putzkraft, die Armee umgeht er mit Hilfe eines psychiatrischen Gutachtens, soll wegen illegalen Waffenbesitzes fünf bis sieben Jahre Gefängnis bekommen und reist schließlich aus. “Daß ich das Jackett linksherum anzog und zuknöpfte, haben sie noch hingenommen. Auch daß ich im Hochsommer einen Schlitten durch die Straßen zog und mit einer Klobürste als König regierte. Aber das mit der Wahl war eine andere Kategorie. Dabei war das keine bewußte Aktion, sondern ich habe diese Aschegesichter gesehen, diese Schamecke als Wählerkabine und habe instinktiv gespürt, das geht nicht, das kannst du nicht machen.” Er streicht den Wahlzettel durch und futsch sind seine beruflichen Perspektiven. “Dieser beschissene Gartenzwergstaat mit seiner verlogenen unästhetischen Propaganda, das war er mir nicht wert.” ( Kaiser, Petzold 1997, S. 365f.) 

DIESER BESCHISSENE GARTENZWERGSTAAT!
Wie kann man dem nachtrauern?
 

Mir ist noch eines wichtig, der antifaschistische Staat und seine Mitläufer.

Wer etwas mehr über den OM (ostdeutschen Mitläufer) erfahren, lese unbedingt das Buch von Mathias Wedel “Einheitsfrust”.. Matthias Wedel schreibt, dass die DDR-Regierung ständig “mit dem stummen Vorwurf der OMs konfrontiert” (Wedel, S.25) war. Honeckers Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik war eine Antwort. Dem “negativ-dekadenten Jugendlichen” brachte der OM seine Ordnung bei. Aber wehe, schreibt Mathias Wedel, wenn “man ihn spüren läßt, wie mickrig sein Spießerleben ist. Wer verabsäumt, ihn zu hofieren und es wagt, seinen Wertekanon- Raffen, Anpassen, Meckern- zu verunsichern, bekommt den Boykott der Gruppe zu spüren.” (Wedel, S.118) Der OM besitzt die “Leidenschaft, die jeweils herrschenden Verhältnisse auf ihren kleinsten gemeinsamen Vorteil zu bringen,...” (Wedel, S.13) Der OM schaute voller Abscheu und Missmut auf die Unangepassten in der DDR, auf alle die anders waren, als er selbst. Aus seinem Mund drang dann auch mal der Spruch: “Unter Hitler hätten sie euch vergast”. Ich werde diesen Spruch, den auch ich hörte, nie vergessen. Der OM tut dagegen immer seine Pflicht. Wenn das nicht ausreicht, wird der OM mürrisch und oftmals ausländerfeindlich. Er tritt halt gern nach unten... 

Vergangenheitsaufarbeitung nach 1945 in der DDR 

Die DDR-Führung legitimierte sich durch den Antifaschismus. Von westlicher Seite wurde oft versucht, diese Legitimation zu demontieren. Natürlich gab es in der DDR eine umfassendere Entnazifizierung als im Westen. Viele Mitläufer blieben dagegen und wurden integriert. So waren 1950 1/3 der SED-Mitglieder zuvor NSDAP-Mitglieder gewesen. Sie konnten bequem in die Rolle des Antifaschisten schlüpfen. Sie sollten wieder integriert werden. Die Mitläufer stellten die Mehrheit der DDR-Bevölkerung. Da sie automatisch zu Antifaschisten umgedeutet wurden, sahen sie auch keine Veranlaßung, sich mit ihrer Mitschuld zu befassen. Albert Norden sagte am 28.7.1960, als das Material zu Globke übergeben wurde: “Den einfachen Nazis, die ihre Pflicht tun, die sich dem Gesetz gegenüber richtig verhalten, will niemand etwas.” (Joseph, S.69) Der Naziideologie der Massen wurde die marxistisch-leninistische Ideologie übergestülpt. Der autoritäre Charakter der Massen blieb erhalten. Natürlich kann man der antifaschistischen DDR-Führung keinen Vorwurf daraus machen, was für ein Volk sie vorfand. War es überhaupt möglich, aus Nazi-Mitläufern wirkliche Antifaschisten zu machen, könnte man fragen. Aber wie die Vergangenheit in der DDR bewältigt wurde und wie vor allem wieder autoritäre Strukturen aufgebaut wurden, kann man ihnen zum Vorwurf machen. Der Antifaschismus in der DDR war ritualisiert. Meistens wurde dort nur der kommunistische Widerstand gewürdigt und heroisiert. Wer den antifaschistischen Kampf nicht heroisierte, sondern einfach auf eine menschliche Ebene herunterhob, wurde von der Zensur gemaßregelt. Und auch der Rechtsextremismus wurde tabuisiert. 1950 hatte man auf dem 3. Parteitag der SED festgestellt, dass die Wurzeln des Faschismus in der DDR ausgerottet seien. Erst 1987 mit dem neofaschistischen Überfall auf ein Rockkonzert in der Zionskirche wurde der Öffentlichkeit das Problem bewußt.

Harry Waibel resümiert: “Die politische Führung in der DDR hätte selbstkritisch erkennen müssen, daß sie selbst und ihre spezifischen Vorstellungen von der ‘Bewältigung’ der nationalsozialistischen Vergangenheit Teil des Problems war, das es zu lösen galt. Daß ihr ein solches Unterfangen nicht gelang, hat zur Folge, daß zumindest die Führer der SED und ihrer ‘Bündnisorganisationen’ historische Schuld auf sich geladen haben.” (Waibel, S.228) 

Das Thema war umfassend und vieles fehlt noch. Diese ständige ML-Phraseologie, die Gleichschaltung der Medien, der Patriotismus im Sport, die Umweltverschmutzung, der autoritäre Charakter, die Führungsrolle der SED, die Erziehung zur Konformität, die Militarisierung, die Mauer, die Abschottungspolitik, der Umgang mit Ausländern, von wegen Klassenbewußtsein- die Mehrheit orientierte sich am “Klassenfeind”, von der angeblichen Gleichberechtigung der Frau (die Herrenriege der Herrschenden).... 

Hier nur die lesenswertesten Bücher:

  • Wolfgang Wippermann, Dämonisierung durch Vergleich: DDR und Drittes Reich, Rotbuch Berlin 2009

  • Karl-Heinz Roth, Geschichtsrevisionismus, Konkret Verlag Hamburg 1999

  • Bini Adamczak, Gestern Morgen, Unrast Verlag München 2008

  • Mathias Wedel: Einheitsfrust, Rowohlt Berlin 1994

  • C.Remath, R.Schneider (Hrsg.): Haare auf Krawall, Jugendsubkultur in Leipzig 1980-1991,

  • Connewitzer Verlagsbuchhandlung Leipzig 1999

  • Paul Kaiser, Claudia Petzold: Boheme und Diktatur in der DDR, Gruppen, Konflikte,

  • Quartiere 1970-1989, Verlag Fannei& Walz, Deutsches Historisches Museum Berlin 1997

  • Michael Rauhut, Thomas Kochan (Hrsg.): Bye bye, Lübben City, Bluesfreaks, Tramps und

  • Hippies in der DDR, Schwarzkopf & Schwarzkopf Berlin 2004

  • Harry Waibel, Rechtsextremismus in der DDR bis 1989, PapyRossa Verlag Köln 1996

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns von der Autorin überlassen. Dieser Artikel ist eine Zusammenfassung meines Vortrages am 1.9.2009 im Kreuzbergmuseum im Rahmen der Reihe zum 20. Jahrestages des Mauerfalls.  “Das Begehren, anders zu sein und das Ende der DDR”

Es finden noch folgende Veranstaltungen statt:

Geschichte und Vielfalt der Ausreisebewegung aus der DDR
Vortrag von Bernd Eisenfeld
Termin: Di, 15.09.09, 19:30 Uhr
KreuzbergMuseum
Adalbertstr. 95A, 10999 Berlin

Nach dem Mauerbau gingen 570 000 DDR-Bürger in den Westen, davon 500 000 offiziell Ausgereiste, 38 000 Flüchtlinge und 33 755 freigekaufte
Häftlinge. Bei den Fluchtversuchen gab es viele Tote, noch am 8.März 1989
stürzte ein 32jähriger Mann mit seinem Ballon über Westberlin ab. Als immer
mehr Ausreiseanträge offiziell genehmigt und auch inhaftierte politische
Gefangene freigekauft wurden (seit 1977 erhielt die DDR für den Freikauf 95
847 DM pro Kopf), kam es zu einer Sogwirkung. Was wissen wir über die
Unterschiedlichkeit der Ausreisemotive? Bernd Eisenfeld verweigerte den
Wehrdienst 1966, war Bausoldat, 1968 zu 2 ½ Jahren Haft verurteilt wg.
Solidarisierung mit dem Prager Frühling, Ausreise aus der DDR 1975.

Verstörende Erfahrungen? MigrantInnen und nichtweiße Deutsche
erinnern sich an den Fall der Mauer
Podiumsdiskussion mit Angehörigen verschiedener EinwanderInnen-Communities
Termin: Di, 22.09.09, 20:00 Uhr
Samariter Kirchengemeinde
Samariterplatz, 10247 Berlin

(Riza Baran, Serafim Manhice, Alimamy Sesay, Zefas Macamo, Nuran Yigit, M. Arabi, Murat Sengül u.a.)
Die Jahre 1989/90 waren für viele EinwanderInnen angefüllt mit
unbehaglichen Gefühlen, ja mit Ängsten. Das eigene Gedächtnis rief bereits
erlebte Diskriminierungen auf und die Zukunft schien bedrohlich. Zur
Erinnerung: Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus im Februar 1989 erhielten die rechtsextremen “Republikaner”, die in einem Fernsehspot zu der Melodie “Spiel mir das Lied vom Tod” Bilder von türkischen Kindern
zeigten, auf Anhieb 7,5%. Und dann fiel die Mauer unter einem Fahnenmeer.
Unsere PodiumsteilnehmerInnen berichten von ihren persönlichen Erfahrungen und Gefühlen, in denen sich das Biografische mit der politischen Geschichte verbindet.

Arbeit und Alltag vietnamesischer VertragsarbeiterInnen
Vortrag von Uta Beth und Podium mit VertragsarbeiterInnen aus Angola, Vietnam und Mosambik, anschl. Diskussion
Termin: Di, 29.09.09, 19:30 Uhr
Archiv der Jugendkulturen e.V.
Fidicinstr. 3, 10965 Berlin

Anfang 1989 lebten etwa 190 000 AusländerInnen in der DDR. Die meisten von ihnen waren unter dem irreführenden Titel der “Ausbildungshilfe” gekommen, leisteten aber oft Schichtarbeit. So nähten und bügelten Vietnamesinnen, schufteten Mosambikaner in Schlachthöfen und Elektrokohlebetrieben, bauten an der S-Bahn oder fertigten Glühlampen. Ihr Alltag war von mannigfaltigen Restriktionen bestimmt. Ute Beth hat die Lebenswelten von Vietnamesinnen in der DDR erforscht.

Der betriebliche Aufbruch im Herbst 1989 in der DDR
Vorträge von Renate Hürtgen und Bernd Gehrke
Termin: Di, 06.10.09, 19:30 Uhr
Mehringhof Versammlungssaal
Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin

Arbeit hatte in der DDR eine enorme Bedeutung, insbesondere die sozialistischen Arbeitskollektive, die gleichzeitig integrierend und kontrollierend wirkten. Die Unzufriedenheit staute sich in den Betrieben an, so war die Produktivität gering, die Technik veraltet, der Materialfluss oft unregelmäßig. Von Oktober 1989 bis zum Frühjahr 1990, in Zeiten des Machtvakuums, verlangten ArbeiterInnen nach wirtschaftlicher Mitbestimmung und initiierten die Gründung unterschiedlichster Vertretungsorgane. Es wurden Basisgruppen gebildet und Betriebsdirektoren
abgewählt. Warum war diese Zeit der Experimente so schnell vorbei?

Das Begehren, anders zu sein und die staatssozialistische
Gouvernementalität
Vortrag von Wolfgang Lenk
Termin: Di, 08.10.09, 19:30 Uhr
Mehringhof Versammlungssaal
Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin
In seinen Vorlesungen über Gouvernementalität interessiert Michel Foucault,
wie die Macht das Gewimmel des gesellschaftlichen Lebens wahrnimmt. Und wie sie sich von verschiedenen Experten beraten lässt, um das Soziale unter
Kontrolle zu bekommen. In der DDR waren die Rollen von Partei, Regierungsapparat, Wissenschaft und Expertentum sehr eng miteinander
verzahnt – dementsprechend stark waren die Abwehrmechanismen gegen eine authentische Außensicht. Mit Foucault’schem Blick fragen wir nach den
“Mikrophysiken der Macht”, die als gouvernementale Techniken schließlich
versagen müssen.

Wer noch mehr Infos haben möchte, schaue bitte auf ihre Website unter DDR. http://www.freiheitpur.i-networx.de