Wir bekämpfen alles, was dem verachteten
System seinen Fortbestand und seine Legitimation sichern
hilft: die bürgerlichen Gesetze, die bürgerliche Moral, das
Eigentum, die. Staatsmedien, die Justiz, die Polizei, die
Gefängnisse, die Vorherrschaft der Männer, die Tagespolitik
des Berliner Senats die Außen- und
Innenpolitik und vor allem die Banken^
Wir sind ungeheuer radikal, militant und erkennen mit
wachsendem Entsetzen und Abscheu den Gang der Dinge unter
der Herrschaft des Geldes.
Wir nehmen alles grundernst, was wir tun. Es
ist wichtig. Ich bin wichtig. Wir sind wichtig. Jeder
Steinwurf in die Glasfronten der Bankhäuser verbindet uns mit
den Revolutionären in der ganzen Welt, mit dem Vietcong im
Dschungel, mit dem ermordeten Che Guevara, mit den Tupamaros
in Uruguay, mit den kämpfenden afrikanischen Revolutionären in
Angola, Mosambik, Guinea-Bissau, Namibia und Südafrika, mit
den großen Schlachten der
Arbeiterbewegung, die in den Straßen Berlins
geführt wurden. Wir sind stolz, wir haben keine Angst, wir
sind dem System entschlüpft, wir wissen Bescheid.
Ich bin viel mit Verena unterwegs. Sie erzählt
mir, wie sie beim Sprühen einer Parole festgenommen wurde:
«Nieder mit...», weiter war sie nicht
gekommen. Eine ganze Nacht lang drangsalierte der Staatsschutz
sie mit seiner Neugier, was sie habe sprühen wollen. Verena
schwieg. Am Morgen sie rausgelassen, denn aus «Nieder mit»
ließ sich kein Politischer Straftatbestand machen.
«Was wolltest du denn schreiben?» fragte ich.
Sie lacht mich verschmitzt an: «Nieder mit den Milchpreisen.»
Wir schleichen im Dunkeln durch die Stadt und bepflastern sie
mit geheimnisvollen Aufklebern: «Die schwarze Braut kommt». Am
Morgen sind die Schaufenster der Braut- und Pornoläden
verwüstet. Die Bürger schütteln die Köpfe. Solche schöönen
Brautkleider!
Wir stürmen die «Mißwahlen» in den Kaufhäusern. Sie waren zur
Verkaufssteigerung von Grundig-Geräten und anderem Konsummüll
Sitte geworden. Wir halten revolutionäre Reden über die sexuelle
Ausbeutung und Entwertung der Frau und sind wieder davon, bevor
die Polizei anrückt.
Wir klauen organisiert in den Tempeln der Konsumkonzerne und
schicken davon Pakete an die Gefangenen im Knast.
Wir haben weder Angst noch Respekt vor der Staatsgewalt oder
sonstigen Autoritäten. Wir haben unser eigenes Gesetz, und das
heißt: Widerstand gegen die Welt des Profits und Solidarität mit
den Ausgebeuteten und Verfolgten überall!
Ich ziehe in die Kommune «Liebenwalder Straße». Wir sind ein
anarchischer Haufen Frauen und Männer. Beseelt von der Idee, dem
Kommunismus den Weg zu bereiten, im Kampf gegen die alten
kapitalistischen Mächte. Die «Liebenwalder» ist das Zentrum der
«Schwarzen Hilfe». Tag und Nacht brodeln im Hinterhof geheime
und nichtgeheime Aktivitäten für die Weltrevolution im
allgemeinen und für die Gefangenen in den Berliner Knasten und
Heimen im besonderen.
Wir sind die größten Romantiker und hängen an der Idee, daß
ein Mensch, der nichts mehr zu verlieren hat, sich erheben und
seine Würde erkämpfen wird. Wir halten die an den Rand
gedrängten, kriminalisierten und ausgebooteten Menschen für
mobilisierbar. Es gibt keine Kriminellen, sagen wir, sie sind
alle Opfer des Profitsystems. Randgruppenstrategie! Das
Subproletariat revolutionieren, bevor die Herrschenden es gegen
die Revolution mobilisieren! Die Revolution scheint uns eine
unzweifelhafte Perspektive. Nur eine Frage der Zeit, eine Frage
der Intensität unserer revolutionären Entschlossenheit.
Die Rote Hilfe betrachtete uns als ihre kleine anarchistische
Schmuddelschwester, ähnlich, wie die Bewegung 2. Juni die
ungeliebte, verwilderte Verwandte der RAF war.
Die Rote Hilfe war studentisch-marxistisch, legte Wert auf
ideologische Korrektheit und Theorie. Wir in der Schwarzen
Hilfe kriegten uns nicht über revolutionäre Vorbilder und
politische Linien in die Haare. Alle waren berechtigt: Rosa
Luxemburg, Thomas Müntzer, Schinderhannes, Robin Hood, Durruti,
Bakunin, Malcolm X, Fidel Castro, Che Guevara, Ho, Tschi Minh,
Mao Tse Tung. Wir wurden
allgemein Anarchisten
genannt, aber das ist eigentlich falsch. Ich erinnere mich nur
an einen, der sich mit anarchistischer Theorie beschäftigte, und
das war der verkrachte Harald Sommerfeld, der nach seiner ersten
Verhaftung zum Verfassungsschutz überlief.
Wir suchten nach revolutionären Vorbildern, nicht nach
geschlossenen Weltbildern. Meine Vorstellung von der Zukunft^
hatte keine feste gesellschaftliche Gestalt.
Editorische Anmerkungen
Der Text stammt aus Inge
Vietts Autobiografie: Nie war ich furchtloser, Reinebek 199,
S.87ff
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