Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Die « neue » Europäische Union nach den Vorstellungen des Nicolas Sarkozy
09/06

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Nur nicht auffallen : Als die französische Politikerin Ségolène Royal am Mittwoch voriger Woche (13. September) die EU-Kommission in Brüssel besuchte, benutzte sie den unterirdischen Eingang über das Parkhaus. Ihre beiden geplanten Pressekonferenzen hatte die wahrscheinliche Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialdemokratie für die Wahl im April 2007 zuvor annulliert. Trotz der Absage war ihr Aufenthalt in Brüssel den dort ansässigen Journalisten nicht entgangen. Und so musste sie sich am Ende ihres Treffens mit dem Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso, und dem des Europaparlaments – Josep Borrell – doch einigen Fragen der Presse stellen.

Die Diskretion, die ihr Treffen mit den beiden Spitzenrepräsentanten der Europäischen Union begleitete, war der zeitlichen Nähe zum vorausgehenden Auftritt des französischen Innenministers Nicolas Sarkozy geschuldet. Der mutmabliche konservative Präsidentschaftsbewerber, der seine Kandidatur schon vor drei Jahren erklärt hatte, hatte am Freitag der vorvergangenen Woche seinen Plan für die Zukunft der EU in Brüssel präsentiert.

Kurz bevor er nach New York und Washington abflog und dort seine äuberst weitgehende Annäherung an die Bush-Administration zelebrierte (Sarkozy erklärt inzwischen öffentlich, die Opposition seines Rivalen Jaques Chirac gegen die US-Kriegspolitik im Iraq 2003 für falsch zu halten), bemühte Präsidentschaftsbewerber Nicolas Sarkozy sich so noch um ein europäisches Profil. Und er malte aus, wie er sich eine effizient funktionierende Grobmacht EU an der Seite der (für ihn eher verbündeten, denn als Konkurrenten betrachteten) USA vorstelle. Nachdem Sarkozys programmatische Rede vor der « Vereinigung der Freunde Europas » also einigen Staub aufgewirbel hatte, wollte seine aussichtsreichste Gegenkandidatin nicht den Eindruck erwecken, mit ihren Vorstellungen zur Europapolitik auf Sarkozy zu antworten und sich an dessen Programm abzuarbeiten. Aufgrund der Journalistenfragen musste Royal dann aber doch notgedrungen auf die Äuberungen Sarkozys eingehen.

Neues Vertragswerk als Ersatz für den EU-Verfassungsvertrag

Der hyperaktive Politiker Nicolas Sarkozy hat nun also auch das Feld der Europapolitik beackert. Nachdem im Frühsommer 2005 der Entwurf  für eine EU-Verfassung am Nein bei den damaligen Volksabstimmungen in Frankreich und – drei Tage später – in den Niederlanden scheiterte, wollte er nun als französischer Politiker einen Ausweg aus der Perspektivkrise der Union anbieten. Eigentlich müsse man nun eine neue Konvention einberufen, um einen neuen Verfassungsentwurf auszuarbeiten. Aber « das benötigt Zeit. Wir haben keine Zeit. Man muss deshalb sofort agieren. » Die Fähigkeit zum Handeln verknüpft Sarkozy direkt mit seinem künftigen Wahlsieg, so er denn gewinnt : « Bis 2007 wird debattiert und werden Vorschläge erarbeitet, 2007 wird gewonnen, und 2008 wird gehandelt. »

Konkret soll der Text eines neuen « Mini-Vertrages » für die EU, so Sarkozy, im ersten Halbjahr 207 unter deutscher Ratspräsidentschaft der EU erarbeitet werden. Im zweiten Semester des darauffolgenden Jahres soll er unter französischer Präsidentschaft ratifiziert, und noch vor den EU-Wahlen im Juni 2009 anwendbar werden. So « mini », wie er den Eindruck erweckt, soll der Vertrag allerdings auch nicht ausfallen. Das heibt, er soll die ersten beiden Kapitel des EU-Verfassungsentwurfs – über die Institutionen der EU sowie den, allgemein gefassten und kaum verbindlichen, Grundrechtekatalog – übernehmen. Entfallen soll lediglich das dritte Kapitel, das wegen seiner zahllosen wirtschaftsliberalen Vorschriften von den linken Gegnern des Entwurfs in Frankreich besonders angegriffen wurde, dessen Bestimmungen allerdings auch anderswo im EU-Recht verankert sind. Anders als die gescheiterte « Verfassung » soll der neue Vertrag jedoch nicht durch die Bevölkerung, sondern durch das Parlament ratifiziert werden: Dieses Mal wird auf Nummer Sicher gegangen!

Handlungsfähige EU-Spitze und Abschottung der Festung Europa

Am wichtigsten ist es laut Sarkozy, eine handlungsfähige Führungssspitze auf Unionsebene zu schaffen. Dazu gehört die auch im Verfassungsentwurf enthaltene Idee, je nach Affinität unterschiedlich zusammengesetzte Ländergruppen zu bilden, in denen bestimmte Staaten der EU die Ausarbeitung einer gemeinsame Politik – unter sich – vertiefen können. « Ich nehme es nicht hin, dass derjenige, der nicht voran gehen will, die Anderen daran hindert, es zu tun » tönte Sarkozy.

Als allererstes müsse « der Riegel » des Einstimmigkeits-Erfordernisses gesprengt werden, forderte der Minister. Denn daran scheiterten viele politische Entscheidungen auf Unionsebene. Sarkozy nannte konkret die Steuerpolitik, wo die Notwendigkeit einer Einstimmigkeit von vielen Regierungen benutzt werde, um sich hinter dem Scheitern einer Einigung zu verstecken und auf nationaler Ebene « Steuerdumping » zu betreiben. Dadurch erhofft man sich vielerorts, dem nationalen Standort Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Das stimmt tatsächlich, und das Beispiel war geschickt gewählt.

Aber Sarkozy möchte generell das Einstimmigkeitsprinzip, das viele und vor allem kleinere Staaten der EU vor aufgezwungenen Beschlüssen schützt, kippen. Es soll durch ein Erfordernis « superqualifizierter Mehrheiten » mit 70 bis 80 Prozent der Stimmen in den EU-Gremien ersetzt werden. Als Anwendungsfelder nannte Sarkozy konkret die Einwanderungs- und Asylpolitik, « denn dort gehen wir nicht voran, sondern rückwärts ». Sarkozy hatte heftig die jüngst erfolgte « Legalisierung » so genannter illegaler Einwanderer in Spanien und Italien angegriffen, bei denen man andere EU-Ländern wie Frankreich überhaupt nicht um ihre Erlaubnis gefragt habe.

Ansonsten möchte Sarkozy der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit geben, was er der Union erlauben soll, als solche einen Sitz in internationalen Gremien zu bekleiden. Statt der wechselnden Ratspräsidentschaften der EU soll es einen « stabilen Präsidenten » geben, der vom Parlament gewählt würde, sowie einen gemeinsamen Aubenminister. Vor allem aber griff Sarkozy die heikle Frage der Vertretung der einzelnen Länder in der Kommission auf. Derzeit hat jedes der 25 Länder einen eigenen Kommissar, aber ihre Zahl soll zukünftig reduziert werden, um das Gremium « handlungsfähiger » zu machen. Der Verfassungsentwurf hatte die diesbezügliche Reform auf 2014 verschoben, aber ein Rotationsmodell angestrebt, in dem die Mitgliedsstaaten abwechselnd eine Runde bei der Besetzung der dann 18köpfigen Kommission aussetzen. Das missfällt Sarkozy, denn für die « groben » EU-Länder kommt es seiner Auffassung nach nicht in Frage, übergangen werden zu können. « Seiner Auffassung wäre die Kommission tot, wenn eines Tages eine Mehrheit von Kommissaren eine wichtige Entscheidung gegen ein grobes Land träfe, das (gerade) nicht vertreten wäre » zitiert ihn die Pariser Tageszeitung Le Figaro. Stattdessen schlägt Sarkozy vor, der jeweilige Kommissionspräsident solle sich « seine Mannschaft » selbst zusammenstellen und dabei die je zu vertretenden Länder aussuchen. Es würde sich also faktisch um eine Art Koalition der Willigen unter besonderer Berücksichtigung der « Groben » handeln.

Wer darf hinein, wer muss leider drauben bleiben...           

Wichtig ist es laut Sarkozy, « jetzt klar zu sagen, wer Europäer ist und wer nicht ». Europäer, das sind nach seiner Definition auch die derzeitigen Nicht-Mitgliedsländer auf dem Balkan, in Skandinavien und die Schweiz. Nicht dazu gehören darf hingegen die Türkei. Ihr schlug Sarkozy, ebenso wie den nordafrikanischen Ländern, eine « privilegierte Partnerschaft » an, das bedeutet : Militärabkommen plus die Anwendung von Freihandelsregeln zuzüglich der Möglichkeit, Studierende an Universitäten in der EU zu schicken. Sarkozy forderte die Aussetzung der kommenden Verhandlungsrunden mit der Türkei, « solange diese die Zollunion mit Zypern nicht verwirklicht hat ». In Wirklichkeit geht es ihm aber nicht um eine Anerkennung der Inselrepublik durch Ankara, sondern um eine tiefer gehende Absage an die Türkei, die nicht zur europäischen Identität dazu passe.

Blasse sozialdemokratische Alternativaussichten

Ségolène Royal blieb mit ihren Ansichten zur Zukunft der EU-Institutionen noch weitgehend hinter dem Berg. Was sie aber durchblicken lieb, ist, dass sie Sarkozys Ansichten zur Einwanderungspolitik weitgehend teilt, auch sie kritisierte das spanische und italienische Vorgehen bei der « Legalisierung ». In Sachen EU-Beitritt der Türkei lieb sie die Dinge offen, aber esc schimmerte durch, dass sie der Vorstellung einer « privilegierten Partnerschaft » nach Definition Sarkozys nicht abgeneigt sein könnte : « Die EU braucht stabile Grenzen, aber Partnerschaften müssen geknüpft werden » lautete ihr Schlüsselsatz dazu. Bisher hatten die deutschen und französischen Sozialdemokraten sich mehrheitlich für einen Beitritt der Türkei ausgesprochen. Ansonsten möchte Royal die Perspektiven für die Union nicht vorrangig über die Institutionen definiert wissen, sondern über inhaltliche Programme « für die Vorbereitung der Ära nach dem Erdöl, übr Innovationen und Forschungsinvestitionen ». Auf diesen Feldern solle Europa « sich beweisen ». Was es ihr aber auch erlaubte, zu den politischen Institutionen ausweichend zu bleiben.

Editorische Anmerkungen

Den Artikel schickte uns der Autor am 22.9.2006 zur Veröffentlichung.