Schmutziges Geschäft gegen Einwanderer

von Bernard Schmid

09/08

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Italien setzt die Anerkennung seiner Kolonialvergangenheit politisch „Gewinn bringend“ ein: Es benutzt sie als Tauschmittel gegen eine Mitwirkung seiner Ex-Kolonie Libyen bei den Bemühungen, unerwünschte Zuwanderer vom europäischen Boden fernzuhalten. Dort,  in Libyen, werden  Migranten, die es vom Übertritt nach Europa fernzuhalten gilt, oft auf  unverkennbar menschenrechtswidrige Weise behandelt, (wie Bernhard Schmid berichtet).

Dieses Mal hat sich niemand beim Staatsbesuch daneben benommen: Manchmal schaffen es auch ausgesprochen rechtslastige Politiker, mit der diplomatisch gebotenen Gewandtheit statt polternd aufzutreten. Dies gilt, zumindest in diesem Falle – also anlässlich seines jüngsten Besuchs in Libyen – auch für den italienischen Premierminister Silvio Berlusconi.

Er ist zwar nicht unbedingt für seine guten Manieren in der Politik bekannt -und für seine rechtsauben stehenden Koalitionspartner von den Parteien Alleanza Nazionale  (AN) und Lega Nord gilt dies erst recht. Zuletzt hatte der zur Regierungspartei AN gehörende, „post-neofaschistische“ Bürgermeister von Rom, Gianni Alemanno, beim Staatsbesuch in Israel einen derben Ausrutscher hingelegt. Ausgerechnet dort hatte er Anfang September erklärt, der Faschismus – jedenfalls in Italien – sei „nicht das absolut Böse gewesen“. Zwar verurteilte er die unter Benito Mussolini verabschiedeten, antisemitischen „Rassengesetze“. Doch Alemanno fügte hinzu: „Der Faschismus war ein komplexeres Phänomen. Viele Menschen haben ihn in gutem Glauben unterstützt und ich will sie nicht mit einer solchen Definition“, also als Repräsentanten des Bösen, „etikettieren.“ (Vgl. http://diepresse.com/home/)

Rechter Politiker auf Samtpfoten (.. ?)

Sein Regierungschef hingegen, Berlusconi, tat in Libyen einen Schritt, der bis dahin von weit rechts angesiedelten italienischen Politikern wohl nicht erwartet worden wäre: Er entschuldigte sich offiziell, im Namen der Nation, für die von Italien in Nordafrika begangenen Kriegsverbrechen. In den späten neunziger Jahren hatte die damalige Mitte-Links-Regierung unter Romano Prodi begonnen, eine gewisse Annäherung an die früheren Kolonien Italiens einzuleiten. Um die angestrebte „Normalisierung“ in den zwischenstaatlichen Beziehungen zu befördern, waren dabei auch erstmals explizite Schuldeingeständnisse hinsichtlich der früheren Kolonialverbrechen ins Auge gefasst worden.

 Italien war vor allem in den heutigen afrikanischen Staaten Libyen, Äthiopien und Somalia als Kolonialmacht aufgetreten. Dabei war Libyen zwar bereits 1911 erobert worden, wurde aber besonders in der Ära der faschistischen Diktatur Benito Mussolinis (1922 bis 43) gewaltsam unterworfen. Historiker vermuten, dass damals 20.000 Nordafrikaner aufgrund ihres Widerstands gegen die Kolonialherrschaft getötet, und 100.000 in Wüstenlager deportiert worden sind. Von Letzteren starb knapp die Hälfte an Entbehrungen, Epidemien oder bei Hinrichtungen. Der Angriffskrieg des faschistischen Italien auf das damalige Abessinien – und spätere Äthiopien – in den Jahren 1935/36, bei dem auch Giftgas eingesetzt wurde, kostete mehrere Hunderttausende das Leben.

Erstmaliges Schuldeingeständnis der „hohen Politiker“

Ausgerechnet Berlusconi, der rechtsradikale oder historisch von der extremen Rechten kommende Politiker in seinem Kabinett sitzen hat, unternahm nun den entscheidenden Schritt hin zum offiziellen Schuldeingeständnis im Namen des italienischen Staates. Am 30. August dieses Jahres vereinbarte er – anlässlich seiner Visite im libyschen Benghazi – mit Staats- und „Revolutionsführer“ Muammar al-Kaddafi, dass Italien im Laufe der kommenden 25 Jahre insgesamt fünf Milliarden US-Dollar (derzeit 3,4 Milliarden Euro) an Entschädigungszahlungen an Libyen leistet. Konkret sieht die Abmachung vor, dass Italien pro Jahr 200 Millionen Dollar in die libysche Infrastruktur investieren wird. 

Dazu zählen der Bau einer Autobahn in Ost-West-Richtung entlang der Küste, von der tunesischen bis zur ägyptischen Grenze, sowie die Errichtung „einer groben Anzahl“ von Sozialwohnungen. Rom verspricht ferner, Stipendien an libysche Studierende zu vergeben sowie Minenopfern – die durch die einst von Italienern verlegten Anti-Personen-Minen verletzt wurden – Versehrtenpensionen zu zahlen. Die Vorbereitungsarbeiten zu dem „Freundschafts- und Kooperations-Abkommen“, das begleitend dazu unterzeichnet wurde (an einem symbolischen Ort, im Garten des ehemaligen italienischen Gouverneurspalasts in Benghazi), waren in Italien bereits durch die Vorgängerregierung unter dem Mitte-Links-Politiker Prodi durchgeführt worden.

Berlusconis Amtsbesuch, der nur knappe zwölf Stunden dauerte, erfolgte am Vorjahr der Feierlichkeiten zum 39. Jahrestag der Machtübernahme durch Muammar al-Kaddafi. Der damalige junge Oberst hatte am 1. September 1969, an der Spitze einer Gruppe „freier Offiziere“, den letzten libyschen König gestürzt. Der italienische Regierungschef brachte in seinem Gepäck auch eine Kunstfigur mit, die so genannte Venus von Cyrene – eine antike Marmorskulptur (ohne Kopf), die aus dem 2. Jahrhundert vor Christus stammt und die 1913 durch italienische Archäologen unter dem libyschen Boden entdeckt worden war. Die „Raubkunst“ wurde feierlich an Libyen zurückgegeben. Vor der Unterzeichnung des bilateralen Abkommens in Benghazi hatte Berlusconi zudem den Sohn eines libyschen Widerstandsführers gegen die Kolonialmacht, der auf Anordnung von Diktator Mussolini hin im Jahr 1931  erhängt worden war – Omar Al-Mokhtar –, getroffen und ihm die Hand geschüttelt.

Frankreich möchte dem italienischen Vorbild nicht folgen: Nur keine         Anerkennung von Kolonialverbrechen...!

Unterdessen wehrt sich das offizielle Frankreich mit Händen und Füßen, dagegen, dass es dem italienischen Beispiel folgen und eigene Kriegs- und Kolonialverbrechen insbesondere in Libyens nordafrikanischem Nachbarstaat Algerien anerkennen könnte. Auf keinen Fall...! Eine solche Anerkenntnis von staatlicher Seite steht bislang noch vollkommen aus - obwohl der damalige französische Botschafter in Algerien, Bernard Barjolet (inzwischen Geheimdienstchef in Paris), Ende April 2008 erstmals bereit war, die Schlächterei vom 8. Mai 1945 erstmals als „Massaker“ zu bezeichnen und die „sehr schwere Verantwortung der damaligen französischen Behörden“ zu unterstreichen. (Vgl. http://www.france24.com). An jenem Datum, welches das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa markiert, waren in den algerischen Städten Sétif, Kherrata und Kherrata mehrere Tausend antikolonialistische Demonstranten durch die Kolonialarmee und -polizei massakriert worden.

Die jüngst getroffene Vereinbarung zwischen Rom und Tripolis, so reagierte ein Sprecher des französischen Außenministeriums (Quai d’Orsay), Eric Chevalier, hänge mit einem „Sonderaspekt der bilateralen Beziehung zwischen Italien und Libyen“ zusammen, deren „gemeinsame Geschichte per Definition eine spezifische ist“. Kurz ausgedrückt: Nichts davon ist beispielsweise auf die französisch-algerische Geschichte übertragbar, folgt man denn dem Ministeriumssprecher. Umgekehrt hatte Libyens Oberst Kaddafi darauf insistiert, dass das von ihm mit Berlusconi geschlossene Abkommen internationalen Modellcharakter habe und einen „Präzedenzfall im internationalen Recht“, in Sachen Umgang mit der Aufarbeitung des Kolonialismus, schaffe. (Vgl. http://www.guineepresse.info )

Und tatsächlich mag diese, nach langjähriger offizieller Verdrängung der mit der Kolonialgeschichte verbundenen Verbrechen getroffene, Vereinbarung in mancherlei Hinsicht vorbildlich wirken. Nur hat sie auch ihre unübersehbare Schattenseite. Denn weder erfolgte die durch Berlusconi ausgesprochene Anerkennung dieser dunklen Seiten der italienischen Historie zuvörderst aus humanistischen Erwägungen oder später Reue – noch blieb sie ohne handfeste politische Gegenleistung. Denn das Aussprechen des staatsoffiziellen Bubbekenntnisses diente dem – zu Hause und international umstrittenen – italienischen Premier vor allem als „Eintrittskarte“, um in Libyen die Durchsetzung anders gearteter politischer Ziele zu erreichen. So konnte denn auch erfolgreich ein doppelter „Deal“ eingefädelt und geschlossen werden. 

Hinter den „Freundschafts“bekundungen: Handfeste politische       Forderungen

Auf der einen Seite steht dabei eine verstärkte Präsenz des nördlichen Nachbarn von jenseits des Mittelmeers im libyschen Erdöl- und Erdgassektor. Von den anlässlich des jüngsten Besuchs zwischen Berlusconi und Kaddafi getroffenen Vereinbarungen zu „Freundschaft und Kooperation“ erhofft Berlusconi sich so, dass Libyen „mehr Öl und Gas“ nach Italien liefern werde. Denn diese seien „von besserer Qualität“ als die anderswo geförderten fossilen Brennstoffe, wie der Premier - mit ausgeprägtem Sinn fürs Materialistische, während es doch offiziell um die hehren Werte der Völkerfreundschaft ging – betonte.

Andererseits dient die neu ausgerufene italienisch-libysche „Partnerschaft“ aber insbesondere auch zu, dritte Personen – nämlich in Italien oder Europa als „unerwünscht“ geltende Migranten, afrikanische Auswanderungskandidaten – vom Übertritt des Mittelmeers abzuhalten. Die durch die Pariser Abendzeitung Le Monde , in einer Zwischenüberschrift, kurz und bündig als Coopération anti-immigration (Kooperation gegen Einwanderung) bezeichnete Zusammenarbeit wird in der Tat durch das neue italienisch-libysche Abkommen sichtlich verstärkt.

So akzeptiert Libyen nun erstmals gemeinsame Patrouillen mit Italienern und sonstigen Europäern im Mittelmeer, die dazu dient, im Norden unerwünschte Einwanderer an der Überfahrt über dasselbe zu hindern und sie gegebenenfalls auf den Rückweg zu schicken. Der nordafrikanische Staat, der über 1.700 Kilometer Küstenlinien und 4.000 Kilometer Landgrenzen (die meist durch Wüstenzonen verlaufen) verfügt, stimmte jetzt ebenfalls einer Überwachung seiner Südgrenze durch „Aufklärungs“satelliten zu. Menschen aus aller (afrikanischen) Herren Länder reisen über diese Südgrenze – für deren Überschreitung sie lange Durchfahrten durch Wüstengebiete in Kauf nehmen müssen – ein, um später in Europa ihr Glück zu versuchen. Um ihrem Traum von einem besseren Leben nachjagen, den allzu viele von ihnen mit dem Tod bezahlen: Der Boden unter dem Mittelmeer ist mit ihren Leichen übersät.

Libyen, dessen Oberst Kaddafi sich sonst allzu gern als den „Helden der afrikanischen Einheit“ aufspielt – wenn er sich nicht gerade als den vermeintlichen Einiger aller Araber geriert -, macht sich damit zum willigen Hilfspolizisten der Länder des Norden gegen unerbetene Zuwanderer. Eine Haltung, die durchaus zu seinen eigenen Worten, seiner eigenen verbalen Attitüde im Widerspruch steht. Noch im Dezember 2007 hatte Kaddafi, auf Amtsbesuch bei Präsident Sarkozy in Paris, sich lautstark über die „unmenschliche Art und Weise, mit welcher Europa die illegalen Einwanderer behandelt“, beschwert. Nun lässt er sich vielleicht in Zukunft leiser darüber aus, es sei denn, der Widerspruch fällt ihm gar nicht erst auf.

Als „(über)eifrigen Auftragnehmer Europas“, im Original: Sous-traitante zélée de l’Europe, bezeichnet das in Paris erscheinende panafrikanische Wochenmagazin Jeune Afrique das Libyen, das durch den jüngsten politischen Schwenk des politischen Abenteurers Kaddafi sichtbar wird. In ihrer jüngsten Ausgabe vom 14. September beschreibt die Zeitschrift ferner die „Kehrseite der Medaille“ in der libyschen Politik: „Kopf oder Zahl? Auf der einen Seite: der Fürsprecher der afrikanischen Einheit. Auf der anderen: der Auftragswächter auf den Barrieren Europas. Definitiv übt Oberst Kaddafi sich einmal mehr in Ambivalenz.“ 

Vom Anwerben der afrikanischen „Brüder“...

Nicht immer war die libysche Politik so ausgerichtet. Nicht immer akzeptierte der nordafrikanische Wüsten- und Ölförderstaat, die äuberen Abschirmwälle der „Festung Europa“ – die auf gehörige Distanz nach drauben verlagert wurden und werden – zu bewachen. Im Gegenteil: Im September 1999 hatte Libyen unter Kaddafi offiziell erklärt, alle afrikanischen „Brüder“ seien auf seinem Boden willkommen, ihnen stünden die Türe offen.

Denn damals benötigte Libyen seinerseits, möchte man die Sache ehrlich benennen, billige Arbeitskräfte. Erstens lagen viele Sektoren aufgrund des damals – infolge von Terroranschlägen in den 1980er Jahren, in die libysche Agenten angeblich oder tatsächlich verwickelt waren – noch über das Land verhängten internationalen Embargos (es wurde ab Ende 2003 aufgehoben) schlichtweg brach. In vielen Wirtschaftszweigen herrschte ein gehöriger Nachhol- und Arbeitskräftebedarf, um Industrie- und sonstige Anlagen zu bauen oder instand zu halten. Zum Zweiten kam hinzu, dass Libyen infolge der innenpolitischen Krise, die mit dem Embargo und seinen Folgen in den frühen Neunzigern anfänglich einher gegangen war, zahlreiche arabische „Gastarbeiter“ abgeschoben hatten.

 Viele dieser Migranten waren als Fachkräfte tätig, doch verrichtete eine gröbere Zahl von ihnen auch einfach die „Drecksarbeit“ für die (bis dahin) direkt oder indirekt von der Ölrente profitierenden Libyer. Die ersten staatlich verordneten Restriktionen richteten sich seit 1993 gegen diese Einwanderer aus anderen arabischen Ländern, vor allem gegen Palästinenser, Ägypter und Sudanesen. Den letzten beiden Gruppen wurde vorgeworfen, an der Ausbreitung des (oppositionellen)  Islamismus im Lande schuld zu sein. Die Palästinenser wurden nach offizieller Darstellung dafür bestraft, dass die PLO-Führung sich 1993 auf die Abkommen von Oslo eingelassen hatte. Von seinem pro-palästinensischen Verbalradikalismus rückte Kaddafi aber später im Laufe der neunziger Jahre ab, und er betonte nun, dass die arabische Staatenwelt die Technologie und das Entwicklungsniveau Israels an ihrer Seite benötige. Danach denunzierte er vor allem die Palästinenser, die dem im Wege stünden.

Im Sommer 1995 erklärte Libyen seine Absicht, sämtliche 30.000 im Lande lebenden Palästinenser auszuweisen. Unter ihnen wurden zunächst 5.000  mehr oder minder gewaltsam außer Landes befördert, von denen viele dann als staatenlose Boat People auf dem Mittelmeer umherschipperten. Im Anschluss nahm Libyen im Spätherbst 1995 den Ausweisungsbeschluss nach einer Konzertation mit Ägypten wieder zurück. Aber auch Sudanesen und Schwarzafrikaner, etwa aus Nigeria und dem Tschad, waren in größerer Zahl von Ausweisungen betroffen.

In einer zweiten Phase zog Libyen dann - nach erfolgter Trennung von den bisherigen, überwiegend arabischen Arbeitsimmigranten - in den späteren neunziger Jahren wiederum vermehrt schwarzafrikanische Einwanderer an. Denn irgendjemand sollte ja die Arbeit machen, für die bis dahin etwa zwei Millionen Immigranten unter den fünf Millionen Libyern lebten. Weil Libyen in Afrika, verglichen mit der erbärmlichen Reputation Gaddafis unter arabischen Staatsführern, größere außenpolitische Erfolge hatte (unter anderem aufgrund der ihm reichlich zur Verfügung stehenden Ölrente), bevorzugte die Staatsführung nun Arbeitskräfte  aus dem subsaharischen Afrika. Entweder galten sie als „gefügiger“, oder zumindest vermutete der libysche Führungszirkel, aufgrund von Gaddafis vordergründig positivem Image in vielen Ländern südlich der Sahara hätten sie eine positive Einstellung.

Kurzzeitig veranstaltete das Regime sogar einen regelrechten Propagandarummmel für die Heirat von Libyern mit Schwarzafrikanerinnen, was die Immigranten allerdings in der Durchschnittsbevölkerung keineswegs weniger verhasst machte - eher im Gegenteil. Im Herbst 2000 brachen regelrechte Pogrome an den Immigranten aus dem subsaharischen Afrika aus, bei denen mindestens 130, laut manchen Schätzungen hingegen sogar 500 Menschen durch einen aufgebrachten Lynchmob getötet wurden. Die Behörden schritten dagegen nicht ein. Zwar wurden die Pogrome als eine Art reaktionärer Protest „von unten“ offenbar spontan ausgelöst,. Doch da sie sich als gutes Ventil für angestaute gesellschaftliche Spannungen erwiesen, ließ man die Täter staatlicherseits ungestört gewähren.

...zur massenhaften Ausweisung

Am 8. August 2004 kündigte Libyen dann offiziell an, alle illegal eingereisten afrikanischen Einwanderer abzuschieben. Bis Oktober desselben Jahres mindestens 40 000 Abschiebungen auch tatsächlich durchgeführt, betroffen waren davon auch (vom UNHCR als solche anerkannte) politische Flüchtlinge. Am 27. August 2004 kam es dabei an Bord des Abschiebeflugzeugs zur Rebellion einer Gruppe von 78 eritreischen Flüchtlingen, denen bei ihrer erzwungenen Heimkehr die Verhaftung und Folterung drohte. Mindestens 20 Angehörige der Gruppe brachten das Flugzeug in ihre Gewalt und zwangen es zur Notlandung im benachbarten Sudan, wo sie sich den Behörden ergaben. In der sudanesischen Hauptstadt Khartum wurden 15 von ihnen unter Anklage des „Terrorismus“ gestellt.

 Insgesamt wird für die Jahre 2003 bis 05 – so resümierte Jeune Afrique vor kurzem Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) – die Zahl der erfolgten Abschiebungen von Staatsbürgern anderer afrikanischer Länder auf 145.000 geschätzt. Gleichzeitig hat der libysche Staat seine Einwanderungsregeln drastisch verschärft: Seit Januar 2007 fordert das Land nun von allen anderen nord- sowie den schwarzafrikanischen Staatsbürgern ein gültiges Visum. Obwohl in Tripolis lange das hohe Lied der „arabischen Einheit“ und  im Anschluss (nachdem Gaddafi bei den anderen Arabern eher als lächerlich wirkende politische Figur ankam) der „afrikanischen Einigung“ angestimmt, ja aus vollem Halse gesungen worden war. Lange Jahre hatte die libysche Propaganda gefordert, die Grenzen zwischen all diesen Staaten zu beseitigen.

Allerdings wird gleichzeitig die Anzahl der aktuell „illegal“ in Libyen lebenden Ausländer ihrerseits auf 1,7 Millionen geschätzt, während jene der Einwohner des Landes mit 5,5 Millionen angegeben wird. Die auf der Ölrente, und (relativen) Privilegien für die „Einheimischen“, beruhende libysche Ökonomie benötigt schlicht und einfach zahlreiche Arbeitskräfte. Zumal sie nun, nach dem Ende des Embargos und in Zeiten eines hohen Rohölpreises, in eine neue Wachstumsphase eingetreten ist. Dass sich diese Arbeitsimmigranten heute zumeist „ilegal“, und damit offiziell rechtlos, im Land aufhalten, muss den Arbeitgebern dabei nicht Unrecht sein. Sorgt es doch dafür, dass sie über ein „Polster“ relativ angepasster, gefügiger Arbeitskräfte verfügen: So lange der Staat sie nicht mit Zwangsmabnahmen behelligt, können sie sich damit zufrieden geben.

Doch viele Menschen aus dem subsaharischen Afrika streben über Libyen hinaus, und möchten das Land als „Sprungbrett“ für die Weiterreise nach Europa nutzen. Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren stark erhöht, unter anderem aufgrund der gewaltsamen Zwischenfälle am Grenzzaum rund um die (von Marokko umgebenen) spanischen Enklaven in Nordafrika – Ceuta und Melilla – im Oktober 2005 und des zunehmend brutalen Grenzregimes in Marokko selbst. Deshalb vermeiden viele Auswanderungswillige heute die Route über Marokko, wo die Polizei in jüngerer Vergangenheit Migranten - einschlieblich Frauen und Kindern – auberhalb der Städte in der Wüste ausgesetzt hat, und nehmen einen riesigen Umweg über libysches Territorium in Kauf.

Strategiedebatte in der Europäischen Union

Der Umgang mit ihnen zählt aus Sicht mehrer europäischen Staatsführungen offenkundig zu den interessanten Aspekten der Beziehungen mit Libyen. Unter anderem die italienische und die deutsche Politik insistieren in den letzten Jahren auf europäischen Gipfeln vor allem auf der Idee, die EU solle „Auffanglager“ für Flüchtlinge und Einwanderungswillige auf der Südseite des Mittelmeers, insbesondere in Libyen, errichten. Italien lieferte seiner ehemaligen Kolonie zur selben Zeit bereits Radargeräte, Helikopter, Boote und Jeeps zur Grenzüberwachung am Mittelmeer wie in der Sahara. Der damals noch designierte Kandidat der italienischen Rechtsregierung auf das Amt des Justizkommissars in der Europäischen Kommission, Rocco Buttiglione, leistete sich bei seiner Anhörung vor dem Europaparlament in Strasbourg/Strabburg  Anfang Oktober 2004 übrigens einen mächtigen Fauxpas. Er sprach von „Konzentrationslagern“ in Nordafrika, wo er eigentlich der Errichtung von „Auffanglagern“ für unerwünschte Flüchtlinge und Migranten das Wort reden wollte.

Allerdings setzt sich auf EU-Ebene Ende 2005 zunächst offfiziell die französisch-spanische Linie durch. Letzere zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass sie zumindest verbal das Problem der „Bekämpfung von Fluchtgründen“ anerkennt. Andererseits sind diese Regierungen insofern noch restriktiver, als sie – just im Namen dieser Notwendigkeit - die Migrationswilligen noch enger an ihren Herkunftsort binden und sie dort halten wollen, auch gegen ihren mutmaßlichen Willen. Denn ihnen zufolge geht es darum, die aus Sicht der EU-Regierungen unerwünschten Migranten gleich in ihrem Herkunftsland zu fixieren, um dort „die Fluchtursachen zu behandeln“. Dies kann einerseits einer verstärkten Berücksichtigung von Entwicklungsimperativen vor Ort dienen, hat aber andererseits oft auch ausgesprochen repressive Züge.

Migranten in Lagern und Haftanstalten

Libyen ist damit nicht aus seiner Rolle als „Grenzwächter“ im Süden des europäischen Kontinents ausgeschieden. In der Praxis nimmt diese Rolle vielmehr unaufhaltsam an Bedeutung zu. Schon im Jahr 1999 wurden, laut den Worten des Geographiedozenten Ali Ben Saad (Universität Aix-en-Provence) auf einer Tagung über „Menschenrechte im Maghreb“ im Juni 2008 in Saint-Denis bei Paris, „acht grobe Lager in Libyen identifiziert, in denen Migrationskandidaten festgehalten wurde“. In diesen Lagern herrsche Willkürherrschaft, die an feudale Abhängigkeitsverhältnisse erinnere, und seien rechtsstaatliche Absicherungen nicht gegeben.  

Heute hat sich daran nichts verbessert. Zudem sitzen, laut demselben Forscher, derzeit rund 60.000 Personen (überwiegend ausländische Staatsbürger) in libyschen Gefängnissen in Haft, weil sie das Delikt der versuchten „illegalen Auswanderung“ bzw. Übertretung der libyschen Aubengrenze begangen haben. Nicht besser wird dieser Zustand dadurch, dass Algerien erst vor wenigen Wochen ein ähnliches Delikt der „illegalen Ausreise“, dieses Mal überwiegend an die eigenen Staatsbürger gerichtete, eingeführt hat...

Libyen ist der erste Staat, der sich unmittelbar und auf intensive Weise in das Migrations- und Sicherheitsregime der Europäischen Union an ihren Außengrenzen einbinden lässt. Weitere Länder dürften folgen. Das libysche Beispiel zeigt somit anschaulich, was all die Lippenbekenntnisse zur Demokratisierung in der arabischen Welt taugen...

Editorische Anmerkungen

Wir erhielten den Text vom Autor zur Veröffentlichung in der Septemberausgabe.