Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

„Einen Schritt zurück, zwei Schritte vorrücken“

Nach taktischen Rückzügen wird der Reformterror offensiv vorangetrieben
- Mehrwertsteuererhöhung, Kündigungsschutzabbau und Druck auf Arbeitslose auf dem Programm –
09/07

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Zum allerersten Mal hat der konservativ-liberale Regierungsblock, der hinter Präsident Nicolas Sarkozy steht, in den letzten 14 Tagen taktische Rückzieher einlegen müssen. Insbesondere musste er das Vorhaben der so genannten ‚TVA sociale’ (Soziale Mehrwertsteuer), hinter dem sich nichts anderes als das Projekt einer Erhöhung der Konsumbesteuerung – und damit der ungerechtesten Steuerform, die vollkommen vom Einkommen unabhängig ausfällt – von derzeit 19,6 Prozent auf mutmablich 24,6 Prozent stand, vorläufig zurückziehen.

Zugleich mussten das Regierungslager und auch Nicolas „Speedy Gonzalez“ Sarkozy erstmals Einbrüche bei ihrer Popularität hinnehmen. Auch wenn Sarkozy, der weiterhin in allen Medien omnipräsent bleibt (so sehr, dass kritische JournalistInnen Aufsehen erregen konnten, indem sie für den 30. November einen Extra-Aufruf für einen „Tag ohne Sarkozy in Ihrer Zeitung“ lancierten), weiterhin auf einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung bauen kann.

Erstmals schälen sich auch bestimmte Versuche, sozialen Widerstand zu leisten und gegen die neoliberal-autoritäre Politik unter Präsident Sarkozy zu mobilisieren, heraus. Am Samstag, 29. September findet am Nachmittag in Paris eine Saalveranstaltung gegen die geplanten zusätzlichen Selbstbehalte der PatientInnen im Gesundheitswesen statt. Die Kranken sollen künftig bspw. 50 Centimes für jede Medikamentenschachtel, und 2 Euro für jeden Sanitätstransport aus eigener Tasche zuzahlen, zusätzlich zu den bisher schon bestehenden „Freibeträgen“ (wie bspw. der Praxisgebühr von einem Euro pro Artzbesuch). Gewerkschaften und Linksparteien wollen zusätzlich gegen diese Pläne auf die Strabe gehen. Darauf einigten sich die wichtigsten Linkskräfte anlässlich der ‚Fête de l’Humanité’ (des Pressefests der KP-nahen Tageszeitung, das jährlich zum Anlaufpunkt für Hunderttausende Sympathisanten von Linken und Gewerkschaften wird) am 15. September. Und am 18. Oktober findet erstmals ein gröberer Streik statt, der sich gegen den geplanten Abbau der (relativ günstig ausfallenden) „besonderen Rentenregelungen“ in bestimmten öffentlichen Diensten richten wird. Dazu riefen zunächst mehrere Gewerkschaften der Eisenbahner/innen (CGT, SUD, FO) auf. Hinzu kommen seit Anfang dieser Woche nun auch die CGT sowie FO bei den Beschäftigten der Energieversorgungsunternehmen, Electricité de France und Gaz de France. Auch unter den LehrerInnen rühren sich inzwischen Unterstützer/innen für diesen „Aktionstag“, bspw. ruft die linke Basisgewerschaft SUD Education (SUD Bildungswesen) zur Teilnahme auf. In der Hoffnung, dass irgend eine Berufsgruppen übergreifende Dynamik dabei zustande kommen könnte.

Erste Popularitätseinbuben. Aber... 

Nunmehr fiel Nicolas Sarkozy in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IFOP, die am 12. September durch Radioberichte publik wurde, von zuvor 67 auf 62 Prozent „positive Meinungen“. Sein blasser Premierminister François Fillon, der nicht aus dem Schatten des übermächtigen Präsidenten herauskommt (und Gerüchten zufolge irgendwann in naher Zukunft ersetzt werden soll, weil er sich vergangene Woche teilweise dem Vorhaben einer Einführung von DNA-Untersuchungen für Einwanderungskandidaten widersetzte), fiel demnach gar um 9 Prozentpunkte in der Gunst der öffentlichen Meinung: von 62 auf 53 Prozent „positive Einstellungen“. Fillon hatte sich im Laufe des Sommers ein eigenes Plätzchen zu schaffen versucht, indem er noch härtere Ankündigungen tätigte, als Sarkozy in der Öffentlichkeit für tragbar hielt.  

Am vorigen Wochenende nun verzeichneten die beiden Politiker erneut Rückgänge ihrer Popularität: Laut einer neuen Umfrage, die IFOP für die ‚Sonntagszeitung’ (JDD, Journal du dimanche) erstellte, fiel Nicolas Sarkozy von 69 % positiven Auffassungen zu seiner Amtsführung auf noch 61 Prozent im September. Premierminister Fillon stürzte demnach von 63 auf 56 Prozent. (Vgl. http://www.lemonde.fr/web/depeches/0,14-0,39-32528690@7-37,0.html) 

Nichtsdestotrotz bleibt unter dem Strich übrig, dass Nicolas Sarkozy und seine Gang sich nach wie vor auf beträchtliche Teile der öffentlichen Meinung stützen können. Sicherlich auch, weil nach der Periode der demagogischen Ankündigungen die konkreten Schritte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik bisher noch kaum zum Tragen kamen. Zumindest zwei „Reformprojekte“, die in der vergangenen Woche enthüllt bzw. im Parlament debattiert wurden, sind jedoch durchaus nicht unpopulär: Sowohl die Einschränkung der (verglichen mit den Regeln für die Gesamtbeschäftigten, relativ günstigen) Rentenregelungen für die Eisenbahner/innen und andere Gruppen öffentlich Bediensteter -- vor dem Hintergrund eines Sozialneid-Diskurses gegen diese angeblich „Privilegierten“ -- als auch die geplante drastische Beschränkung der Familienzusammenführung für Einwanderer stoben bei Teilen der Bevölkerung durchaus auf Zustimmung.  

Sicherlich werden dabei auch niedere Instinkte („Die sollen es nicht besser haben als wir Privatbeschäftigten“, „Warum sollen die hier Ansprüche stellen dürfen“) gegen bestimmte Gruppen mobilisiert. Das Aufkeimen von Solidarität, wenn kollektiver sozialer Protest ausbricht, kann solche Mechanismen zwar durchkreuzen. Dies hat etwa die Streikbewegung vom Herbst 1995 und – unmittelbar in ihrem Anschluss – die massenhafte Solidarisierung der Bevölkerung mit den kämpfenden öffentliche Bediensteten, aber auch die damalige Popularität der gleichzeitig aufkeimenden Sans papiers-Bewegung belegt. Erst muss es allerdings noch Bruchpunkte bzw. scharfe Bruchflächen zwischen gröberen Beschäftigtengruppen und der Regierungspolitik, und damit das Entstehen von Kristallisationskernen für sozialen Widerstand geben. Noch sind wir keineswegs so weit. Und im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger Jacques Chirac kann Nicolas Sarkozy durchaus Teile der öffentlichen Meinung für sich und seine Ziele mobilisieren. Dort, wo Chirac vor der Wahl wohlklingende Versprechungen machte und erst nach dem Wahltermin unschöne „Reformprojekte“ stück- und scheibchenweise aus den Schubladen zog - weshalb sich die Leute massenweise und zu Recht „verarscht“ fühlten -, hat Nicolas Sarkozy von Anfang an Farbe bekannt. Tatsächlich ist die Politik, die er real ausführt, durchaus konform zu dem, was er zu einem früheren Zeitpunkt ankündigte. Damit erntet er bei manchen Anerkennung für seinen „Mut“ und seine Offenheit, zumal so einige Leute (vor allem Männer) gerne so hart und durchsetzungsfähig wären, wie Sarkozys Bild suggeriert. „Unverschämt gewinnt“ lautet die Botschaft.    

Anhebung der Mehrwertsteuer: Sie kommt. Kommt nicht. Kommt doch... 

In der Frage der Erhöhung der Mehrwertsteuer hat die Regierung im Laufe des September dieses Jahres vorübergehend zurückstecken müssen. In der zweiten Septemberwoche wurden die Pläne zunächst beerdigt. Zwar sprach sich der neue Staatssekretär „für vorausschauende Wirtschaftspolitik“, Eric Besson (alias „Monsieur Verräter“, da er den letzten Wahlkampf als wirtschaftspolitischer Berater der Kandidatin Ségolène Royal anfing und im Lager Nicolas Sarkozys beendete), in seinem Untersuchungsbericht im Prinzip für ihre Einführung aus. Aber der Auftritt Eric Bessons wurde, zeitgleich, von einem anderen Papier der amtierenden Wirtschaftsministerin Christine Lagarde flankiert. Die Ministerin, die mit Fug und Recht als Repräsentantin der globalisierten Eliten bezeichnet werden kann – Sarkozy holte sie unmittelbar aus den USA, wo sie ein fabrikähnlich funktionierendes Kabinett von Wirtschaftsanwältin mit 9.000 MitarbeiterInnen leitete -, sprach sich ihrerseits gegen die Erhöhung der Mehrwertsteuer im konkreten Falle aus. Denn Letzere sei als „inopportun“ zu betrachten, während die Konjunktur am Absaufen sei, vor dem Hintergrund der im August ausgebrochenen Finanzkrise und der im Euroraum anstehenden Zinserhöhung (und damit der Verteuerung von Bankkrediten, damit einhergehend der Drosselung von Produktivinstitutionen).  

Am Montag dieser Woche nun wurde das Dossier der Mehrwertsteuererhöhung erneut aufgetischt. In Regierungskreisen überlege man – so hieb es am Wochenende zunâchst -, die Maßnahme nun doch einzuführen, aber mit einer „Erhöhung der Kaufkraft“ für die Lohn- und Gehaltsempfänger zu kombinieren. Am Montag dieser Woche legte dann der UMP-Abgeordnete Jérôme Chartier dem stellvertretenden Generalsekretär der Regierungspartei UMP, Patrick Devidjian (einem der rechten Arme Nicolas Sarkozys), diesbezüglich einen  Untersuchungsbericht vor. (Noch einer!)  

Angepeilt wird demzufolge insbesondere, dass die Konsumsteuer erhöht, aber zugleich die durch die abhängig Beschäftigten auf ihre Löhne und Gehälter bezahlten Sozialabgaben verringert werden sollen. Dies würde ihre Kaufkraft erhöhen, so dass sie die Mehrwertsteuererhöhung aufgrund dieses Ausgleichs verkraften könnten. Bislang war nur von einer Minderung der durch die Arbeitgeber abgeführten Sozialabgaben (deren Ausfall durch die erhöhte Mehrwertsteuer ersetzt werden sollte) die Rede gewesen. Nun sollen also auch die Sozialabgaben für die abhängig Beschäftigten parallel dazu reduziert werden. Das Ganze hiebe demnach (so die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’ in ihrer Ausgabe vom Dienstag Abend) dann nicht mehr ‚TVA sociale’ oder „soziale Mehrwertsteuer“ – sondern ‚TVA pouvoir d’achat’ oder „Kaufkraft-Mehrwertsteuer“.  

Das Ganze entspricht übrigens, im Kern, einem uralten Traum bzw. Steckenpferd der französischen Rechten in allen Schattierungen. So hatte der Front National (der damals noch eine kleinbürgerlich-wirtschaftsliberale Ausrichtung hatte, und erst später eine gewisse Sozialdemagogie in  sein Programm aufnahm) in den frühen 1980er die Theorie vom ‚salaire direct’ oder „direkten Lohn“ erhoben. Dahinter verbarg sich nichts Anderes als die Vorstellung, der einzige Weg, um die Kaufkraft der abhängig Beschäftigten anzuheben, liege darin, die lohn- und gehaltsbezogenen Sozialabgaben zu reduzieren bzw. (in der radikalen Variante) abzuschaffen. Dadurch werde der „direkte Lohn“, der den Lohn- und Gehaltsempfängern – so der Diskurs – auf gemeine Weise „vorenthalten“ werde (um nämlich die Sozialkassen zu finanzieren), diesen Leuten ausbezahlt. Dass dadurch die sozialen Sicherungssysteme ruiniert würden, spielte in dieser Argumentation keine Rolle bzw. wurde mit dem Argument konterkariert, wenn man den Einwandererfamilien künftig kein Geld mehr gebe und sie von allen Sozialleistungen ausschlösse, dann werde das Problem schon behoben sein. Parallel dazu machte sich auch die rechtsextreme Partei damals für eine (starke, doch nicht bezifferte) Anhebung der Mehrwertsteuer stark. In einer Softvariante macht sich nun die bürgerlich-konservative Rechte anscheinend daran, dieses uralte Vorhaben der französischen Rechten aller Couleur in die Tat umzusetzen.  

Dem oben zitierten Zeitungsbericht zufolge schlägt die Arbeitsgruppe um den Abgeordneten Jérôme Chartier konkret vor, Beitragssätze (zu den Sozialkassen) in Höhe von 10 Prozent oder – umgerechnet – die Summe von 60 Milliarden Euro von den lohn- und gehaltsbezogenen Sozialabgaben auf eine steuerliche Grundlage abzuwälzen. Konkret schlug die Parlamentariergruppe um Cartier vor, die Mehrwertsteuer von derzeit 19,6 auf 21 Prozent (was noch geradezu gemäbigt gegenüber anderen Vorschlägen aus dem UMP-Regierungslager wirkt, bei denen es um bis zu 5 Prozent Erhöhung geht...) heraufzusetzen und zudem noch ihre Bemessungsgrundlage zu erweitern. Dadurch soll der Staat 14 Milliarden Euro zusätzlich einnehmen. Ferner möchte der Untersuchungsbericht aber auch die CSG (‚la Contribution sociale généralisée’ oder den „Sonder-Sozialbeitrag“) spürbar erhöhen, um zusätzliche 15 Milliarden Euro einzukassieren. Die CSG ist, anders als ihr Name suggeriert, kein lohns- und gehaltsbezogener Sozialbeitrag. Es handelt sich vielmehr um eine Sondersteuer -- die nicht nur von Lohnabhängigen und Betrieben, sondern auch etwa von Rentner/inne/n und, jedenfalls ab einer bestimmten Einkommensgrenze für ihre Bezüge, auch von Arbeitslosen bezahlt wird.  Ferner soll, drittens, noch ein Promille-Betrag auf Unternehmesumsätze erhoben werden: Konkret soll die „Solidarabgabe“ in Höhe von 0,16 Prozent, die bisher bei Unternehmen mit mehr als 760.000 Euro jährlichem Umsatz erhoben wird, künftig von allen Unternehmen berappt werden. Was ihnen nicht sonderlich weh tun dürfte. 

Allerdings hätte auch diese Lösung ihre ganz offensichtlichen Nachteile. Erstens hätten Arbeitslose und Rentner/innen nichts von einer Senkung der lohn- und gehaltsbezogenen Sozialbeiträge, obwohl auch die von ihnen bezahlte Konsumsteuer (sowie die auf ihre Köpfe erhobene CSG) unmittelbar anwachsen würde. Vor allem Rentner/innen und Erwerbslose würden also zusätzlich geschröpft und abgezockt werden. Zum Zweiten droht auf diesem Wege eine noch weitere Austrocknung der Kassen des Sozialversicherungsystems. Denn in diesem Falle blieben ja die Einnahmen, die aus den Sozialbeiträgen sowohl der „Arbeitnehmer“ als auch der „Arbeitgeber“ geschöpft werden, auf doppelte Weise aus – und müssten durch die Mehreinnahmen aus der Konsumbesteuerung doppelt aufgefangen werden. Was vielleicht nur unzureichend gelingen würde. 

Aber eine solche Situation kommt vielleicht gerade richtig. Übt sich doch ein Teil des Regierungslagers zur Zeit darin, Panik zu schüren, um die brachiale Durchsetzung zusätzlicher „Reformen“ als bittere Notwendigkeit erscheinen zu lassen. Am Wochenende tobte die Auseinandersetzung um eine Äußerung von Premierminister Fillon, der behauptet hatte, Frankreich befinde sich „in einem Zustand des Bankrotts“. Doch am Montag legte der (noch?) amtierende Regierungschef nach und posaunte hinaus, der Staat sei – finanziell – in einer „kritischen Situation“. (Vgl. http://abonnes.lemonde.fr/) Diese Auslassungen erfolgen just parallel zur Debatte um das jährlich zu verabschiedende Gesetz zum Haushalt des Sozialversicherungssystems, und zur Veröffentlichung der aktuellen Zahlen au dessen „Defizit“. Eine weitere Austrocknung der Sozialkassen könnte also gerade recht kommen, um noch tiefere „strukturelle Einschnitte“ als unwendbar erscheinen zu lassen.  

Kündigungsschutz: Das Arbeitgeberlager radikalisiert seine Forderungen 

Den Kündigungsschutz betreffend, hatte Nicolas Sarkozy bereits im Vorjahr 2006 einen Vorschlag vorgebracht, den er im diesjährigen Wahlkampf erneuerte: Er forderte die Einführung eines „Einheits-Arbeitsvertrags“ (Contrat de travail unique). Dieser solle, nach einer Art von Punktesystem, den Lohnabhängigen umso mehr Kündigungsschutz gewähren, je länger sie bereits bei „ihrem“ Arbeitgeber beschäftigt sind. Zugleich solle durch ihn die bisherige Grenze zwischen „befristeten“ und „unbefristeten“ Arbeitsverhältnisse eingerissen werden. 

Dieser Vorschlag scheint im Augenblick aber wieder vom Tisch zu sein. Am 7. September fingen die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden zum Thema „Arbeitsmarkt und Arbeitsverträge“ an, bei denen es insbesondere um den Kündigungsschutz geht. Den „Impuls“ dazu, im Namen der Notwendigkeit des „Reformierens“, hatte das Regierungslager gegeben. Aber dort am Runden Tisch zeichnete sich ab, dass der „Einheitsvertrag“ weder durch die Gewerkschaften (ohnehin nicht), noch durch die Arbeitgeberverbände richtig gewollt wird. Die Kapital-Repräsentanten fürchten, dass sie den Spatz in der Hand für die Taube auf dem Dach aufgeben würden, indem sie sich auf die „Preisgabe“ des Instruments „befristeter Arbeitsvertrag“ einließen, um einen neuen Vertragstyp mit unsicheren Rechtsfolgen dafür zu bekommen. Ein gebranntes Kind scheut das Feuer: Die Arbeitgeber haben (aus ihrer Sicht) negative Erfahrungen mit dem Instrument des „Neueinstellungsvertrags“ CNE gesammelt, der im August 2005 eingeführt wurde und eine zweijährige Probezeit enthält, während derer Kündigungen ohne Angabe von Gründen ausgesprochen werden könnte. Doch die „ersehnte Rechtssicherheit“ trat daraufhin nicht ein. Denn die Arbeitsgerichte urteilten, sofern etwa der Verdacht auf grundsätzlich rechtswidrige Diskriminierungen vorliegen, könne den Lohnabhängigen eine juristische Kontrolle von Entlassungen nicht verwehrt werden. (Labournet berichtete ausführlich.) Der CNE ist inzwischen faktisch vom Tisch, da das Pariser Berufungsgericht im Juli 2007 urteilte, er sei faktisch mit internationalem Recht – mit den Konventionen der International Labour Organisation, ILO – nicht vereinbar. Aber die Lektion hat gesessen, und die Frustration über die erhoffte und nicht eingetretene „Rechtssicherheit“ in Gestalt der Legalisierung jeglicher Arbeitgeberwillkür hat sich tief eingebrannt. Nunmehr wollen die Arbeitgeber nicht einfach den befristeten Arbeitsvertrag „opfern“, sofern die Funktionsweise und Rechtsfolgen eines an seine Stelle tretenden neuen Instruments noch unklar sind. 

Seinerseits hat der Arbeitgeberverband MEDEF nun bei der Verhandlungsrunde am Freitag, den 14. September einen neuen Vorschlag, provokanter Art, präsentiert. Die Arbeitgeber wollen demnach lieber über einen ziemlich „klassischen“ Vorschlag diskutieren: Sie möchten (erstens!) eine Ausdehnung der bislang praktizierten Probezeiten. Bis zum jetzigen Zeitpunkt erlaubt das französische Recht, je nach Qualifikation, die Einfügung einer ein- bis sechsmonatige Probezeit in den Arbeitsvertrag. Nunmehr fordern die Arbeitgeber, diese Periode auf 6 bis 12 Monaten auszudehnen – mit der Begründung, dies sei ja immer noch erheblich weniger als beim „Neueinstellungsvertrag“ CNE und dem 2006 geplanten und infolge von Massenprotesten zurückgezogenen „Ersteinstellungsvertrag“ CPE (bis zu 24 Monate). Aber zum Zweiten fügt das Arbeitgeberlager noch einen weiteren Vorschlag hinzu: Nach dem Ende dieser Probezeit soll eine weitere Periode der Unsicherheit des Beschäftigungsverhältnisses beginnen, genannt „die wirtschaftliche Konsolidierungsphase“. Während ihrer Dauer soll das Unternehmen sich von dem/der abhängig Beschäftigten trennen können, sofern die Fortsetzung des Beschäftigungsverhältnisse sich als „wirtschaftlich nicht tragbar“ erweist. Damit enthielten die Arbeitsverträge faktisch eine doppelte Periode ohne Kündigungsschutz, oder mit erheblich abgeschwächtem Kündigungsschutz.  

Handelt es sich bei diesen provokatorischen Vorschlägen um Nebelkerzen, die geworfen werden, um andere Vorhaben besser zu verschleiern? Oder aber (was nicht unwahrscheinlich ist) die Grenzen des „Sagbaren“ und „Vertretbaren“ so weit hinauszuschieben, dass hinterher jegliche – regressive – Vereinbarung noch als „vergleichsweise harmlos“ durchgehen kann? Oder gar um eine Vorlage für das, was die Regierung dann später durchsetzen soll, falls bis zum Jahresende das Scheitern der Verhandlungen offenbar wird – für welchen Fall erklärtermaßen das Regierungslager selbst gesetzgeberisch aktiv werden will? 

Auf jeden Fall hat die Diskussion sich nunmehr rund um den Vorschlag des Arbeitgeberverbands MEDEF, der den Verhandlungspartnern in Form eines dreiseitigen Arbeitspapiers präsentiert worden, kristallisiert. Die Gewerkschaften sind sich demgegenüber derzeit in ihrer Ablehnung einig. Kurz vor Aufnahme der Verhandlungen hatte, Anfang September, der Generalsekretär von FO (Force Ouvrière, d.h. des drittgrößten französischen Gewerkschaftsbunds), Jean-Claude Maily, noch die „Offenheit“ seiner Organisation für das eventuelle Herumschrauben am Kündigungsschutz signalisiert. In einem Gespräch mit der Wirtschaftstageszeitung ‚Les Echos’ erklärte Mailly damals, sein Dachverband ließe über eine „Verkürzung“ und also Vereinfachung der Arbeitsgerichtsverfahren rund um Kündigungen mit sich reden. (Das aber würde faktisch höchstwahrscheinlich geringere Garantien implizieren, bzw. die Prozesse auf standardisierte Abfindungsformeln auf finanzieller Ebene hinauslaufen lassen.) Doch im Moment hat das Arbeitgeberlager die Ohren der mit ihm verhandelnden Gewerkschaftsführer mit seinen lautstark vorgetragenen Forderungen zugedröhnt. 

In seinen beiden großen Ansprachen zu sozial- und wirtschaftspolitischen Themen von voriger Woche (vgl. unten) sprach Nicolas Sarkozy sich dafür aus, neue Formen einer „freundschaftlichen Trennung“ (Rupture à l’amiable) im Falle eines Bruchs des Arbeitsverhältnisses zu finden. Daran zu denken wäre in dieser Hinsicht etwa, dass vorab festgelegte Abfindungsmodalitäten ausgehandelt werden und eine gerichtliche Kontrolle von Kündigungen folglich ausbleibt oder auf ein Minimum reduziert wird. Ob dies die Richtung vorgibt, in welcher der Hase letztlich laufen wird, oder aber nur eine weitere zusätzliche Möglichkeit zum „Reformieren“ anspricht, ist im Augenblick noch unklar. 

Arbeitslose: Kurzfristig mehr Geld, aber stärkerer Druck 

Vorige Woche hat Nicolas Sarkozy noch eine weitere „Reform“piste in den Vordergrund gerückt: In seiner Ansprache vom vergangenen Dienstag zum „neuen Gesellschaftsvertrag“ (siehe dazu unten mehr) sprach er davon, die bisher getrennten Organismen UNEDIF (Arbeitslosengeldkasse, durch die „Sozialpartner“ paritätisch verwaltet) und ANPE (Arbeitsagentur, staatlich) würden in Bälde miteinander fusioniert werden.  

Dabei wird die Stellung der Gewerkschaften, die bislang im Aufsichtsrat der Arbeitslosengeldkasse UNEDIC – von welcher die lokalen Zahlstellen, ASSEDIC, abhängen – sitzen und mit entscheiden, neu diskutiert werden müssen. Bislang halten die Gewerkschaften dort 50 Prozent der Sitze inne; aber die sozialdemokratisch-neoliberale CFDT „regiert“ die Kassenpolitik in einer langjährigen Koalition u.a. mit dem Arbeitgeberverband MEDEF. Sarkozy kündigte an, die Gewerkschaften könnten über die geplante Fusion hinaus auch weiterhin Einfluss auf die „großen Linien“ der Arbeitslosenpolitik nehmen. Damit versuchte er diesen Organisationen das Vorhaben schmackhaft zu machen. 

Im Umgang mit den Erwerbslosen selbst wird sich vor allem ändern, dass damit künftig die Zahlstelle einerseits und die Kontrollbehörde (die bei der Arbeitssuche behilflich zu sein hat, dabei aber zugleich mangelnde Initiative oder das Fortbleiben bei Vorladungen oder – nützlichen ebenso wie nutzlosen – „Fortbildungsterminen“ sanktionieren kann) andererseits zusammengeschlossen werden. Dies würde das Verhängen von Sanktionen erheblich erleichtern. Diese müssen bislang durch die staatliche Arbeitsagentur ANPE auf dem Kommunikationswege den Zahlungsstellen (ASSEDIC) übermittelt werden. 

Nicolas Sarkozy schlug vergangene Woche auch vor, künftig könnten die Arbeitslosen zwar (für kurze Zeit) höhere Bezüge erhalten, aber die Bezugsdauer solle gleichzeitig verringert werden. Auch im Wahlkampf hatte er bereits einen entsprechenden Vorschlag unterbreitet. Damit könnten die Erwerbslosen, oder ein Teil von ihnen, möglicherweise geködert werden – mit der Sicht auf eine bessere finanzielle Ausstattung sowie darauf, dass man sich verstärkt um sie „kümmern“ wird. Aber de facto würde dies auch gleichzeitig bedeuten, dass die Betroffenen noch schneller und energischer in Beschäftigungsverhältnisse, auch in unerwünschte und/oder mit schlechten Bedingungen ausgestatte, hinein gezwungen werden. Aber der zweiten  Ablehnung eines Jobangebots oder beim Ausschlagen eines Fortbildungsprogramms soll so das Messer angesetzt werden können, so Sarkozy.  

Gleichzeitig ist es auch Bestandteil des vergangene Woche zum Teil neu enthüllten Sozial- und Wirtschaftsprogramms von Sarkozy, dass „Betrüger“ beim Empfang von Sozialleistungen (Arbeitslosenkohle, Wohngeld, Familienunterstützung…) mit einem vollen Jahr, ja einer „mehrjährigen“ Sperre rechnen müssen. Dies erklärte er sowohl in seiner Rede im Senat vom Dienstag, als auch in seiner donnerstäglichen TV-Ansprache an die Nation.           

Die drei Reden Nicolas Sarkozys zum Sozial- und Wirtschaftsprogramm

Es ist ein Symbol: Seine erste Rede sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts, nach der Sommerpause 2007, hielt Präsident Nicolas Sarkozy am 30. August dieses Jahres anlässlich der „Sommeruniversität“ des Arbeitgeberverbands MEDEF in Jouy-en-Josas. Dabei tätigte der hyperaktive französische Präsident aber nicht so viele konkrete Ankündigungen, wie zum Teil von ihm erwartet war, sondern hielt eine eher allgemeine Rede mit viel Lobhudelei für die braven, produktiven, innovativen Unternehmer. Die Bewertungen klafften deshalb auseinander. Während die linksliberale ‚Libération’  daraufhin titelte: „Sarkozy zieht seine Show beim MEDEF mit drei Nichtigkeiten ab“, sah die KP-nahe Tageszeitung ‚L’Humanité’ hingegen „die antisoziale Kriegsmaschine“ am Werk. 

Die Wahrheit lag wohl irgendwo in der Mitte. Denn bereits das Symbol zählte: Es handelte sich um die erste Rede, die ein französischer Präsident vor dem Unternehmerverband in seiner eigenen Hochburg – anlässlich seiner Sommerakademie und in der „Höheren Handelsschule“ HEC – hielt. Ansonsten rollte Sarkozy zwar bei diesem Mal, am 30. August, keine Riesenliste mit konkreten Mabnahmen aus. Einzelne Ankündigungen gingen den versammelten Kapitalvertretern dennoch runter wie Honig: 

-Die Ladenöffnungszeiten sollten endlich auf den Sonntag ausgedehnt werden können. Er, Sarkozy, versteht nicht, warum „die Hälfte der Champs-Elysée als Touristenzone gilt (Anm.: d.h. die Läden eine Sondergenehmigung für sonntägliche Öffnung haben) und in der anderen Hälfte die Geschäfte geschlossen sind.“ 

- Sehr wichtig: die „Entkriminalisierung (wörtlich ‚depénalisation’, also Ent-Strafrechtlichung) des Handels- und Gesellschaftsrechts“. Das bedeutet, dass wegen eines Straftatbestands im Bereich der Wirtschaftskriminalität – etwa Korruption oder Bereicherung aus Gesellschaftsvermögens – keine empfindlichen (Freiheits-)Strafen mehr verhängt werden können sollen. Stattdessen soll es finanzielle Entschädigungen geben. Sarkozy betonte, er sehe nicht ein, warum „kleinere Fehler beim Betrieb eines Unternehmens einen mit einem Bein ins Gefängnis“ bringen könnten. Die progressive Richtergewerkschaft SM erwiderte daraufhin in einer Repblik, bei millionschweren Vergehen unter Einsatz wirtschaftlicher Macht gehe es eben nicht um eine paar kleine „Versehen“. Heute bereits ist das Risiko für einen US-amerikanischen Unternehmer, in seinem Lande aufgrund finanz- und wirtschaftspolitischer Delikte in den Knast zu gehen, höher als (bei gleichartigen Straftaten) in Frankreich. - Besonders „witzig“ ist diese Forderung nach „Entkiminalisierung“ freilich aus dem Munde eines Präsidenten, der ansonsten nun wirklich für das absolute Gegenteil steht. In der letzten Augustwoche, unmittelbar nach seiner Rückkehr aus seinem US-Urlaub, hatte Nicolas Sarkozy sich bspw. mit der halbwegs irren Forderung profiliert, auch Unzurechtsfähigen vor einem Strafprozess zu machen, „damit die Opfer sich erleichtert fühlen“. (FUSSNOTE 1[1])  

- Der Präsident sprach sich mit warmen Worten für die Idee eines „freundschaftlichen Bruchs“ (rupture à l’amiable) des Arbeitsvertrags aus, die von Arbeitgeberpräsidenten Laurence Parisot, der Chefin des MEDEF stammt. Dabei geht es darum, dass das Kündigungs(schutz)recht nicht mehr angewendet wird, wenn beide Parteien des Arbeitsvertrags sich im Vorfeld auf bestimmte Auflösungsmodalitäten geeinigt haben. Nur leider konnte Sarkozy keine konkrete Weichenstellung dazu verkünden, weil – u.a. auf Anregung der neuen Regierung hin – Arbeitgeber und Gewerkschaften seit dem 7. September über die Neufassung der Arbeitsmarktregeln und darunter des Kündigungsschutzes verhandeln.  

Die Rede zum „neuen Gesellschaftsvertrag“ vom Dienstag 

Am Dienstag, den 18. September nun kündigte Sarkozy, der seine Ansprache im Senat vor Mitgliedern einer Vereinigung auf Arbeits- und Sozialrecht spezialisierter JournalistInnen hielt, einen „neuen Gesellschaftsvertrag“ an. Dies sollte eine Geste an die Adresse der Gewerkschaften darstellen, die dabei zugleich in den Rang von „sozialen Hauptakteuren“ befördert wurden. Alles in allem wohl ein Zuckerl für die „andere Seite“, nachdem Nicolas Sarkozy drei Wochen zuvor mit dem Arbeitgeberverband herumgeschäkert hatte wie noch kein französisches Staatsoberhaupt vor ihm.   

Die Gewerkschaften sollen, Sarkozy zufolge, in künftige Gesetzgebungs- und Reformprozesse vorab eingebunden werden. Eine Ankündigung, die ein und für sich ein alter Hut ist – so sehr, dass der Arbeits- und Sozialminister seines Amtsvorgängers Jacques Chirac (ein gewisser François Fillon, heute Sarkozys Premierminister, der jedoch nicht aus dem Schatten des übermächtigen Präsidenten herauskommt und unter akuten Profilierungsschwierigkeiten leidet) sie im jahr 2004 bereits in einem Gesetz festschrieb. Seit dem Jahr 2000 hat nämlich die Rechte in Frankreich „sozialpartnerschaftliche“ Mechanismen für sich entdeckt . Aber nur, weil sie glaubt, auf diesem Wege beim Vorrücken auf vermintem Terrain – wo jederzeit die Bombe eines sozialen Konflikts hochgehen könnte – vorab Entschärfungsarbeit zu leisten. Die Gewerkschaften sollen dann im Idealfall die Minenräumer spielen... Aber das Besondere an Nicolas Sarkozy ist nun sein Verständnis von Einbindung der Gewerkschaften in Verhandlungen. Ein Verständnis, das da vom Sinn her ziemlich genau lautet: „Ich bestimme – Ihr habt 14 Tage Zeit, und wehe, wenn das Gewünschte nicht dabei herauskommt! Dann machen wir das Gesetz und hauen es Euch um die Ohren, bis Ihr Sternchen seht! Wegtreten!!“  

In der Tat hat Sarkozy nun das „heibe Eisen“, das bisherigen Regierungschef seit 1995 (nach den Erfahrungen des armen Premierministers Alain Juppé mit einem Flächenstreik der öffentlichen Dienste) als zu gefährlich um Umgang mit den Gewerkschaften galt, aufgegriffen und in die Hand genommen. Er hat am Dienstag angekündigt, die „Sonder-Rentenregelungen“ in öffentlichen Unternehmen wie der Bahngesellschaft SNCF oder bei den Energieversorgungsunternehmen EDF und GDF sollten „an das allgemeine Regime angepasst“, d.h. aufgehoben werden. (Vgl. dazu http://www.labournet.de/ ) Verhandlungen dazu, ja, die soll es geben: „14 Tage lang“ soll Arbeits- und Sozialminister Xavier Bertrand nun mit den Gewerkschaften über „die Grundsätze der Reform“ verhandeln. Dann sollen die Grundsätze feststehen, und es darf über die Details „(Staats-, Anm.)Unternehmen für Unternehmen“ weiterverhandelt werden. „Bis zum Jahresende“ soll die Reform stehen. Und falls nicht, dann wird die Regierung es den – günstigeren – Rentenregelungen in den betroffenen öffentlichen Diensten eben auf gesetzgeberischem Wege besorgen. Dann hätten die Gewerkschaften aber erst recht keinen Einfluss mehr auf die Vorgänge. 

Nicolas Sarkozy präzisierte dazu: „Ich werde offen sein, was die Mittel und die Methode betrifft, aber ich werde weder bezüglich der Methode noch der Prinzipien nachgeben.“  

Damit hat er den Gewerkschaften faktisch die Pistole auf die Brust gesetzt. Dennoch reagierten diese in der Anfangsphase völlig schlapp und lau, ebenso wie (was nicht verwundert) die sozialdemokratisch dominierte parlamentarische Opposition. Sowohl der Chef der französischen „Sozialisten“, François Hollande, als auch die Führung des französischen sozialdemokratisch-neoliberalen Gewerkschaftsbunds CFDT erklärten, das Hauptproblem sei „ein Problem der Methode“. Denn falls eine Reform der Renten in den öffentlichen Diensten – und das bedeutet in diesem Falle unzweideutig eine Abschaffung der historisch errungenen, günstigeren Regelungen in bestimmten Sektoren – „auf dem Wege des Dialoges“ durchgeführt werde, dann wäre sie richtig. Nur auf quasi-diktatorischem Wege verordnet, wie es Nicolas Sarkozy offenkundig vorschwebt, sei sie verwerflich. So erklärte CFDT-Generalsekretär François Chérèque am 10. September, falls Sarkozy und die Regierung mit Gewalt durchbrechen wollten, „dann riskieren sie einen gröberen Konflikt, (in dem Falle) auch mit der CFDT.“ Ansonsten gelte aber auch, dass die betroffenen Rentensysteme reformiert werden müssten, „weil sie sonst pleite sind“.  

Die CGT gab sich zwar etwas kämpferischer; so erklärte ihr Generalsekretär Bernard Thibault, falls Sarkozy sich auf Biegen und Brechen durchsetzen wolle, „dann wird es Sport geben (Anm.: d.h. heftig zugehen), und nicht nur aufgrund der Rugby-Weltmeisterschaft“, die in diesem September in Frankreich stattfindet. Aber auch hier legte man den Schwerpunkt auf die Methode und erklärte sich zu Verhandlungen bereit, allerdings nicht unter dem Druck der Regierung, sondern „(Staats-)Unternehmen für Unternehmen und Branche für Branche“. Real schickte sich die CGT allerdings bis vor kurzem nicht an, zu mobilisieren. Vielmehr hatte sie Furcht davor, ihre Basis in den Transportbetrieben (vor allem bei der SNCF) werde in gewissem Sinne mit ihr durchgehen, ohne dass der CGT-Apparat den Konflikt noch kanalisieren könne. Da in diesem Falle die öffentliche Meinung tatsächlich gegen die Gewerkschaften mobilisierbar zu sein scheint, falls sie als pure Verteidiger von „Besitzständen“ erscheinen – laut einer Umfrage für die vorletzte Sonntagsausgabe der Tageszeitung ‚Le Parisien’ sollen angeblich 68 Prozent der Französinnen und Franzosen „für die Reform der Sonder-Rentenregelungen“ sein, wobei solche Befragungen aufgrund der benutzten Formulierungen oft manipulativ ausfallen – geht auch die CGT hier wie auf rohen Eiern. Denn nachdem die Abwehrkämpfe gegen die Angriffe auf die Rentenregelungen (1993/1995, 2003) in anderen Sektoren verloren worden sind und nur noch die ‚Régimes spéciaux’ bestimmter Gruppen von öffentlich Bediensteten übrig bleiben, lässt sich leicht ein Sozialneid-Diskurs gegen Letztere mobilisieren. („Warum sollen die es besser haben, als wir Privatbeschäftigten?“) Dennoch liebe sich prinzipiell auch daran denken, die „Renten-Sonderregelungen“ - im Falle einer erfolgreichen Verteidigung - eher als Ausgangsbasis für eine Rückeroberung verlorener sozialer Rechte anderswo zu benutzen. Also für eine Umkehrung des globalen Kräfteverhältnisses „zwischen den Klassen“ (was freilich kein Zuckerschlecken wäre). Aber die CGT verbaut sich selbst diese Möglichkeit, da sie allzu defensiv auftritt, um diesen Gedanken ernsthaft fassen zu können. Aus vergleichbaren Gründen hatte der CGT-Apparat bereits in den Tagen vom 13. bis 15. Mai 2003 den spontan ausbrechenden Streik der Transportarbeiter ihres Gewerkschaftsbundes abgewürgt. Man glaubte dadurch, sich nicht vom Rest der öffentlichen Meinung beim damaligen Streik gegen die Verschlechterung der allgemeinen Renten zu isolieren. In Wirklichkeit wurde dabei jedoch eine kämpferische Bewegung, die sich auf einen erfolgreichen Streik mit Paralysierung des Transportwesens hätte stützen könne, im Keim erstickt. Die Auseinandersetzung ging für die CGT insgesamt auch so verloren. Aber die Chancen, dass es vielleicht hätte anders kommen können, hatte sie selbst aktiv verbaut.  

Einzig die linken Basisgewerschaften des Zusammenschlusses „Solidaires“, wie die dazu gehörige Bahngewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr), waren von Anfang an auf einer kompromisslosen Linie der Verteidigung des historisch Erungenen – durchaus nicht, um Privilegien zu wahren, sondern um nach erfolgreichem Abwehrkampf über gesamtgesellschaftliche Sozialstandards zu diskutieren. 

 Aber seitdem Sarkozys zweite Rede von dieser Woche, die mittwöchliche Ansprache von Nantes, noch weit mehr Öl ins Feuer gekippt hat, könnten nun auch (insbesondere) Teile der CGT aufwachen und ein bisschen mehr Mut für eine eventuelle Kraftprobe fassen. 

Aber zuvor noch die Frage: Und was kündigte Nicolas Sarkozy in seiner Rede zum „neuen Gesellschaftsvertrag“ sonst noch an? Dieses zum Beispiel: Kollektive Arbeitszeitregelungen sollen (auch nach der starken Lockerung des Überstundenregimes durch das Gesetz, das am 1. August verabschiedet wurde – Labournet berichtete) völlig durch individuelle Abreden zwischen Lohnabhängigem und Arbeitgeber abgelöst werden können. Das bedeutet, dass es gar keine Überstundenbegrenzung mehr gibt, sofern der/die abhängige Beschäftigte – der/die selbstverständlich nicht auf einer Stufe mit dem Arbeitgeber steht, sondern in einem Machtgefälle zu ihm – einer anderen Arbeitszeitregelung als der vom Kollektivvertrag vorgesehenen zustimmt. – „Betrüger beim Empfang von Sozialleistungen“ sollen eine Sperre von der Dauer eines vollen Jahres erhalten. Die durch die „Sozialpartner“ verwaltete Arbeitslosenkass UNEDIC und das staatliche Arbeitsamit ANPE sollen fusioniert werden. Der gesetzliche Mindestlohn SMIC, der bisher jährlich am 1. Juli durch die Regierung angehoben werden MUSS (so sieht es das Arbeitsgesetzbuch vor), soll politischen Druckmöglichkeiten teilweise entzogen werden, indem eine „unabhängige (Experten-)Kommission“ die Entscheidung der Regierung über die Höhe der jährlichen Anpassung vorwegnimmt. Und die über über 55jährigen sollen zwar nicht meh systematisch aus den Betrieben hinausgedrängt werden – hier spricht der Staat als ideeller Gesamtkapitalist ein Machtwort gegenüber den Interessen der Einzelkapitalisten. Aber sie sollen, vor diesem Hintergrund, auch nicht länger, wenn sie Erwerbslose sind, von der Pflicht zur (nachweisbaren) Jobsuche entbunden sein. 

Sarkozys zweite Ansprache in Nantes 

Am Mittwoch (19. September) hielt Nicolas Sarkozy zusätzlich eine Präsidentenrede im westfranzösischen Nantes. Darin kündigte er eine „Kulturrevolution“ für die öffentlichen Dienste (das bedeutet den Staats-, Kommunal- sowie Krankenhaus-Dienst) an. 

In deren Mittelpunkt steht eine totale Individualisierung der Gehaltsfindungsmechanismen. Bislang wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst nach den (unpersönlichen) Mechanismen bürokratischer Organisationen bestimmt. Das ist zwar nicht das Optimum unter dem Gesichtspunkt der Idee von Selbstverwaltung, die sich im Kern sowohl gegen kapitalistische Marktmechanismen als auch gegen staatsbürokratische Organisationsformen richtet. Gleichwohl war es im Konkreten ein Schutz gegen die Auslieferung an Marktmechanismen, und dieser Schutz machte oftmals gewerkschaftliche Betätigung (die im französischen Privatgewerbe heute wesentlich erschwert ist, aufgrund der permanenten Erpressung mit dem „drohenden Verlust der Arbeitsplätze“) und Selbstinitiative erst möglich bzw. erleichterte sie erheblich. Zudem droht bei den Gehaltsfestlegungsmechanismen im öffentlichen Dienst niemand als „Leistungsschwacher“ durch den Rost zu fallen. Diese Aufhebung sozialdarwinistischer Züge der „freien Marktwirtschaft“ ist heutzutage schon viel wert. 

Nicolas Sarkozy möchte dem nun ein Ende setzen. Zunächst möchte er den öffentlichen Dienst so stark ausdünnen wie nur irgend möglich. Nicht nur, dass jeder zweite altersbedingte Abgang nicht ersetzt werden soll (wie er es bereits vor der Wahl angekündigt, und seitdem mehrfach wiederholt hat) - um die eingesparten Gehaltssummen zum Teil den verbleibenden Beschäftigten in Form einer Erhöhung von Gehältern oder Prämien zukommen zu lassen. Hinzu kommen soll jedoch noch zusätzlich einen Anreiz zum Austritt aus dem öffentlichen Dienst, die Nicolas Sarkozy von einer Praxis im öffentlichen Dienst im (neoliberalen) Kanada der 1990er abgeschaut hat: Wer dem öffentlichen Dienst den Rucken kehrt oder sich anderswohin versetzen lässt, soll ein „Abgangs-Guthaben“ mitnehmen dürfen. 

Diese Ankündigung, zusammen mit der Ankündigung der Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge (und, auf Dauer explizit angekündigt, des Verschwindens des spezifischen Status im öffentlichen Dienst), der individuellen Aushandlung von Lohn und Gehalt und der bestätigten Nichtersetzung altersbedingter Abgänge hat das Fass nun zum Überlaufen gebracht.  

Aus diesem Grunde treffen sich nun die im öffentlichen Dienst vertretenen Gewerkschaften an diesem Freitag beim Dachverband linker Basisgewerkschaften „Solidaires“. Am Vorabend traten die Gewerkschaften beim Pariser Bus- und Métrolinien-Betreiber RATP zusammen. Gleichzeitig bestätigte sich, dass im Oktober ein Ausstand der Eisenbahner/innen stattfindet. Dieser wurde lediglich vom 17. auf den 18. Oktober verschoben, weil am erstgenannten Datum auch der „Weltaktionstag gegen Armut“ stattfindet, zu dem mehrere Initiativen mobilisieren – und dies nicht gestört werden sollte. 

Was bei all dem herauskommt, bleibt abzuwarten. In der Hoffnung, dass es nicht bei empörten Ankündigungen bleibt...

Fussnote:

 [1] ANMERKUNG: Voraus ging eine spektakuläre Tat, die es erlaubt hatte, die Emotionen der Öffentlichkeit aufzuwählen: Ein offenkundig geistesgestörter Pädophiler, der nach 18jähriger Haft in Nordfrankreich auf freien Fub kam, vergewaltigte nach kurzer Zeit in Freiheit einen kleinen Jungen namens Enis. (Dessen Vater wurde kurz darauf bei Sarkozy empfangen.) Dabei hatte es offenkundig eine schwere Panne gegeben, denn aus unerfindlichen Gründen hatte der Gefängnisarzt in der Haftanstalt in der Normandie dem Pädophilen Viagra verschrieben – ein Medikament, welches nun mal bekanntlich nicht zur Heilung von Halsschmerzen dient. Insofern handelt es sich um einen schweren Fehler, dessen Veranwortliche zur Rede zu stellen sind. Nicolas Sarkozy nützte dieses Drama aber, um einer emotional aufgewühlten Öffentlichkeit neue autoritär-populistische Forderungen zu verkünden: Auch Unzurechnungsfähigkeiten müsse der Prozess gemacht werden. Er verstehe nicht, „warum jemand zu 27 Jahren Haft verurteilt wird und nach 18 Jahren freikommt“ (wie in diesem Falle), womit er sämtliche Regelungen zu vorzeitiger Haftentlassung etc. mit einem Handstreich abräumt. Zudem möchte Sarkozy nach dem fertigen Absitzen der Haftstrafe Zwangseinweisungen in geschlossene Krankenhäuser vornehmen, was mit rechtsstaatlichen Minimalstandards kaum vereinbar sein dürfte. Die neueste Entwicklung aus der vergangenen Woche lautet, dass nun auch chemische Zwangskastrationen vorgesehen werden sollen (vgl. Tageszeitung ‚Métro’ vom Donnerstag).

        

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 27.9.07 vom Autor zur Veröffentlichung.