Marokko nach den Parlamentswahlen und vor der Regierungsbeteiligung
Die Bäume der (moderaten) Islamisten wuchsen nicht in den Himmel. Monarchie und Konservative Partei gestärkt

von  Bernard Schmid

09/07

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Am 19. September hat der marokkanische Monarch Mohammed VI. den künftigen Regierungschef des Königreichs ernannt: Der 67jährige Berufspolitiker Abbas el-Fassi wird das nächste Kabinett anführen. Er ist ein uralter Bekannter in bourgeois-konservativen Politikerkreisen Marokkos. Denn Abbas el-Fassi, der sowohl der Neffe als auch der Schwiegersohn des Gründers der konservativ-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) namens Allal el-Fassi war, besetzte schon 1962 erstmals einen hohen Funktionärsposten in der Partei. Seit 1977 gehörte er diversen Regierungen des Landes an. So war er nacheinander Städtebau-, Wohnungsbauminister, Minister „für das Handwerk und soziale Angelegenheiten“, Minister für Arbeit, Beschäftigung und Berufsausbildung, und zwischendurch auch Botschafter Marokkos u.a. in Tunesien, bei der Arabischen Liga sowie (von 1990 bis 94) in Paris. Seit Februar 1998 hat Abbas al-Fassi das Amt des Generalsekretärs der Istiqlal-Partei inne. Da der Herr auch in einige Korruptionsskandale verwickelt ist, erstaunte seine Ernennung manche Beobachter – die eher mit der Wahl eines (sozusagen „unbelasteten“) jüngeren Technokraten aus den Reihen der Istiqlal-Partei gerechnet hätten - denn doch. Die auf Afrikathemen spezialisierte französische Zeitschrift ‚Jeune Afrique’ übertitelt ihre Ausgabe vom 23. September denn auch mit seinem Konterfei und der Frage: ‚Pourquoi lui?’ (Warum er?) Die Ernennung eines Repräsentanten der Istiqlal-Partei – so schreibt das Blatt - sei zwar nach deren jüngstem Wahlsieg logisch. Aber Abbas el-Fassi sei nun wirklich kein Symbol für politische „Erneuerung“. 

Statt der vor den Wahlen vom 7. September vielfach erwarteten Regierungsbildung unter Anführung der „moderaten Islamisten“ ist nunmehr mit einem Kabinett zu rechnen, aus dem die „moderat islamistische“ Partei PJD ausgeschlossen bleiben wird. Abbas el-Fassi hatte jedenfalls im Vorfeld versprochen, diese Partei bei der Koalitionsbildung nicht zu berücksichtigen. Um diesen Plan auszuführen, müsste es ihm allerdings gelingen, zum bisherigen Regierungsbündnis hinzu noch weitere kleinere, bürgerliche Parteien als Koalitionspartner zu gewinnen. Noch ist unsicher, wie dieser Versuch ausgehen wird.

Unerwarteter Wahlausgang: Rohrkrepierer PJD 

Und erstens kam es anders, und zweitens als man dachte: Die allgemein erwartete „Überraschung“ blieb aus. Nahezu alle internationalen Beobachter und Kommentatoren hatten im Vorfeld der Parlamentswahlen in Marokko, die am Freitag, den 7. September 2007 stattfanden, sozusagen mit türkischen Verhältnissen gerechnet. Also mit einem deutlichen Wahlsieg der „moderaten Islamisten“, die als regierungsfähig statt als staatsgefährdend gelten und die bürgerlich-demokratischen Spielregeln sowie den Wirtschaftsliberalismus akzeptieren. Ihrer politischen Formation, dem PJD (Parti de la justice et du développement), also der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“, wurden rund 80 Parlamentssitze von insgesamt 325 vorhergesagt. Die Partei selbst (http://www.pjd.ma/ ) hatte sich 70 Sitze zum Ziel gesetzt. Auf dieses Szenario war so gut wie die gesamte in- und ausländische Presse eingestellt. Doch dann kam die – wirkliche – Überraschung, die aber tatsächlich anders ausfiel, als vielfach angenommen worden war. 

Der PJD gewann zwar 5 Sitze hinzu und liegt nunmehr bei 47 Mandaten, hat aber sein Wahlziel erkennbar verfehlt und wird ferner „nur“ zweitstärkste Partei. Berücksichtigung finden muss auch, dass diese Partei (die im Jahr 1999 aus dem Zusammenschluss zweier Vorläuferformationen hervorging) bei den letzten Parlamentswahlen vom 27. September 2002 auf einem Teil des Staatsgebiets nicht angetreten war. Sie hatte damals im Namen einer „Strategie der Selbstbeschränkung“ auf eine flächendeckende Präsenz verzichtet –- um nicht zu sprungartig anzuwachsen und dadurch einen Konflikt mit dem Establishment auszulösen. Damals relativiert sich auch der jetzt verzeichnete Stimmenzuwachs noch zusätzlich. Denn dieses Mal waren PJD-Kandidaten überall angetreten. 2002 hatte die Partei nur in 60 Prozent der Wahlkreise eigene Bewerber aufgeboten. Freilich täuschte die Partei dabei zugleich – indirekt – eine gröbere Stärke vor, als sie wirklich besab: Obwohl sie vor fünf Jahren demonstrativ auf einen Teil der Wahlbezirke „verzichtete“ und nur in 56 von insgesamt 91 Kreisen Kandidaten aufbot, konzentrierte sie damals zugleich alle ihre Anstrengungen auf jene Bezirke, in denen die PJD-Kandidaten die besten Chancen hatten, die Mehrheit zu erringen. Besonders intensiv beackerte sie das Terran in den städtischen Armutsquartieren in Casablanca, Fès, Rabat und Tanger der Fall. Auf dem Lande hingegen hatte der PJD, der (wie andere Kräfte des politischen Islam auch) in den Städten stärker ist als in Dörfern, von vornherein geringere Chancen. Insofern täuschte der PJD möglicherweise schon 2002 über seine tatsächliche Stärke hinweg, da er weitaus geringere Reserven und unausgeschöpfte Stimmreserven aufwies, als seine damalige Abwesenheit aus 40 Prozent der Wahlkreise oberflächlich vermuten lieb

Allerdings hat die marokkanische Wahlrechtsreform, die zu einer Überrepräsentation der ländlichen und einer Überrepräsentation der städtischen Wahlkreise führt, ihrerseits dafür gesorgt, dass sich die für den PJD abgegebenen Stimmen in unterdurchschnittlichem Mabe in Sitzen niederschlugen. Denn, wie oben erwähnt, auf dem Lande ist der PJD schwächer als in städtischen Bezirken. Der Stimmenanteil des PJD an der Gesamtwählerschaft beträgt rund 11 Prozent, gegenüber rund 10 Prozent für den Wahlsieger Istiqlal. 

Bürgerliche Parteien  

Die mit Abstand stärkste Partei wird nunmehr, mit 52 Sitzen in einem politisch ziemlich aufgesplitterten Parlament, die konservative und bürgerlich-nationalistische Partei Istiqlal. Ihr Name bedeutet „Unabhängigkeit“ auf Hocharabisch. Istiqlal (http://www.pjd.ma/ ) ist die älteste politische Partei in Marokko und entstand im November 1943 bzw. offiziell im Januar 1944. Sie trat ursprünglich für die nationale Unabhängigkeit von der Protektoratsmacht Frankreich ein, die im Jahr 1956 erreicht wurde. Später wurde sie zur konservativen Kraft, die vor allem die Interessen der Bourgeoisie in den städtischen Zentren (insbesondere jener von Fès) repräsentiert und sich ferner auf klientelistische Netzwerke stützt. Bereits in der autoritär-repressiven Ära unter dem früheren Monarchen Hassan II., der 1999 verstarb, hatte Istiqlal mehrere Premierminister gestellt – die, neben Korruption, vor allem durch ihre Inkompetenz auffielen. Die Istiqlal-Partei ist auch Mitglied in der Internationale christdemokratischer und konservativ-liberaler Parteien, die 1961 unter dem Namen Christlich-demokratische Weltunion gegründet wurde und seit 1999 offiziell „Demokratische zentristische Internationale“ heibt – ihr gehören etwa auch die deutsche CDU und die französische Regierungspartei UMP an. 

Die grobe Verliererin des Urnengangs ist die sozialdemokratisch ausgerichtete „Sozialistische Union der Volkskräfte“ USFP, die seit zehn Jahren – ebenso wie Istiqlal – der Regierung angehört. Von bisher 50 Sitzen und dem Status als stärkste Partei fiel sie auf nur noch 36 Mandate und ist jetzt zur fünfstärksten Kraft herabgesunken. Während die konservativen Wahlsieger angeben, die Koalitionsregierung mit der USFP sowie der exkommunistischen „Partei für Sozialismus und Fortschritt“ (PPS, 17 Sitze) fortsetzen zu wollen, beginnt bei den marokkanischen Sozialdemokraten nunmehr eine Debatte über einen möglichen Gang in die Opposition.  

Ähnliche Debatten wird es auch in den Reihen des PJD geben, bevor am 5. Oktober 2007 –- am nächsten Freitag -- das marokkanische Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammentritt und die Frage politische Bündnisse aufgeworfen werden wird. Dessen Führung zeigte sich vor der Wahl bisher zuversichtlich, was die Übernahme von Regierungsämtern – darunter auch des Postens des Premierministers – betreffen würde. Hingegen opponierte ein nicht unbedeutender Flügel innerhalb des PJD gegen eine Beteiligung an der Regierung, wo die Partei sich nur abnutzen werde, ohne wirklichen Einfluss auf die Gestaltung des Lebens der Marokkaner zu haben, da die wirkliche Macht beim Monarchen konzentriert ist. Laut Artikel 19 der Verfassung steht der marokkanische König „über allen Gewalten“, und der PJD möchte daran in seiner groben Mehrheit auch nicht explizit rütteln.  

Nunmehr werden die innerparteilichen Widerstände möglicherweise den Eintritt in eine Regierungskoalition, die nicht vom PJD angeführt werden wird, verhindern – im Zusammenspiel mit der Abneigung des neuen Premierministers gegen eine Einbindung der Partei. Das Nähere wird sich in den kommenden Wochen, bis zur Eröffnungssitzung des neuen Parlaments, erweisen müssen. Teile der konservativen Istiqlal-Partei dürfte jedoch ihrerseits die Fühler in Richtung PJD ausstrecken, da ihre Gemeinsamkeiten mit dieser Formation im Grunde stärker ausfallen können als jene mit den marokkanischen Sozialdemokraten. Am Wochenende nach der Wahl hat die Istiqlal-Führung allerdings versichert, sie wolle das seit 1992 betehende –- damals in der Opposition unter dem seinerzeit noch absolutistisch regierenden Monarchen Hassan II. abgeschlossene –- Bündnis mit Sozialdemokraten und Exkommunisten unter dem Namen ‚la Koutla’ fortsetzen. (Die Istiqlal und die damaligen marokkanischen Kommunisten hatten vormals in der Unabhängigkeitsbewegung unter dem französischen Protektorat zusammengearbeitet. Und heute bleibt bei der postkommunistischen Partei PPS ohnehin nicht mehr viel von marxistischer Radikalität, die sich als „störend“ erweisen könnte, übrig.) 

Innerhalb von 48 Stunden nach der Wahl erhob der PJD unterdessen Vorwürfe von „Stimmenkauf“ und Manipulationen an den Wahlergebnissen, die es den anderen, etablierten Parteien erlaubt hätten, seinen Einfluss zu mindern. Marokkanische und internationale Beobachter wollten hingegen keine Wahlmanipulationen erkennen bzw. sprachen allenfalls von „einzelnen, isolierten Vorfällen“ in einzelnen Wahlbüros (etwa Stimmenkäufen). 3.000 Wahlbeobachter, unter ihnen 50 ausländische aus insgesamt 19 Ländern, hatten den Urnengang verfolgt. 

Unterklassen demotiviert 

Verantwortlich dafür, dass sowohl die „moderaten Islamisten“ als auch die Sozialdemokraten Federn lieben – im Falle des PJD jedenfalls gemessen an den Prognosen und an den eigenen Erwartungen --, so dürfte dies vor allem daran liegen, dass die Angehörigen der sozialen Unterklassen gar nicht erst zur Wahl gingen. Denn ihre Stimmen hätten sich wohl in hohem Mabe auf den PJD und die marokkanische Sozialdemokratie verteilt. Davon profitiert rein rechnerisch die Istiqlal, ebenso wie kleinere bürgerliche Formationen und (berberische) Regionalparteien: Sie alle sehen ihren prozentualen Anteil an den abgegebenen Stimmen ansteigen. Aber deren Anzahl insgesamt ist zugleich spürbar zurückgegangen. Im September 2002 gingen noch 52 Prozent der Wahlberechtigten zur Urne; dieses Mal waren es nur noch 37 Prozent der 15,5 Millionen potenziellen Wählerinnen und Wähler. Und von den abgegebenen Stimmen waren fast ein Fünftel (19 %) ungültig, was ebenfalls auf den Unmut oder die Illusionslosigkeit der Wähler/innen hindeuten dürfte.

Es handelte sich um eine Verhältniswahl auf Ebene der Wahlkreise, wobei zusätzlich zu den 295 so vergebenen Sitzen weitere 30 Mandate für eine landesweite Frauenliste reserviert waren. Auf der Frauenliste entscheidet der höchste Stimmenanteil, wer von den Kandidatinnen der unterschiedlichen Parteien ins Parlament einzieht. Auf diese Weise sollte weiblichen Bewerberinnen eine Mindestrepräsentation im neuen Parlament garantiert werden. Dort sitzen nunmehr Vertreterinnen und Vertreter von nicht weniger als 24 politischen Kräften und Parteien, von denen jedoch nur insgesamt sieben eine zweistellige Anzahl an Sitzen aufweisen. 

Insbesondere in den städtischen Ballungsräumen machte sich die Unlust zur Stimmabgabe bemerkbar. In einer Reportage der ältesten Tageszeitung Marokkos – ‚Le Matin du Sahara’ aus der Wirtschaftsmetropole Casablanca -, die dem Königshaus sehr nahe steht, wird vom Wahlkampf berichtet, dass immer mehr befragte Bürger nicht einmal den Wahltermin gewusst hätten. Anders als 2002 habe das Herannahen des Urnengangs auch nicht die Diskussionen in den Cafés, auf deren Terrassen in diesem Jahr kaum aufgeschlagene Zeitungsseiten von einem irgendwie gearteten Interesse daran kündeten, oder im priva     ten Alltag geprägt. „Diese Leute da sehen wir nur alle fünf Jahre, sie drücken Hände und machen Versprechungen, und danach sind sie weg, man sieht sie höchstens noch im Fernsehen“ heibt es über die Abgeordneten unisono in allen möglichen Berichten. 

Nach einer anfänglichen Euphorie infolge des Antritts des neuen Monarchen Mohammed VI., der im Juli 1999 seinen verstorbenen Vater Hassan II. ersetzte, haben sich die Hoffnungen auf Verbesserungen des eigenen Lebens bei den meisten Marokkanern inzwischen zerschlagen. Zumindest kurzfristig sehen sie in der Regel eher Stagnation und ein Fortdauern der gesellschaftlichen Probleme. Zwar kannte Marokko im Jahr 2005 ein fünfprozentiges Wirtschaftswachstum und 2006 – aufgrund einer guten Ernte – gar eine Wachstumsrate von 8 Prozent. Ihre Früchte bleiben aber extrem ungleich verteilt. Auf dem Land bleiben Unterentwicklung und Analphabetismus verbreitete Erscheinungen. In den Städten herrscht vor allem in den Slums bzw. Bidonvilles („Kanisterstädten“) eine greifbare Misere. In der Wirtschaftsmetropole Casablanca mit rund fünf Millionen Einwohnern leben über eine halbe Million von ihnen in solchen Elendsvierteln, von denen es allein im Ballungsraum Casablanca 450 gibt – in der Regel ohne Strom, ohne fliebendes Wasser, Kanalisation und ohne Hausnummern. Zwar kann eine aufstrebende städtische Mittelschicht von Ingenieuren, Informatikern und Angehörigen ähnlicher Berufe relativ gut leben, und ein Teil der universitär gebildeten Jugend erhält während ihres Studiums dank der Anstellung in Call Centers einen für Landesverhältnisse überdurschnittlichen Lohn – für eine unangenehme und einem strengen Zeitrythmus unterworfene Tätigkeit. Bei der sie oft ihre wahre Identität verschleiern müssen, um den anrufenden Kunden  vorzugaukeln, sie befänden sich in Frankreich und nicht im Ausland, da viele französische Firmen ihre Anrufzentralen zwecks Senkung der Lohnkosten nach Marokko oder Tunesien verlegt haben. Aber viele Jobs, auch in den Städten, bleiben miserabel bezahlt. Der marokkanische gesetzliche Mindestlohn beträgt umgerechnet 180 Euro für eine Arbeitswoche von, offiziell, 44 Stunden.

Sind die Islamisten gescheitert ?

Eine Zeit lang sah es so aus, als könne es Kräften des politischen Islam gelingen, die sozialen und politischen Frustrationen in Marokko erfolgreich auf ihre Mühlen zu lenken. Die Erfolge des PJD, der erstmals bei den Wahlen vom September 2002 zu einer bedeutenden Kraft heranwuchs, schien dafür ebenso ein Anzeichen zu sein wie die wiederholten Anschläge und Selbstmordattentate junger marokkanischer Djihadisten. In Erinnerung bleiben das verheerende Bombenattentat auf eine Synagoge in Casablanca am 16. Mai 2003, aber auch die Serie von Scharmützeln zwischen – verhinderten – Selbstmordattentätern und der Polizei im März 2007 in Casablanca und zuletzt die versuchten Anschläge auf Touristen im Sommer dieses Jahres. Am 30. Juli dieses Jahres zündete in Meknès ein junger Ingenieur, Hicham Dokhli, an einem 30. Geburtstag einen Sprengsatz, den er bei sich trug, in wenigen Metern Entfernung von einem Touristenbus. Verletzt wurde allerdings allein er selbst.

Diese Erscheinungen sind allerdings höchst unterschiedliche politische Phänomene, und die jeweiligen Akteure stehen in keinem Zusammenhang zueinander, auch wenn sie alle sich auf eine gesellschaftliche Interpretation des Qoran oder des – angeblichen - göttlichen Willens berufen. 

Nicht nur, dass islamistische Bewegungen in der Realität ein durchaus unterschiedliches Profil haben – von eher konservativ-institutionellen Kräften wie der türkischen Regierungspartei AKP über pseudo-sozialrevolutionäre Bewegungen bis hin zu Gruppen wie den (Ende 2004 definitiv zerschlagenen) algerischen GIA, die nackten faschistischen Terror praktizieren. Das islamistische Projekt selbst ist janusköpfig und vereinbart zwei Grundcharakte. Es ist eindeutig konservativ bis reaktionär, was die Rechte der Frauen, die „Moral“ im gesellschaftlichen Zusammenleben, die Familienstrukturen und die Rechte der Einzelnen betrifft. Gleichzeitig versteht der radikale Islamismus sich selbst als Ausdruck einer Revolte gegen eine ungerechte Weltordnung und eine Dominanz des Nordens. Dabei ist letztere nicht herbei halluziniert, sondern sehr real, wird aber von den Islamisten statt auf wirtschaftlichem – weshalb sie auch nicht etwa Kapitalismuskritiker oder Antiimperialisten sind – vielmehr auf kulturellem und „moralischem“ Gebiet verortet. Die Interpretation etwa von Veränderungen im familiären Zusammenleben wird als Folge einer „kulturellen Aggression“ interpretiert, was dadurch scheinbar einleuchtend wird, dass augenscheinliche Unterschiede auf diesem Feld gegenüber den Gesellschaften des Nordens konstatiert werden können. 

Die strategische Antwort von Islamisten darauf kann nun unterschiedlich ausfallen, von relativ behutsamen Versuchen der Überzeugung zwecks „Remoralisierung“ der Gesellschaft bis zu brutaler Gewalt und Strafdrohungen. Jene Varianten des politischen Islam, die den Aspekt der subjektiv durchaus ernst gemeinten Revolte in den Vordergrund stellen, schaffen es oft, den sozialen Sprengstoff in von Elend und Unterentwicklung geprägten Gesellschaften aufzugreifen. Dadurch gelingt ihnen der Sprung zu Massenbewegungen, sie sind aber in diesem Falle für die bestehenden Regime und ihre Staatsapparate – vorläufig - nur schwer einzubinden. Dagegen versuchen sich die Regime ihrerseits den strukturell konservativen bis reaktionären Charakter, der im Islamismus  ebenfalls klar angelegt ist, zunutze zu machen. Zumindest einige Strömungen können sie so einbinden und dazu nutzen, autoritäre Regime mit neuer Legitimation nur noch autoritäter zu machen, statt sie zu progressiven Forderungen hin öffnen zu müssen. 

Im marokkanischen Falle drifteten diese unterschiedlichen Erscheinungsformen islamistischer Politik weit auseinander. Auf der einen Seite verfolgte der PJD eine Politik, die immer stärker auf Eingliederung in das bestehende Gesellschaftssystem und seine Institutionen abzielte - diese freilich mit einem Appell an die „gute Moral“ verknüpfte. Letztere sollte, im Unterschied zu den bisherigen Praktiken von Behörden und Politikern, einen vermeintlichen Schutz gegen Korruptionspraktiken und damit gegen „unnütze Verschwendung von Geldern“ gewähren und als Garantie für Transparenz und Ehrlichkeit dienen. Ferner spricht der PJD, oder sprechen seine Anhänger, sich für die Annullierung oder das Verbot „unmoralischer“ Konzernte und Kulturfestivals und ähnliche Dinge aus. So wurden das weltberühmte Musikfestival Gnaoua (oder Gnawa) in der marokkanischen Stadt Essaouira oder die Wahlen zur „Miss Maroc“ zu Zielscheiben seiner Kritik[1]. Anfänglich erhielt der PJD mit diesem Profil sowohl Stimmen aus konservativen und subjektiv nach „Schutz“ verlangenden, prekär bleibenden Mittelschichten und des traditionellen Bürgertums, andererseits aber auch die Stimmen eines Teils der Verelendeten.  

Gleichzeitig verfügt der PJD auch faktisch über eine „eigene“, nicht bedeutungslose, Gewerkschaft unter dem Namen UNMT (Union nationale des travailleurs marocains), die den „herkömmlichen“ Gewerkschaften wie der CDT – die politisch von einer kleineren Linkspartei dominiert wird – Konkurrenz zu machen versucht. Obwohl ein politisch-religiöses Netzwerk wie die „Bewegung Vereinigung und Reform“ - MUR - zur Konstitution einer Massenbasis für den PJD wichtiger ist als Gewerkschafter (und seien sie „bärtig“!), können doch auch Letztere zur Verbreiterung seines Einflusses beitragen[2]. In der Praxis organisiert die UNMT anscheinend vor allem Berufsgruppen wie Bankangestellte und Lehrer, die in der marokkanischen Gesellschaft eher zur Mittelschicht zählen[3]. Als „Massenorganisation der Arbeiter“ lässt sie sich demnach schwerlich bezeichnen.  

Dagegen wuchs und wächst auf der anderen Seite des Spektrums die Ungeduld von jungen Männern, die ihre Frustration über die Schwierigkeiten sexueller Triebbefriedigung – in einer zum Gutteil konservativ und bigott strukturierten Gesellschaft – mit wachsender innerer Spannung bei den Berichten über die Situation im Iraq oder in Palästina verknüpfen. Letztere erscheinen als Brennglas, in dem die Ungerechtigkeiten auf der Welt besonders greifbar werden, und werden von militanten Gruppen als vermeintliche Fronten in einem Glaubenskrieg präsentiert[4]. Immer wieder werden auch kleine Gruppen junger marokkanischer Männer für Reisen in den Iraq rekrutiert. Oft kommen auch noch Erfahrungen Gleichaltriger bei ihren Versuchen, in das vermeintliche Eldorado in Europa auszuwandern – Versuche, die entweder scheitern oder zu einem Dasein als schlecht bezahlte, „illegale“ Underdogs am Rande der Gesellschaft führen – erschwerend hinzu. Diese Quellen tief sitzender Frustration werden von einem bestimmten Gruppen ebenfalls mit einem „identitär“ besetzten Diskurs aufgeladen, indem behauptet wird: „Wir werden nicht respektiert, weil wir Muslime und Araber sind und man unsere Religion, unsere Kultur herabsetzen möchte.“ Deshalb beschränkt sich die Empfänglichkeit für eine Radikalisierung, die sich oft innerhalb kurzer Zeiträume beschleunigen kann, auch nicht auf materiell verelendete junge Marokkaner: Der Urheber des gescheiterten Attentats auf einen Touristenbus vom 30. Juli 2007 war ein Ingenieur, verheiratet und lebte von seinem materiellen Lebensstandard her nicht am unteren Rand der Gesellschaft.

Versuchsfeld Meknès

Heute scheint die Unterstützung für den PJD sich stärker auf eine sozial konservative, aus den Mittelschichten stammende und in städtischen Zentren wohnende Klientel zu reduzieren. An den Stadträndern und unter den sozial frustrierten Bewohnern der Ballungsräume hingegen scheint die Unterstützung zu sinken. Auch daraus resultiert wohl der relative Rückfluss bei den Wahlen, der sich jedenfalls konstatieren lässt, wenn man berücksichtigt, dass die Partei unter Führung des 50jährigen Arztes und Psychiaters Said Eddine al-Othmani 2007 – anders als 2002 – erstmals flächendeckend mit Kandidaten auftrat.

Mèknes mit je, nach Angaben, 550.000 bis 750.000 Einwohnern war bisher die gröbte marokkanische Stadt, die durch die „moderaten Islamisten“ regiert wurde. Seit September 2003 und den Kommunalwahlen, die ein Jahr nach den letzten marokkanischen Parlamentswahlen folgten, hatte der PJD – mit einem Fünftel der Stimmen - 14 von 55 Sitzen im Stadtrat inne. Damit konnte er im Rathaus regieren, aber nicht ohne Bündnisse mit anderen Parteien einzugehen. Bürgermeister wurde der Unternehmer und Grundbesitzer Aboubaker Belkora. Der Mann, der schon vor den jüngsten Parlamentswahlen seine Absicht äuberte, sich in absehbarer Zeit aus der Politik zurückzuziehen und ins Berufslbeben zurückzukehren, gilt als betont moderat und entspricht keineswegs dem Bild des Fanatikers. So portraiert ihn die liberale Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’: „Er hat nichts vom bärtigen Islamisten in Sandalen und Gandoura. Mit seinem beigen Hemd und seiner gut geschnittenen Hose entspricht Aboubaker Belkora keinem dieser Klischees. Seine Frau, elegant, modern und heiter, trägt kein Kopftuch. Ihr ältester Sohn studierte in Lyon, der zweite in den USA, der dritte an der Amerikanischen Universität (im marokkanischen) Ifrane. Der jüngste Sohn kam soeben auf das Französische Gymnasium in Meknès.“

In der „Test“stadt Meknès hat der PJD tatsächlich eine ausgesprochen gemäbigte Politik durchgeführt. Alkoholkonsum wurde beispielsweise nicht verboten, was durchschlagende Auswirkungen gehabt hätte, da Mèknes just die Hauptstadt des marokkanischen Weinanbaus ist. In der Stadt residiert der 80jährige Kellereibesitzer Brahim Zniber, der mit jährlich 28 Millionen Flaschen rund 85 Prozent des marokkanischen Markts abdeckt. Fast die gesamte Produktion ist für den inländischen Bedarf bestimmt – obwohl die Gesetzgebung, die nicht vom (bisher oppositionellen) PJD, sondern von den Institutionen der Monarchie stammt, theoretisch den Alkoholkonsum in ganz Marokko verbietet und unter Strafe stellt. Auch der PJD hat zwar erklärt, er finde das Trinken seitens von Marokkanern nicht gut, werde es aber nicht verbieten. Allein schon wegen der Tourismusinteressen wäre dies schädlich, und ansonsten sollten die Leute selbst ihre moralische Entscheidung treffen. Der Präsident des Kellereiverbands, der oben zitierte Brahim Znider, sagt über den seit 2003 amtierenden PDj-Bürgermeister, er betrachte ihn „als Freund“ und sei über seinen Amtsantritt „nicht beängstigt“ gewesen. Auch die Frauen bewegen sich, ob mit oder ohne Kopftuch, in Meknès frei auf der Strabe und in Cafés.

 Wo die Bilanz hingegen für den PJD schmerzhaft ausfällt, ist im Bereich der Entwicklungs- und Bauprojekte und der Verbesserung des Alltagslebens. Mèknes war bisher eine vom marokkanischen Zentralstaat vernachlässigte Stadt, während ihre Nachbarin und alte Rivalin Fès sich weit besser entwickelte. Und dies ging auf eine bewusste Entscheidung zurück: Dereinst hatte der autokratisch regierende Vorgänger des jetzigen Monarchen, König Hassan II., in Meknès Tomatenwürfe abbekommen. Deshalb entschied er, die Bewohner der Stadt könnten zukünftig in den Mond gucken. In jüngster Zeit hat sich das Bild jedoch gewandelt: Eine internationale Landwirtschaftsmesse wurde eingerechnet, ein Musikfestival wurde gegründet, Bauprojekte sowie Reparatur- und Begrünungsmabnahmen wurden lanciert, Unternehmen der Nahrungsmittelindustrie lieben sich in Mèknes – das im Zentrum einer fruchtbaren Agrarregion liegt – nieder. Aber diese Initiativen gehen, in den Augen der örtlichen Bevölkerung, nicht auf den PJD und die Rathausregierung zurück. Diese hatten nämlich seit 2003 zunächst in der Richtung nicht viel unternommen – mangels Geld, „weil wir keine Subventionen bekamen und weil die Bürokratie uns Knüppel zwischen die Beine warf“, wie die Partei sich verteidigt. Trotz dieser Rechtfertigungsversuche kam ihr konkretes Wirken nicht sonderlich gut an. Besonders, nachdem die Stadt Meknès infolge der Pleite der örtlichen Verkehsbetriebe ein volles Jahr lang ohne öffentliche Transportmittel blieb. Das Ausbleiben des Busverkehrs sowie der ortsüblichen „Minibusse“ wirkte sich doch ziemlich einschneidend auf das Alltagsleben der Einwohner aus. König Mohammed VI. begab sich persönlich nach Meknès, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen. 

Aber im Juni 2005 wurde ein neuer Präfekt vom Monarchen ernannt, und es war nicht „irgendwer“, sondern der Jugendfreund von König Mohammed VI. und frühere Sprecher des Palasts, Hassan Aourid. Der als kompetent geltende Technokrat krempelte in kurzer Zeit die Stadt um und lancierte eine Reihe von Projekten. Die Botschaft kam an, die Einwohner vernahmen folgende Message: „Der Bürgermeister hat es nicht geschafft, aber der König und der Präfekt haben uns aus der Stagnation heraus geholt.“ Dadurch wurde dem PJD erfolgreich die Show gestohlen. Und das sicherlich vor allem bei den Teilen der Stadtbevölkerung, die sich besonders abgekoppelt fühl(t)en. Zugleich gibt auch der Chef des Regionalverbands der CGEM, des marokkanischen Arbeitgeberverbands, Jaouad Chami, gegenüber der französischen Zeitung ‚Libération’ an: „Am Anfang haben wir ihnen (den PJD-Stadtoberen) die Hand gereicht. Aber hinter dem Bürgermeister steht so gut wie niemand, der Format hätte. Das grobe Problem dieser Rathausmannschaft ist nicht ihre Ideologie, sondern ihre Inkompetenz.“ Soweit der Standpunkt der führenden Wirtschaftsinteressen in der Region.

Wie die USA (bestimmte) Islamisten lieben lernten

Die Monarchie will de PJD sicherlich nicht ersticken. Vielmehr spricht der Monarch sich für die Existenz einer islamistischen Partei aus, die den ansonsten abdriftenden und sich radikalisierenden Strömungen einen Ausdruck innerhalb des offiziellen politischen Rahmens verleitet. Gleichzeitig möchte der König sich aber auch nicht die Initiative entreiben lassen, gar die Kontrolle über die Bewegung verlieren. Deshalb grub er ihr in Mèknes tendenziell das Wasser ab.

Nicht nur die marokkanische Monarchie, auch internationale Grobmächte haben eine positive Rolle des PJD aus ihrer Sicht entdeckt. Dies gilt insbesonder auch für die US-Administration, die den PJD und ähnliche Strömunge in arabischen Ländern – bis hin zu Mitgliedsorganisationen der Internationalen der Muslimbrüderschaft – als mögliche wirksame „Dämme“ gegen das Erstarken djihadistischer Strömungen und von Gruppierungen im Umfeld von Al-Qaïda betrachtet. Sei es, dass US-amerikanische Politiker in der von Parteien wie der türkischen AKP praktizierten Mischung aus religiöser Frömmigkeit und Wirtschaftsliberalismus ihre eigene Konzeption wiedererkennen. Oder sei es auch nur, dass sie der Auffassung sind, dass wir „Freunde unter unseren Feinden“ benötigen - also Strömungen, die aufgrund ihres eher konservativen Profils oder ihrer „Strategie der Selbstbeschränkung“ dazu beitragen, den derzeitigen internaionalen Hauptfeind in Gestalt der Djihadisten zu isolieren.

 Der US-Botschafter in Marokko begab sich beispielsweise schon kurz nach der Wahl des PJD-Bürgermeisters persönlich nach Mèknes und lud ihn zu einem Besuch in den Vereinigten Staaten ein. Belkora lehnte freilich höflich ab, „wegen des Krieges im Irak“. Auch berichtete die britische Journalistin Wendy Kristianasen in der Augustnummer von ‚Le Monde diplomatique’: „Ende 2005 lieb das den US- Republikanern nahestehende Internationale Republikanische Institut (IRI) in Marokko anonyme Umfragen durchführen. Sie ergaben einen überwältigenden Wählerzuspruch von 47 Prozent für den PJD .... Als diese sensationellen Zahlen im März 2006 in der (marokkanischen) Zeitschrift ‚Le Journal hebdomadaire’ publiziert wurden, warnte die gesamte Presse Marokkos vor der ‚islamistischen Bedrohung’ made in USA. Zu dem Zeitpunkt befand sich der Generalsekretär der Partei, Said Eddine al-Othmani, zufällig in Washington. Dann wurde auch noch entdeckt, dass das IRI den Besuch einer Delegation der islamistischen türkischen Regierungspartei AKP beim PJD finanziert hatte...“

Türkisches Vorbild 

Die türkische AKP ist übrigens tatsächlich nicht nur eine befreundete Partei, sondern enger Bündnispartner und erklärtes Vorbild für den marokkanischen PJD. Beide Parteien haben denselben Namen, „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (türkisch: Adalet ve Kalkinma Partisi ). Beide haben ein doch sehr ähnliches Parteisymbol: Wo die türkische Partei auf ihren Plakaten und Abzeichen die Umgebung mit einer Glühbirne erleuchtet, da setzt die marokkanische auf die Öllampe und wählte eine Petroleumfunzel zum Parteisymbol. In beiden Fällen soll diese Symbolik das Streben nach Aufklärung von Korruptionsfällen, nach Transparenz und „Moral in der Politik“ illustrieren. Soweit jedenfalls der selbstgesteckte ideologische Anspruch.  

Dass die türkische AKP, die 2002 noch 34 Prozent und im Juli dieses Jahres gar fast 47 Prozent der Wählerstimmen erhält, daher im Moment eine wesentlich breitete gesellschaftliche Basis aufweist als der PJD in Marokko, liegt besonders auch an der wirtschaftlichen Entwicklung der Türkei: Deren Exportindustrie boomt wie noch selten. Ein starkes Wirtschaftswachstum findet gerade in zentralanatolischen Städten wie Kayseri statt und stützt sich auf eine moralisch konservativen Mittelstand bzw. eine ländliche Bourgeoisie, die bislang von den Zentren der politischen und ökonomischen Republik ausgegrenzt blieb und deshalb der kemalistischen Staatsideologie ihr Bekenntnis zum Islam entgegensetzt. Zudem erlaubt ihre puritanische Züge tragende Ideologie es ihr, geschäftlichen Erfolg mit einem „Moral“anspruch zu verbinden und die Arbeitsproduktivität zu erhöhen. In Marokko gibt es hingegen derzeit kein vergleichbares Boomphänomen; ferner kann der Bezug zum Islam auch nicht so stark wie in der Türkei – mit ihrer kemalistischen Staatsideologie, die zum Teil wie eine konkurrierende Religion auftrat – als ideologische Untermauerung einer Ablösung bisheriger Eliten gelten, da auch die marokkanische Monarchie sich stark über den Islam legitimiert. Der König trägt so traditionell den Titel des „Befehlshabers der Gläubigen“ (Emir al-Mouammin), und angeblich soll die seit 400 Jahren bestehende Alawiten-Dynastie auf direkte Nachfahren des Propheten Mohammed zurückgehen. In jeder Adminstration gibt es Gebetsräume und das Recht auf Unterbrechung der Arbeit zu den Gebetszeiten, und der Islam firmiert in der Verfassung explizit als Staatsreligion.           

Scheitern eines Modells? 

Aus all diesen Gründen muss man sich fragen, ob das „Modell“ des marokkanischen PJD nicht inzwischen an seine Grenzen gestoben ist. Die nähere Zukunft wird erweisen müssen, ob die Partei später erneut eine Ausstrahlung auf unterschiedliche soziale Schichten – über ihre Kernklientel hinaus – entwickeln kann. Und ob es ihr gelingt, das Abdriften radikalisierter junger Anhänger der Ideen des politischen Islam in der Djihadismus zu verhindern. Letzteres hängt natürlich auch mit der Ungeduld jener aktivistischen Elemente, die von den etablierten islamistischen Parteien und Bewegungen nicht mehr integriert werden können, zusammen.  

Kräfte wie der PJD repräsentieren darüber hinaus vor allem das sozial konservative Antlitz des politischen Islam - also den Ansatz, dass eine erfolgreiche „Bewahrung der Sitten, der Moral und der kulturellen Identität“ der Gesellschaften, in denen sie wirken, auf Dauer die Lösung der sozialen Probleme verspreche, da „Korruption und Laster“ verschwänden und so keine Gelder mehr verschwendet würden. Aber die sozialen Benachteiligungs- und Frustrationsgefühle können sie damit oft nicht unmittelbar ansprechen. Die Anhänger der aggressiven Variante des politischen Islam, deren Anhängern der Umsturz des Etablierten als „gottlose Ordnung“ versprochen wird, können sich mit einem solchen Vorgehen jedoch auf Dauer nicht abfinden.  

Zwischen beiden Varianten des politischen Islam steht in Marokko allerdings noch eine dritte, starke aber „stumme“ Kraft: die Vereinigung des greisen „Scheikhs“ Abdessalam Yassine, die ‚Djamaa Al-Adl wa Al-Ihsane’ (ungefähr: „Gruppe Gerechtigkeit und gute Taten“). Diese gewaltlose Gruppierung, deren Anhänger auch kurz „Adlisten“ genannt werden, ist in Wirklichkeit eine doppelköpfige Bewegung. Auf der einen Seite tritt sie wie eine normale politische Partei, die Reformen und darunter die Beseitigung der Monarchie – die der PJD seinersiets ausdrücklich nicht antasten möchte – verspricht. Andererseits findet sich innerhalb der Al-Adl-Bewegung auch ein harter Kern, der mindestens ebenso stark mystisch wie politisch motiviert ist. Seine Anhänger werden in ein striktes Programm der Alltagsgestaltung gedrängt, mit der Verpflichtung zum Aufstehen eine Stunde vor Sonnenaufgang – um besondere Gebete zu verrichten -, zum Fasten an zwei Tagen in der Woche und ähnlichen Vorschriften. Das mag sich wie eine religiöse Gehirnwäsche auf die Anhänger auswirken, allerdings steht kein gewalttätiger Aktivismus auf dem Programm. Zwischen den Mystikern und den „Politikern“ finden sich noch Anhänger einer „Wiedererrichtung des Kalifats“ in der Bewegung, ohne dass eine Strategie zur Umsetzung dieser Idee erkennbar wäre.  

Al-Adl wirkt vielmehr, mit insgesamt an die 100.000 geschätzten Mitgliedern, wie ein kopfloser Riese, der nicht richtig weib, wohin mit seiner Kraft. Der greise „Scheikh“ Yassine (nicht zu verwechseln mit seinem durch die israelische Armee getöteten palästinensischen Namensvetter) gibt sich unterdessen den Träumen hin, die ihm durch exzessives Fasten und ähnliche Züge eines aufreibenden Lebensstils eingeflöbt werden. Im vergangenen Jahr soll der 79jährige so einen Traum besonders hoher symbolischer Bedeutung gehabt haben. In diesem Traum sah er die spanische Armee, die Marokko erobert hatte, woraufhin die bestehende alawitische Monarchie zusammenbrach. Abdessalam Yassine führte in dem Traum eine Armee marokkanischer Aufständischer an, die schlussendlich siegreich war und „das Kalifat wieder herstellte“. Das Problem ist jedoch, dass dieses Ereignis (Yassines Vision zufolge) ohne Zweifel bereits im Jahr 2006 hätte stattfinden sollen. Und dieses ist nun inzwischen vorüber... 

Die marokkanischen Behörden, so berichtete jedenfalls die französische Zeitschrift für Afrikathemen Jeune Afrique vom 18. März 2007, betrachteten die (wie alle die Monarchie nicht befürwortende Kräfte) nicht zugelassene, wohl aber – nach offiziellem Sprachgebrauch –  „tolerierte“ Bewegung inzwischen ihrerseits als „besten Schutzwall gegen die dijhadistischen Gruppen“. Denn aufgrund des starken sozialen Integrationsdrucks dieser Bewegung auf ihre Anhänger fänden kaum Übergange zu anderen Gruppen statt, etwa solchen, die den bewaffneten Kampf aufnehmen möchten.  

Al-Adl rief bei den Parlamentswahlen vergangener Woche zum Wahlboykott auf. Auch wenn viele Beobachter sich fragten, ob es nicht doch unter der Hand mögliche Wahlempfehlungen für den PJD gebe. Gleichzeitig versuchten die Behörden der Monarchie, die Bewegung zu diskreditieren, indem man sie in die Nähe dijhadistischer Durchknaller rückte: Drei Tage nach dem Attentatsversuch vom 30. Juli in Meknès wurde die Nachricht verbreitet, dessen schwer verletzter Urheber sei Mitglied oder ehemaliges Mitglied der Al Adl-Bewegung. Dies wurde jedoch durch die Stadtverwaltung von Meknès, die ansonsten kein gutes Verhältnis zu der – aus Sicht des PJD konkurrierenden – Bewegung unterhält, ausdrücklich dementiert. Während Al-Adl selbst nur angab, unter den Mitgliedern ihrer Bewegung sei der 30jährige nicht aufgeführt, für die Vergangenheit könne man jedoch keine Angaben machen, da man über keine Unterlagen über ausgetretene Anhänger verfüge. 

Eine offene Frage bleibt, ob der politische Islam in Marokko doch noch gröbere Erfolge erzielen könnte als zur Zeit, wenn er seine Spaltungslinien überwindet, oder wenn andere Kräfte aus diesem Spektrum neben dem PJD ebenfalls legal zu Wahlen antreten könnten.   

Stärkung der Monarchie 

Unstrittig dürfte unterdessen sein, dass aufgrund des aufbleibenden Aufwinds für die (in Parteiform auftretenden) Islamisten sowie der nunmehr zentrale Stellung der konservativ-klientelistischen Partei Istiqlal auch eine Stärkung der Strukturen der Monarchie erfolgt sein dürfte. 

Im Vorfeld dieser Wahlen hatten diese bereits deutlich ihren Kontrollwunsch signalisiert, indem – vor allem seit Anfang August dieses Jahres – mehrere Attacken gegen die in den letzten paar Jahren weitgehend respektierte Pressefreiheit unternommen wurden. Am 6. August wurde ein Strafverfahren gegen Ahmed Benchemsi, den 33jährigen Herausgeber der beiden Wochenmagazine ‚Tel Quel’ (französischsprachig) und ‚Nischan’ (in arabischer Sprache) mit einer Auflagenhöhe von je 20.000 Exemplaren eröffnet - aufgrund seiner „Versäumnis des Respekts, welcher der Person des Königs geschuldet ist“. In den vorausgehenden Tagen, am 4. und 5. August, waren die beiden Wochenzeitschriften beschlagnahmt und Benchemsi 20 Stunden lang durch die Polizei vernommen worden. Vorgeworfen wurde ihm, in einem Leitartikel die Thronrede des jungen Königs Mohammed VI. vom 30. Juli kritisiert zu haben. Der junge Herausgeber hatte den Demokratiemangel in Marokko und das zu starke Machtmonopol des Monarchen kritisiert, ohne diesem gegenüber „bösartig“ zu werden. Dabei wandte Benchemsi sich eher in der Pose des wohlmeinden Ratschlaggebers an den König. Doch Letzterer wurde dadurch, unter den Augen der Leser/innen, durch Benchemsi quasi als einer von Seinesgleichen behandelt. Unter Anspielung an einen berühmten Songtitel aus den 1970er Jahren hatte Benchemnsi seinen Artikel wie folgt überschrieben: „Wohin führst Du uns, mein Bruder?“ Zudem hatte er ihn in Dialektarabisch (statt der üblichen Schriftsprache, Hocharabisch) abgefasst, sich also dem König gegenüber relativ direkt und „wie ihm der Schnabel gewachen ist“ ausgedrückt. Nicht so sehr der Inhalt, sondern vor allem die Form seines Artikels sorgten im königlichen Palast für Empörung.  

Deshalb soll dem Herausgeber der beiden prestigereichen Wochenmagazine nun wegen Majestätsbeleidigung an den Karren gefahren werden; als Höchststrafe drohen ihm (im Extremfall) bis zu fünf Jahren Haft. Der Auftakt des Prozesses gegen ihn fand am 24. August in Casablanca statt. Die Fortführung des Gerichtsverfahrens wurde inzwischen jedoch auf den 7. November vertagt. 

An demselben 6. August, an dem das Verfahren gegen Benchemsi eingeleitet wurde, blieb das Wochenmagazin ‚Journal hebdomadaire’ für mehrere Stunden im Druck angehalten - so dass dessen Herausgeber Ali Ammar die Staatsmacht beschuldigte, „die gesamte Produktionskette der unabhängigen Presse in Schrecken versetzen zu wollen“. 

Am darauffolgenden Tag, dem 7. August, wurden dann in Rabat acht marokkanische Militärs verurteilt. Ihnen wurde vorgeworfen, vertrauliche Dokumente an zwei Journalisten des arabischsprachigen Wochenmagazins ‚Al Watan al-An’ (ungefähr: „Die Nation  heute“, von al-watan = Nation, Heimat und al-an = jetzt) weitergegeben zu haben. Ein Militärgericht verhängte Haftstrafen zwischen sechs Monaten und fünf Jahren über sie. Die höchste Strafe erhielt der Hauptmann Maaji, der die Weitergabe von Dokumenten eingeräumt hatte. Im Hintergrund steht die Veröffentlichung einer Story, die am 14. Juli dieses Jahres unter dem Titel „Die Berichte, die hinter dem Alarmzustand im Königreich stehen“ in dem Wochenmagazin mit 20.000 Auflage abgedruckt worden war. Unter Berufung auf z.T. interne Armeedokumente versuchten die Journalisten darin, das wirkliche Ausmab der Terrorismusgefahr in Marokko abzuschätzen. 

Deswegen wurde der Autor des Dossiers, Mustapha Hormatallah, schon am 17. Juli – also drei Tage später - in Haft gesteckt. Gegen ihn und den Herausgeber, Abderrahim Ariri, wurde zugleich ein Prozess wegen Geheimnisverrat und Landesgefährdung vorbereitet. Am Tag der Urteilsverkündung, dem 15. August, verdonnerte das (erstinstanzliche) Strafgericht von Casablanca den Verfasser, Mustapha Hormatallah, dann zu acht Monaten Haft OHNE Bewährung. Es war zum ersten Mal seit Ablauf von vier Jahren, dass in Marokko ein Journalist zu einer Haftstrafe ohne Aussetzung auf Bewährung verurteilt wurde (zuletzt Ali Lmrabet im Jahr 2003, er lebt inzwischen in Spanien). Herausgeber Aberrahim Hariri erhielt seinerseits sechs Monate Haft zur Bewährung ausgesetzt. Beide sollten zudem eine Geldstrafe in Höhe von jeweils 1.000 Dirhams (umgerechnet 90 Euro) bezahlen. Allerdings wurde Mustapha Hormatallah, nachdem er insgesamt 55 Tage in einer Zelle zusammen mit 70 Mithäftlingen – ohne Zugang zu Fernsehen oder Zeitungen – verbracht hatte, am 11. September vorläufig aus der Haft entlassen[5]. Am 18. September dann reduzierte ein Berufungsgericht in zweiter Instanz die Freiheitsstrafen um je einen Monat: Hormatallah erhielt also in zweiter Instanz sieben Monate Haft (statt acht) ohne Bewährung, der Herausgeber – Hariri – seinerseits fünf Monate (statt sechs) mit Bewährung aufgebrummt. Die Geldstrafe in Höhe von je 1.000 Dirham wurde aufrecht erhalten. Mustapha Hormatallah wird ert einmal auf freiem Fub bleiben, so lange, bis der marokkanische Kassationshof (d.h. Oberste Gerichtshof) in dritter und letztzer Instanz über das Urteil befunden hat. Sollte der jedoch den Schuldspruch und das Strafmab beibehalten, dann könnte der Journalist nochmals in Haft wandern. 

Die letzten Wochen und Monate waren von unverkennbaren Signalen an die Presse geprägt, die vom Königshaus ausgingen und ein „Stopp jetzt! Keinen Schritt weiter!“ übermitteln sollten. Bislang war es -- seit Anfang dieses Jahrzehnts, und einer Kraftprobe zwischen der Monarchie und der Presse in 2000 -- üblich geworden, davon auszugehen, dass es noch drei bis vier „rote Linien“ geben, die nicht überschritten werden dürften: Keine offene Kritik an der Stellung des Königs, keine Kritik an der marokkanischen Präsenz in der Sahara (also an der „terrtorialen Integrität des Landes“), keine unmittelbar gegen die Religion gerichteten Artikel. Ansonsten schien aber die bleiern-repressive Atmosphäre der Ära Hassan II. (mit 26 Strafdelikten für die Presse im damaligen Gesetzbuch) vorüber zu sein. Auch über die im Staatsapparat weitverbreitete Korruption durfte nunmehr berichtet werden, auch wenn den Journalisten niemals völlig klar wurde, wie weit sie prinzipiell gehen durte – konkret änderten sich die Auffasungen darüber, ab wann es für die Monarchie „als solche“ um die Wurst gehe, immer wieder. Über politische Entscheidungen konnte aber grundsätzlich offen diskutiert werden.

Das Stoppsignal, das seit August erfolgte (und die Vereinigung „Reporter ohne Grenzen“, RSF, Alarmrufe ausstoben lieb), ist wohl auf eine Entscheidung der Monarchie zurückzuführen, die Zügel nicht aus der Hand gleiten zu sehen. Und diese ist auch im Zusammenhang mit dem – damals noch nicht unterbrochenen – Aufstieg des PJD zu sehen. „Das Königshaus möchte zeigen, dass sie den Islamisten nicht das Feld überlässt und dass dem PJD nicht das Monopol bei der ‚Moralisierung des öffentlichen Lebens’“ – also in diesem Falle bei Verbots- und Zensurforderungen gegen unliebsame, „subversive“ Inhalte – „zukommt“. Mit diesen Worten zitiert die Pariser Abendzeitung ‚Le Monde’, die am 10. August einen Artikel unter dem Titel „Die marokkanischen Machthaber lancieren eine Offensive gegen die Presse“ vröffentlichte, die Hochschullehrerin Khadija Mohsen-Finan. 

Zu einem Wettlauf „zu zweit“ zwischen der Monarchie und dem PJD scheint es nun ja nicht zu kommen, und der Letztgenannte scheint von den konservativen pro-monarchistischen Kräften im Rennen abgehängt worden zu sein. Bleibt abzuwarten, ob dadurch die Monarchie freiheitsfreundlicher oder demokratischer wird. Von alleine, ohne den Druck gesellschaftlicher Bewegungen, wohl nicht.

Anmerkungen

[2] Vgl. http://www.lagazettedumaroc.com/articles.php?r=2&sr=830&n=540&id_artl=14409  (Artikel aus ‚La Gazette du Maroc’ vom 1. September 2007).

[4] Auch der moderate PJD und die nicht zugelassene, aber „tolerierte“ Vereinigung Al-Adl wa-al Ihsane (vgl. dazu ausführlich unten) führen regelmäbg Solidaritätskampagnen „für das iraqische und das palästinensische Volk“ durch, allerdings ohne die Komponente des militanten, aktiven Djihadismus. Auf anderer Grundlage (nicht jener der religiösen Glaubensgemeinschaft, sondern auf entweder säkular-nationalistischer oder politisch-antiimperialistischer Basis) führen allerdings auch säkular-nationalistische oder linke Strömungen Kamapagnen zur Solidarität mit den Einwohnern dieser Länder durch.

 

Editorische Anmerkungen

Den Artikel erhielten wir am 26.9.07 vom Autor zur Veröffentlichung.