Stichwort RAF

 Die Schleyer-Entführung

von Peter Bakker Schut
09/07

trend
onlinezeitung

Das RAF-Kommando „Siegfried Hausner" entführte am Montag, 5.9.77, Dr. Hanns-Martin Schleyer, „den mächtigsten Wirtschaftsführer Deutschlands" (Bild). Vier Personen kamen bei dieser Aktion in Köln ums Leben: drei Sicherheitsbeamte Schleyers und sein Fahrer. Schleyer war Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) und der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Seine markante Nazi-Vergangenheit wurde von der westdeutschen Presse verschwiegen oder lapidar als „Jugendtorheit" bezeichnet206. Schleyer war zu Ende des Zweiten Weltkriegs 30 Jahre alt. 1976 erschien eine sozialwissenschaftliche Untersuchung mit dem Titel „Macht und Herrschaft der Unternehmerverbände BDI, BDA und DIHT"207. Über Schleyer ist dort zu lesen:

„Im Alter von 16 Jahren trat er der faschistischen Bewegung bei. Nach dem Abitur ging er an die Universität Heidelberg, wo er als Leiter des NS-Studentenwerkes maßgebend ,an der Gleichschaltung und Reinigung der Universitäten Heidelberg und Freiburg von Nazigegnern, Judenstämmlingen und Miesmachern' mitwirkte. Nach dem .Anschluß' Österreichs an Hitler-Deutschland nahm er als frischgebackener SS-Untersturmführer (SS-Mitgliedsnummer 227014) gleiche Aufgaben als Leiter des NS-Reichsstudentenwerks in Innsbruck wahr. Nach dem Überfall auf die Tschechoslowakei siedelte er nach Prag über, wo er ebenfalls die Leitung des NS-Reichsstudentenwerkes an der alten Karlsuniversität übernahm. 1941 avancierte er als knapp 26jähriger zum Leiter des Präsidialbüros im Zentralverband der Industrie für Böhmen und Mähren. Er war dort u. a. für die rassische und wirtschaftliche Eingliederung des tschechoslowakischen Industriepotentials in die deutsche Kriegswirtschaft zuständig. Nach Kriegsende schaffte der Nazi-Manager einen nahtlosen Übergang in Führungspositionen der westdeutschen Wirtschaft"208.

Am Tag nach der Entführung erhielt das BKA eine Erklärung der Entführer, aus der hervorging, daß Schleyer freigelassen werde, sobald elf Gefangene aus der RAF, darunter Baader, Ensslin und Raspe, in ein Land ihrer Wahl ausgeflogen seien. Wenige Tage später folgte eine Video-Aufzeichnung, die Schleyer als „Gefangenen der RAF" zeigte und auf der er die Bundesregierung ansprach.

Schleyers Entführung hatte „die politische Landschaft grundlegend verändert", wie die „Frankfurter Rundschau" (FR) schon am 8.9.77 feststellte; weiter wurde vorausschauend und beipflichtend behauptet: »Die Zeichen stehen (...) auf Härte. Gefragt ist das gesamte Arsenal tätlicher Macht"209. Für die „FR" stand auch außer Frage, wogegen dieses Arsenal einzusetzen war: „In der Tat sind einige Anwälte zur,, neuralgischen Punkt der gesamten Terrorszene geworden".

Der „Krisenstab" unter Leitung von Bundeskanzler Helmut Schmidt traf sofort nach Eingang der Erklärung zwei einschneidende Maßnahmen. Ebenso wie nach den Attentaten auf Buback und Ponto wurden mehr als 100 wegen § 129(a) StGB oder in Zusammenhang damit verfolgte Gefangene - also nicht nur diejenigen, deren Freilassung gefordert wurde - einer totalen Kontaktsperre unterworfen: Es gab keinen Umschluß mehr, Radio und Fernseher wurden weggenommen bzw. abgeschaltet, Briefe und Zeitungen zurückgehalten, Verteidigerbesuche verboten. Die zweite Maßnahme bestand erstmals in einer totalen Nachrichtensperre für alle Medien210. Die Regierung hüllte sich „in strengstes Stillschweigen" („FAZ" vom 8.9.77} über alles, was mit der Schleyer-Entführung in Zusammenhang stand oder stehen konnte. Außerdem wandte sie sich auch wiederholt direkt an alle Chefredakteure der Tagesund Wochenzeitungen, des Rundfunks und Fernsehens sowie der Presseagenturen mit der dringenden Bitte, „nichts zu tun, was die Anstrengungen der Sicherheitsorgane des Bundes in irgendeiner Weise beeinträchtigen und dazu beitragen könnte, die Gefahrenlage zu verschärfen"211. Im Zweifelsfall solle man mit dem Pressereferat des Bundesinnenministeriums Kontakt aufnehmen. Auch der Deutsche Presserat wandte sich mit einem ähnlich lautenden Aufruf an die Medien und ersuchte die Redaktionen, „die Maßnahmen der Polizei- und Sicherheitsorgane zu unterstützen". Die „FR" vermerkt dazu am 20.9.77: „Und der Generalsekretär des Presserates (...) verweist auf Paragraph 34 des Strafgesetzbuches: den rechtfertigenden Notstand".

Die gesamte westdeutsche Presse leistete während des beinahe siebenwöchigen Zeitraums der Entführung Selbstzensur. Im Ausland, vor allem in Frankreich, lehnten Zeitungen und Presseagenturen eine derartig gravierende Beschneidung ihrer öffentlichen Kontrollfunktion ab. Die französische Zeitung „Liberation" begründet ihre Haltung:

„Man erlebt eine seltsame Zeit. Hätte man sich vorstellen können, daß ein früherer Nazi, der Chef der deutschen Arbeitgeber geworden ist, , Liberation benutzt, um sich an seine Frau zu wenden? Grund dieses Paradoxons ist die Vermittlung der Roten Armee Fraktion, die Hanns-Martin Schleyer heute seit 33 Tagen gefangen hält. Es ist das zweitemal, daß sich die Entführer an .Liberation' wenden, um mit deutschen Behörden eine Nachricht auszutauschen, ohne daß ihre Botschaft abgefangen, ganz oder teilweise in den Redaktionen der geschriebenen Presse zensiert wird, die immer noch, was diese Affäre angeht, einer direkten Zusammenarbeit mit der Regierung unterworfen ist. Diese Situation, die die Information in die Abhängigkeit der politischen Macht bringt, untersagt es der Presse jenseits des Rheins, ihre Rolle zu spielen. Daher haben wir uns völlig frei zur Veröffentlichung dieser Dokumente bezüglich einer Sache entschlossen, in der die Geheimhaltung einem unblutigen Ausgang nur schaden kann. Im Gegenteil, die Verschwiegenheit ist hier wie anderswo die Waffe all jener, die eine Gewaltlösung wünschen. "(Zitiert nach FAZ, 10. 10.)212

Nachträglich stellte sich heraus, daß die Nachrichtensperre als informationspolitisches Mittel wirksam funktioniert hatte. Während gegenüber der Öffentlichkeit und den Entführern fortwährend der Eindruck erweckt wurde, ein Austausch werde erwogen, hatten die Verantwortlichen in Bonn jedoch schon am 6.9.77, also einen Tag nach der Entführung, beschlossen, die Gefangenen auf keinen Fall freizulassen213. Sowohl die Nachrichtensperre als auch die Kontaktsperre wurden stets mit dem Schutz des Lebens von Schleyer begründet. Die nachträglich von der Bundesregierung herausgegebenen Rechenschaftsberichte zeigen jedoch, daß eine ganz andere Überlegung Priorität hatte, nämlich „die Handlungsfähigkeit des Staates und das Vertrauen in ihn im In- und Ausland nicht zu gefährden; das bedeute auch: die Gefangenen, deren Freilassung erpreßt werden sollte, nicht freizugeben"214.

Nachrichten- und Kontaktsperre dienten also dem vorläufigen Vertuschen dieser harten Linie der Regierung, um Zeit für die Fahndung zu gewinnen und Schleyers Aufenthaltsort eventuell durch einen Zufallstreffer herauszubekommen. Eine Woche nach seiner Entführung äußerte sich Schleyer in einem seiner vielen, erst nach seinem Tod veröffentlichten Tonband- und Videoaufnahmen dazu:

„Ich habe immer die Entscheidung der Bundesregierung, wie ich ausdrücklich schriftlich mitgeteilt habe, anerkannt. Was sich aber seit Tagen abspielt ist Menschenquälerei ohne Sinn. Es sei denn, man versucht mit naiven Tricks meine Entführer zu fangen. Das wäre zugleich mein sicherer Tod und ich kann mir nicht vorstellen, daß man zwar die offizielle Ablehnung der Forderungen scheut, aber Vorbereitungen trifft, um mich still um die Ecke zu bringen, das man dann vielleicht als technische Panne ausgeben könnte. Seit man Tag und Nacht berät, ich frage mich eigentlich worüber noch, hat man mir den Eindruck vermittelt, man würde die Forderungen annehmen. Alles redet zudem vom Leid der Familie und bekundet den Wunsch, mein Leben zu erhalten. Man verlangt aber ständig neue Lebenszeichen von mir und verleugnet die vorliegenden oder zweifelt die Authentizität grundlos an"215.

Zur Zeit der Nachrichtensperre - und sicherlich als Ausgleich gedacht-waren die Medien jedoch eifrig bemüht, „die freigiebig dargebotenen Hinweise aus Quellen der Geheimdienste und der Polizei"216 auf die Illegalen und die sogenannte Sympathisantenszene zu veröffentlichen. 'n ihrem Buch „Ein deutscher Herbst" dokumentieren die Herausgeber anschaulich diesen unkritischen und willfährigen Journalismus als „be-°bachtende Fahndung"217. Vorreiter war „Der Spiegel". Daß die He-Xenjagd auf „Sympathisanten" einem Preisschießen ähnelte, wird von °en Antworten auf die Frage „Wer kann schon sicher sein, nicht als •Sympathisant' verdächtigt zu werden?" eindrucksvoll illustriert:

.„Sympathisant' kann jeder sein: schon wer .Baader-Meinhof-Gruppe' (statt: ,-Bande') sagt (so Bernhard Vogel, laut FR vom 14.9.); schon wer vom Kapitalismus spricht, schaffe damit .gleitende Übergänge' zur Entführung von Wirtschaftsvertretern (so die .Welt' am 6.9. über Peter von Oertzen). Auch Nichtstun schützt vor Sympathisantismus nicht: Über die 48 Mescalero-Herausgeber und den Schriftsteller Erich Fried schrieb die FAZ am 2.8.: .Diese Sympathisanten, die nie einem Terroristen Nachtlager und Reisegeld gegeben haben, sind die wirklich gefährlichen. Sie haben... .nichts getan', sie haben nur ihre Meinung gesagt, sie haben nur nachgedacht'. Selbst wer gegen Gewalt und Terror auftritt, kann ein Sympathisant sein - und zwar gerade deswegen. So schrieb .Bild' am 4. 10. über Günter Wallraff: ,Ich verabscheue Gewalt und Terror - so beginnt Günter Wallraff im modischen Sympathisanten-Stil sein teures Taschenbuch (16.80 DM)'"218

 

Editorische Anmerkungen

Der Text ist das  Kapitel VIII, 5.4. in dem Buch "Stammheim - Die notwendige Korrektur der herrschenden Meinung" von Pieter Bakker Schut, Kiel 1986, S. 475 ff, 

OCR-Scan  red. trend