Material zum Thema "Schülerknast"
Salem für Arme
Wie das EJF Lazarus den Neuköllner "Schülerknast" rechtfertigt, das am 31.8.2009 eröffnet wird

TREND dokumentiert ein Spiegel-Interview

09/09

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Schulschwänzer-Internat
"Wir wollen ein Salem für Arme werden"

Im Berliner Problemkiez Neukölln öffnet am Montag Deutschlands erstes Internat für Schulschwänzer. Im Interview erklärt Siegfried Dreusicke, wie der Träger EJF Lazarus Jugendliche für Bildung begeistern will - und gerade nicht in einen "Knast" schickt, wie Boulevardblätter schrieben.

SPIEGEL: Am Montag eröffnen Sie in Berlin-Neukölln das erste "Internat für Schulschwänzer" Deutschlands. Glauben Sie, dass man Jugendlichen Bildung aufzwingen kann? ZUR PERSON
Siegfried Dreusicke ist Vorstandsvorsitzender des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) Lazarus, das in sechs Bundesländern 90 Einrichtungen der Jugendhilfe und Altenpflege betreibt, darunter viele Kindergärten und Heime. Es hat 3000 Mitarbeiter. Ein Platz im neuen "Internat für Schulschwänzer" kostet 33.000 Euro im Jahr, das Geld gibt das Jugendamt. Die Eltern müssen sich nur an den Kosten beteiligen, wenn sie es sich leisten können.

Siegfried Dreusicke: Nein, und das ist auch gar nicht unser Ziel: Wir wollen sie für Bildung begeistern. Wir wollen eine Art Salem für Arme werden. Die Jugendlichen sollen stolz sein, hierher zu kommen, sie sollen sich mit uns identifizieren, deshalb darf die erste Gruppe auch den Namen für das Internat aussuchen.

SPIEGEL: Wie sieht ein Tag bei Ihnen aus?

Dreusicke: Morgens geht es zur Schule an der Windmühle, einer sonderpädagogischen Hauptschule, und nachmittags machen wir Sport, spielen Fußball und Tischtennis oder klettern in unserem Klettergarten. Die Jungs und Mädchen sollen merken, wie erfüllt ein Tag sein kann, wenn man nicht nur in Einkaufszentren herumhängt.

SPIEGEL: Was unterscheidet Ihre Einrichtung von einem herkömmlichen Heim?

Dreusicke: Ein Heim versucht vor allem die Beziehung zwischen Kindern und Eltern zu verbessern. Uns dagegen geht es um die Ausbildung der Jugendlichen. Wir haben sieben Mädchen und Jungs von 12 bis 15 Jahren aufgenommen(*), über die Hälfte mit Migrationshintergrund. Sie sollen an den Nachmittagen in Deutschkursen ihre Sprachkenntnisse aufbessern. Die Tage sind straff geplant, da kann keiner seine Hausaufgaben vergessen, und wer intelligent genug ist, schafft es in diesem engen Korsett vielleicht sogar bis zum Abitur. Eine weitere Besonderheit unserer Einrichtung ist die enge Zusammenarbeit mit der benachbarten Schule an der Windmühle.

SPIEGEL: Sind die sieben Jugendlichen die schlimmsten Schulschwänzer von Neukölln?

Dreusicke: Natürlich nicht. In Neukölln gibt es viele Blaumacher, Jungen und Mädchen, die tagelang, manchmal wochenlang nicht in die Schule kommen. Die Lehrer stehen oft vor halbleeren Klassen. Es gibt viele Gründe für dieses Phänomen - Gruppendruck, überforderte Eltern und Lehrer, Langeweile. Zahlreiche Jugendliche müssten eigentlich stärker betreut werden, man könnte eine Menge Internate gründen. Wir planen, in den nächsten Jahren unser Projekt auf 48 Plätze auszubauen.

SPIEGEL: Die Jugendlichen sind von Sonntagabend bis Freitagnachmittag bei Ihnen, nur am Wochenende dürfen sie nach Hause. War es einfach, die Eltern von Ihrem Vorhaben zu überzeugen?

Dreusicke: Ja, weil die meisten Eltern unter den Problemen ihrer Kinder leiden. Ein guter Schulabschluss ist die Eintrittskarte in den Arbeitsmarkt, außerdem haben gerade viele arabische Familien einen hohen Bildungsanspruch.

SPIEGEL: Wenn Sie so viele Schulschwänzer auf einem Gelände versammeln, haben Sie nicht Sorge, dass die sich gegenseitig zu neuen Streichen aufwiegeln?

Dreusicke: Ein Platz in unserer Einrichtung kostet 2400 Euro im Monat, wir beschäftigen dafür drei Sozialarbeiter, die sich rund um die Uhr um die Jugendlichen kümmern. Wenn einer da aus der Reihe tanzt, merkt das ein Betreuer doch ziemlich schnell.

SPIEGEL: Und wenn jemand trotzdem immer wieder die Regeln bricht, was passiert dann?

Dreusicke: Wenn jemand abhaut, haut der ab. Wir geben ihm ein paar Chancen, aber nicht unendlich viele. Irgendwann werden wir dann sehen müssen, ob nicht eine andere Einrichtung passender ist. Wir haben in einem einsamen Landstrich in Brandenburg ein Heim für besonders schwierige Fälle, vielleicht müsste ein solcher Junge oder ein solches Mädchen dann dorthin.

SPIEGEL: Experten fürchten, dass Einrichtungen wie Ihre dazu führen, dass Lehrer und Sozialarbeiter sich weniger um schwierige Jugendliche bemühen, weil man sie ja notfalls ins Internat abschieben kann.

Dreusicke: Es gibt so viele Angebote in Deutschland, von Sozialarbeitern in Schulen über Familienhelfer bis hin zu Tageseinrichtungen. Die werden doch wohl kaum alle ihre Arbeit einstellen.

Das Interview führte Caroline Schmidt
 

Editorische Anmerkungen

Den Text spieglten wir vom SPIEGEL, wo er am 29.8.2009 erschien

SALEM als Vorbild
Bernhard Bueb langjähriger Schulleiter über "sein" Internat:
"
Ich war ein Gläubiger der Idee, dass man Kindern das Höchstmaß an Selbstbestimmung zutrauen sollte - in einer möglichst demokratischen Umgebung ohne Hierarchie. Die Erfahrung hat mich eines Besseren belehrt, und ich musste mich mühsam von diesen Träumen befreien. In meinen Salemer Jahren habe ich dann mehr und mehr die Disziplin als Rückgrat der Erziehung entdeckt". Quelle: SPIEGEL vom 11.09.2006, "Disziplin ist das Tor zum Glück"

*) Die Berliner Zeitung vom 1.9.2009 meldet, dass der Betrieb mit vier Schülern aufgenommen wurde. Außerdem berichtet die Berliner Morgenpost  vom selben Tag folgendes: "Entweder seien sie auf Bitten der Eltern aufgenommen worden, die mit ihren Kindern nicht mehr klarkämen. Oder das Jugendamt hätte die Kinder aufgrund eines vorliegenden richterlichen Beschlusses eingewiesen."