Europäisches Sozialforum in Malmö

von Wladek Flakin

09/08

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Am Sonntag ging das Europäische Sozialforum (ESF) in Malmö zu Ende. Fast 10.000 Menschen aus ganz Europa hatten seit Donnerstag an hunderten politischen und kulturellen Veranstaltungen teilgenommen. Der Höhepunkt war eine Demonstration am Samstag mit 15.000 TeilnehmerInnen, wo Gewerkschaften, Umweltverbände, Autonome, linke Parteien und sozialistische Jugendorganisationen gemeinsam "Power to the People!" forderten.

Die ESF-BesucherInnen kamen in erster Linie aus Skandinavien: zum Beispiel Vilma (14), die mit zwei Freundinnen von "Ung Vänster", der Jugendorganisation der schwedischen Linkspartei, kam. "Wir haben die letzten Tage vor allem Transparente gemalt, aber waren auch bei einer Demonstration für die Rechte von MigrantInnen" meinte sie zu den Highlights des Forums. Aber es waren auch AktivistInnen aus ganz Europa – von Spanien bis zur Ukraine – und sogar aus Lateinamerika dabei. Aus Deutschland waren Duzende Menschen in Bussen von der Linksjugend-Solid und der DBG-Jugend angereist. Selbst aus dem Baskenland kamen über 20 Jugendliche, die 40 Stunden in zwei Kleinbussen ausharren mussten. Die ESFlerInnen wohnten in Turnhallen und Schulen um die Stadt herum, während die Veranstaltungen in öffentlichen Gebäuden, gemieteten Feststaalen und sogar in einer Moschee stattfanden.

Das ESF ist eine Gelegenheit für verschiedene Bewegungen, sich länderübergreifend zu vernetzen. So versammelten sich GegnerInnen der US-Luftwaffenbasis in Vicenza in Italien mit GegnerInnen des geplanten US-Raketenstützpunktes in Polen. In einer großen Runde tauschten sie Erfahrungen aus und planten Proteste gegen den bevorstehenden 60. Jahrestag der NATO. Auch VertreterInnen von europäischen Studierenden hatten eine besondere Versammlung, um über einen europaweiten Aktionstag gegen Bildungsabbau zu beraten.

Besondere Veranstaltungen

Neu für das ESF war ein "Labour Youth Space": ein Kirchengebäude, in dem die Gewerkschaftsjugend aus verschiedenen Ländern eigene Workshops anbot. "Es geht darum, die Jugend der europäischen Gewerkschaften von unten zu vernetzen" meinte Joachim Heckel, Aktivist der IG Metall-Jugend aus Nürnberg. "Hier stellen wir fest, dass Flexibilisierung ein Riesenproblem für junge ArbeiterInnen in ganz Europa ist. Deswegen müssen wir uns überlegen, europaweite Aktionstage zu organisieren."

Bei einer Veranstaltung über die EU-Terrorlisten teilten VertreterInnen der revolutionären Linken aus der Türkei, der linken Unabhängigkeitsbewegung aus dem Baskenland und antiimperialistischer Organisationen aus Dänemark das Podium. Sie erklärten, wie diese "schwarzen Listen" der Repression gegen linke Parteien und Bewegungen in aller Welt dienen. So war zur Zeit des Forums eine riesige Repressionswelle im spanischen Staat gegen die baskische Unabhängigkeitsbewegung in Gang, bei der mehrere Parteien verboten wurden. Ulrik Kohl vom dänischen Verein "Fighters and Lovers", der T-Shirts mit den Logos der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) und der kolumbianischen Guerilla FARC vertrieb, wurde am Tag davor wegen "Unterstützung des Terrorismus" verurteilt – beim ESF kündigte er jedoch an, die Solidaritätsarbeit fortzusetzen.

Krawalle und Chaos

Am Wochenende titelte die schwedische Boulevardpresse: "Krawall och Kaos!" Sie bezog sich damit auf eine "Reclaim the Streets"-Party, die Freitag Abend durch die Malmöer Innenstadt gezogen war. Die rund 2.000 TeilnehmerInnen tanzten zu Hiphop und Techno – und weil die schwedischen Autonomen anscheinend etwas klassenkämpferischer als ihre hiesigen KollegInnen sind, lief das Ganze hinter dem Fronttransparent "Klasse mit Klasse" ab. Dabei haben einige die Straße mit Graffitis besprüht und auch eine Fensterscheibe der Bank SEB zerschlagen – also kaum die Massenrandale, vor der die Presse tagelang gewarnt hatte! Die anwesende Polizei blieb erstaunlich zurückhaltend. "Wenn sie angreifen würden, dann würde alles viel, viel schlimmer werden" kommentierte ein ESF-Organisator die Polizeitaktik.

Außerhalb des offiziellen ESF-Programms fanden Aktionen des anarchistisch geprägten "Action Network" statt. Am Freitag versammelten sich beispielsweise rund 1.000 Menschen vor dem Büro des Stromkonzerns E.on, um gegen den Klimawandel zu protestieren. Am Tag davor hatten einige hundert vor dem Sitz der Ausländerbehörde in Malmö demonstriert, um ein Zeichen gegen Abschiebungen zu setzen.
Das ESF endete am Sonntag mit der Versammlung der sozialen Bewegungen, die die Abschlusserklärung des Forums beschloss. Eine wichtige Mobilisierung für alle ESFlerInnen werden die Proteste gegen den 60. Jahrestag der NATO im April 2009 sein. Aber auch die Proteste gegen den G8-Gipfel auf Sardinien im Juli 2009 oder gegen die Klimakonferenz in Kopenhagen im November 2009 haben eine große Bedeutung. Ort und Termin des nächsten ESFs stehen auch schon fest: 2010 in Istanbul.

Eine erste Bilanz

Insgesamt war das Forum anders als die bisherigen Foren in Florenz (2001), Paris (2003), London (2004) und Athen (2006). Malmö ist die kleinste Stadt, die je Gastgeberin für das ESF war, und angesichts dessen war die TeilnehmerInnenzahl von 15.000 auf der Demo ein Erfolg. Da die Veranstaltungsorte durch die ganze Stadt zerstreut waren, war es für den/die Einzelne/n schwierig, einen Überblick des Forums zu bekommen – doch die Zahl der OrganisatorInnen von 10.000 registrierten TeilnehmerInnen könnte auf jeden Fall stimmen.

Damit blieb das 5. ESF sowohl hinter den Erwartungen (20.000) wie auch hinter den Erfahrungen der bisherigen ESFs (mit möglicher Ausnahme des eher desaströsen 3. ESFs in London). Das lässt sich teilweise mit externen Faktoren erklären (Z.B. waren kaum TeilnehmerInnen aus Deutschland da, was angesichts der fast 60.000 DemonstrantInnen in Köln, Berlin und Stuttgart am gleichen Tag verständlich ist. So waren die drei erwähnten Busse aus Deutschland durchschnittlich nur zur Hälfte voll). Aber nicht nur. Denn das ESF ist ein großes Forum des Aneinander-Vorbei-Redens. Die politische Vielfalt unter den TeilnehmerInnen, von sozialdemokratischen NGOs über Umwelt-Hippies bis hin zu revolutionären MarxistInnen, macht es ohnehin schwierig, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Aber die Funktionsweise des Forums und vor allem der Abschlussversammlung macht das schlicht unmöglich. Die Abschlusserklärung wird nicht etwa demokratisch abgestimmt, sondern von einer mehr onder weniger selbsternannten Vorbereitungsgruppe vorgelegt und dann per "Konsens" abgesegnet. So finden sich im Text Stichpunkte, um fast alle TeilnehmerInnen zufriedenenzustellen, aber keine konkreten Mobilisierungspläne. Nach Jahren des unverbindlichen Plauderns fragen sich viele, wozu die ganze Veranstaltung gut sein soll, und das erklärt besser den fast konstanten Niedergang der TeilnehmerInnenzahlen.

Angesichts des geschrumpften ESFs hatten die anarchistischen Gegenaktivitäten am Rande ein viel größeres Gewicht als sonst. Waren es in den letzten Jahren eher Splittergruppen, die neben dem ESF kleine (und schwer zu findende) "Gegenforen" veranstalteten, stellte diesmal das "ESF Action Network" eine ernsthafte Konkurrenz zum ESF dar. Schon wegen der hohen Eintrittspreise (40 Euro bzw. 20 Euro ermäßigt) waren sicherlich mehr als tausend Jugendliche aus Südschweden oder dem benachbarten Kopenhagen zwar zum ESF gekommen, doch nicht zu den offiziellen Seminaren sondern lediglich zu den anarchistoiden Aktionen rund herum.

Probleme und Potential

Die allermeisten Seminare waren für Jugendliche befremdlich. Es war nicht ungewöhnlich, dass eine zweieinhalbstündige Veranstaltung aus zwei Stunden Vorträgen vom Podium und einer halben Stunde "Diskussion" bestand, wobei letztere aus einem Vorlesen verschiedener Communiqués bestand. So erwiesen sich die Forderungen im Flyer von REVOLUTION nach eigenständigen Jugendstrukturem beim ESF als komplett richtig. Es war sehr zu begrüßen, dass es zum ersten Mal einen "Jugendraum" der Gewerkschaftsjugend gab, aber dieser war fast ausschließlich von NachwuchsfunktionärInnen besetzt und bot kaum Möglichkeiten zur eigenständigen Organisierung.

Die pausenlose Angriffe auf ArbeiterInnen, MigrantInnen und Jugendliche in Europa, die durch die EU zentralisiert werden, machen eine gemeinsame, europaweite Gegenwehr nötiger denn je. Aber die inoffizielle Bürokratie, von der das ESF beherrscht wird (die wiederum aus verschiedenen sozialdemokratischen und Gewerkschaftsbürokratien zusammengesetzt ist) verhindert immer wieder, dass das ESF zu einem Knotenpunkt einer solchen Gegenwehr werden kann. Die Vernetzung, die beim ESF vor sich geht ist, schätzen wir sehr hoch – nach jeder Veranstaltungen tauschen AktivistInnen aus ganz Europa ihre Email-Adressen aus – aber insgesamt ist und bleibt das ESF ziemlich ziellos.
Was uns angeht, werden wir auch in Zukunft am ESF teilnehmen – die verhältnismäßig größere revolutionäre Linke in der Türkei wird das Forum in Istanbul sicherlich auch spannender machen – aber dabei stets betonen, dass eine revolutionäre internationale Organisierung nötig ist, um aus der schwammigen Parole "eine andere Welt ist möglich" eine konkrete, sozialistische Realität zu machen.

Links
- eine Übersicht der Foren bisher, aus der neusten REVOLUTION-Zeitung
- der Flyer von Revo zum ESF (auch auf Englisch, Schwedisch und Finnisch)
- Bilder von Roman, Revo Prag
- offizielle ESF-Seite

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Text vom Autor zur Veröffentlichung in der Septemberausgabe zur Zweitveröffentlichung.

Wladek Flakin arbeitet mit in der unabhängigen Jugendorganisation REVOLUTION