Nur nicht auffallen : Als die französische Politikerin
Ségolène Royal am Mittwoch voriger Woche (13. September) die
EU-Kommission in Brüssel besuchte, benutzte sie den
unterirdischen Eingang über das Parkhaus. Ihre beiden
geplanten Pressekonferenzen hatte die wahrscheinliche
Präsidentschaftskandidatin der französischen Sozialdemokratie
für die Wahl im April 2007 zuvor annulliert. Trotz der Absage
war ihr Aufenthalt in Brüssel den dort ansässigen Journalisten
nicht entgangen. Und so musste sie sich am Ende ihres Treffens
mit dem Präsidenten der EU-Kommission, José Manuel Barroso,
und dem des Europaparlaments – Josep Borrell – doch einigen
Fragen der Presse stellen.
Die Diskretion, die ihr Treffen mit den beiden
Spitzenrepräsentanten der Europäischen Union begleitete, war der
zeitlichen Nähe zum vorausgehenden Auftritt des französischen
Innenministers Nicolas Sarkozy geschuldet. Der mutmabliche
konservative Präsidentschaftsbewerber, der seine Kandidatur
schon vor drei Jahren erklärt hatte, hatte am Freitag der
vorvergangenen Woche seinen Plan für die Zukunft der EU in
Brüssel präsentiert.
Kurz bevor er nach New York und Washington abflog und dort seine
äuberst
weitgehende Annäherung an die Bush-Administration zelebrierte
(Sarkozy erklärt inzwischen öffentlich, die Opposition seines
Rivalen Jaques Chirac gegen die US-Kriegspolitik im Iraq 2003
für falsch zu halten), bemühte Präsidentschaftsbewerber Nicolas
Sarkozy sich so noch um ein europäisches Profil. Und er malte
aus, wie er sich eine effizient funktionierende Grobmacht
EU an der Seite der (für ihn eher verbündeten, denn als
Konkurrenten betrachteten) USA vorstelle. Nachdem Sarkozys
programmatische Rede vor der « Vereinigung der Freunde Europas »
also einigen Staub aufgewirbel hatte, wollte seine
aussichtsreichste Gegenkandidatin nicht den Eindruck erwecken,
mit ihren Vorstellungen zur Europapolitik auf Sarkozy zu
antworten und sich an dessen Programm abzuarbeiten. Aufgrund der
Journalistenfragen musste Royal dann aber doch notgedrungen auf
die Äuberungen
Sarkozys eingehen.
Neues Vertragswerk als Ersatz für den EU-Verfassungsvertrag
Der hyperaktive Politiker Nicolas Sarkozy hat nun also auch das
Feld der Europapolitik beackert. Nachdem im Frühsommer 2005 der
Entwurf für eine EU-Verfassung am Nein bei den damaligen
Volksabstimmungen in Frankreich und – drei Tage später – in den
Niederlanden scheiterte, wollte er nun als französischer
Politiker einen Ausweg aus der Perspektivkrise der Union
anbieten. Eigentlich müsse man nun eine neue Konvention
einberufen, um einen neuen Verfassungsentwurf auszuarbeiten.
Aber « das benötigt Zeit. Wir haben keine Zeit. Man muss deshalb
sofort agieren. » Die Fähigkeit zum Handeln verknüpft Sarkozy
direkt mit seinem künftigen Wahlsieg, so er denn gewinnt : « Bis
2007 wird debattiert und werden Vorschläge erarbeitet, 2007 wird
gewonnen, und 2008 wird gehandelt. »
Konkret soll der Text eines neuen « Mini-Vertrages » für die EU,
so Sarkozy, im ersten Halbjahr 207 unter deutscher
Ratspräsidentschaft der EU erarbeitet werden. Im zweiten
Semester des darauffolgenden Jahres soll er unter französischer
Präsidentschaft ratifiziert, und noch vor den EU-Wahlen im Juni
2009 anwendbar werden. So « mini », wie er den Eindruck erweckt,
soll der Vertrag allerdings auch nicht ausfallen. Das heibt,
er soll die ersten beiden Kapitel des EU-Verfassungsentwurfs –
über die Institutionen der EU sowie den, allgemein gefassten und
kaum verbindlichen, Grundrechtekatalog – übernehmen. Entfallen
soll lediglich das dritte Kapitel, das wegen seiner zahllosen
wirtschaftsliberalen Vorschriften von den linken Gegnern des
Entwurfs in Frankreich besonders angegriffen wurde, dessen
Bestimmungen allerdings auch anderswo im EU-Recht verankert
sind. Anders als die gescheiterte « Verfassung » soll der neue
Vertrag jedoch nicht durch die Bevölkerung, sondern durch das
Parlament ratifiziert werden: Dieses Mal wird auf Nummer Sicher
gegangen!
Handlungsfähige EU-Spitze und Abschottung der Festung Europa
Am wichtigsten ist es laut Sarkozy, eine handlungsfähige
Führungssspitze auf Unionsebene zu schaffen. Dazu gehört die
auch im Verfassungsentwurf enthaltene Idee, je nach Affinität
unterschiedlich zusammengesetzte Ländergruppen zu bilden, in
denen bestimmte Staaten der EU die Ausarbeitung einer gemeinsame
Politik – unter sich – vertiefen können. « Ich nehme es nicht
hin, dass derjenige, der nicht voran gehen will, die Anderen
daran hindert, es zu tun » tönte Sarkozy.
Als allererstes müsse « der Riegel » des
Einstimmigkeits-Erfordernisses gesprengt werden, forderte der
Minister. Denn daran scheiterten viele politische Entscheidungen
auf Unionsebene. Sarkozy nannte konkret die Steuerpolitik, wo
die Notwendigkeit einer Einstimmigkeit von vielen Regierungen
benutzt werde, um sich hinter dem Scheitern einer Einigung zu
verstecken und auf nationaler Ebene « Steuerdumping » zu
betreiben. Dadurch erhofft man sich vielerorts, dem nationalen
Standort Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Das stimmt
tatsächlich, und das Beispiel war geschickt gewählt.
Aber Sarkozy möchte generell das Einstimmigkeitsprinzip, das
viele und vor allem kleinere Staaten der EU vor aufgezwungenen
Beschlüssen schützt, kippen. Es soll durch ein
Erfordernis « superqualifizierter Mehrheiten » mit 70 bis 80
Prozent der Stimmen in den EU-Gremien ersetzt werden. Als
Anwendungsfelder nannte Sarkozy konkret die Einwanderungs- und
Asylpolitik, « denn dort gehen wir nicht voran, sondern
rückwärts ». Sarkozy hatte heftig die jüngst erfolgte
« Legalisierung » so genannter illegaler Einwanderer in Spanien
und Italien angegriffen, bei denen man andere EU-Ländern wie
Frankreich überhaupt nicht um ihre Erlaubnis gefragt habe.
Ansonsten möchte Sarkozy der EU eine eigene Rechtspersönlichkeit
geben, was er der Union erlauben soll, als solche einen Sitz in
internationalen Gremien zu bekleiden. Statt der wechselnden
Ratspräsidentschaften der EU soll es einen « stabilen
Präsidenten » geben, der vom Parlament gewählt würde, sowie
einen gemeinsamen Aubenminister.
Vor allem aber griff Sarkozy die heikle Frage der Vertretung der
einzelnen Länder in der Kommission auf. Derzeit hat jedes der 25
Länder einen eigenen Kommissar, aber ihre Zahl soll zukünftig
reduziert werden, um das Gremium « handlungsfähiger » zu machen.
Der Verfassungsentwurf hatte die diesbezügliche Reform auf 2014
verschoben, aber ein Rotationsmodell angestrebt, in dem die
Mitgliedsstaaten abwechselnd eine Runde bei der Besetzung der
dann 18köpfigen Kommission aussetzen. Das missfällt Sarkozy,
denn für die « groben »
EU-Länder kommt es seiner Auffassung nach nicht in Frage,
übergangen werden zu können. « Seiner Auffassung wäre die
Kommission tot, wenn eines Tages eine Mehrheit von Kommissaren
eine wichtige Entscheidung gegen ein grobes
Land träfe, das (gerade) nicht vertreten wäre » zitiert ihn die
Pariser Tageszeitung Le Figaro. Stattdessen schlägt
Sarkozy vor, der jeweilige Kommissionspräsident solle sich
« seine Mannschaft » selbst zusammenstellen und dabei die je zu
vertretenden Länder aussuchen. Es würde sich also faktisch um
eine Art Koalition der Willigen unter besonderer
Berücksichtigung der « Groben »
handeln.
Wer darf hinein, wer muss leider drauben
bleiben...
Wichtig ist es laut Sarkozy, « jetzt klar zu sagen, wer Europäer
ist und wer nicht ». Europäer, das sind nach seiner Definition
auch die derzeitigen Nicht-Mitgliedsländer auf dem Balkan, in
Skandinavien und die Schweiz. Nicht dazu gehören darf hingegen
die Türkei. Ihr schlug Sarkozy, ebenso wie den nordafrikanischen
Ländern, eine « privilegierte Partnerschaft » an, das bedeutet :
Militärabkommen plus die Anwendung von Freihandelsregeln
zuzüglich der Möglichkeit, Studierende an Universitäten in der
EU zu schicken. Sarkozy forderte die Aussetzung der kommenden
Verhandlungsrunden mit der Türkei, « solange diese die Zollunion
mit Zypern nicht verwirklicht hat ». In Wirklichkeit geht es ihm
aber nicht um eine Anerkennung der Inselrepublik durch Ankara,
sondern um eine tiefer gehende Absage an die Türkei, die nicht
zur europäischen Identität dazu passe.
Blasse sozialdemokratische Alternativaussichten
Ségolène Royal blieb mit ihren Ansichten zur Zukunft der
EU-Institutionen noch weitgehend hinter dem Berg. Was sie aber
durchblicken lieb,
ist, dass sie Sarkozys Ansichten zur Einwanderungspolitik
weitgehend teilt, auch sie kritisierte das spanische und
italienische Vorgehen bei der « Legalisierung ». In Sachen
EU-Beitritt der Türkei lieb
sie die Dinge offen, aber esc schimmerte durch, dass sie der
Vorstellung einer « privilegierten Partnerschaft » nach
Definition Sarkozys nicht abgeneigt sein könnte : « Die EU
braucht stabile Grenzen, aber Partnerschaften müssen geknüpft
werden » lautete ihr Schlüsselsatz dazu. Bisher hatten die
deutschen und französischen Sozialdemokraten sich mehrheitlich
für einen Beitritt der Türkei ausgesprochen. Ansonsten möchte
Royal die Perspektiven für die Union nicht vorrangig über die
Institutionen definiert wissen, sondern über inhaltliche
Programme « für die Vorbereitung der Ära nach dem Erdöl, übr
Innovationen und Forschungsinvestitionen ». Auf diesen Feldern
solle Europa « sich beweisen ». Was es ihr aber auch erlaubte,
zu den politischen Institutionen ausweichend zu bleiben.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel schickte uns
der Autor am 22.9.2006 zur Veröffentlichung.