Libanesische und israelische Anarchisten

von Qursana und Regina Schwarz
09/06

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Anfang September 2006 fand ein Treffen zwischen Anarchisten mit israelischen Pässen und libanesischen Pässen statt. Sie haben sich über ihre persönlichen Erfahrungen mit dem jüngsten Krieg im Libanon und in Israel ausgetauscht und ihre Einschätzung der politischen Hintergründe dieses Krieges und die Rolle verschiedener Organisationen von der Hibollah bis zur UNO diskutiert. Das Gespräch wurde von Qursana dokumentiert und auf Indymedia Beirut veröffentlicht. Mich hat dieser illegale Runde Tisch sehr beeindruckt. Deshalb habe ich ihn übersetzt.

Runder Tisch an der Grenze
http://www.beirut.indymedia.org/ar/2006/09/5563.shtml


Den Regierungen des Libanon und Israels zufolge ist der Kontakt zwischen den Bürgern beider Länder untersagt (was im Libanon jedoch strenger angewandt wird) und wird unter Umständen militärgerichtlich bestraft. Deswegen ist dieser Runde Tisch illegal - Teil dessen war eine mit Widerständen verbundene, herausfordernde und schmerzliche Unterredung, die nicht vonstatten ging ohne Tränen, Wut, Entschuldigungen, Schmerz, Schuldgefühle, bezug auf geistige Gleichgesinnung, Diskussion, Lächeln und herzliche Umarmungen. Diese Unterhaltung ist nicht repräsentativ für die große Mehrheit beider Bevölkerungen, sie ist vielmehr ein anarchistischer Blick aus der Froschperspektive auf den jüngsten Krieg Israels gegen den Libanon. An ihr nahmen Anarchisten teil, die beiderseits der Grenzen mit diesem Krieg in Kontakt kamen. Das Treffen wurde durch Netzwerke globaler Solidarität von autonomen Zusammenhängen in Europa ermöglicht sowie durch die wachsende weltweite antikapitalistische und antiautoritäre Bewegung. Eine Bewegung, die Krisen miterlebt, aber genauso Lebenszeichen! Die teilnehmenden Anarchisten sind Eyal und Anat, InhaberInnen israelischer Pässe, und Hazem und Imad, Inhaber libanesischer Pässe

Hazem (Lib.): "Wir befinden uns im Krieg mit Israel, solange ich mich erinnern kann. Wir haben in einer Ära der Angst gelebt, wo jedesmal, wenn etwas schiefläuft, entweder der Mossad schuld ist oder es sich um eine internationale Verschwörung der Zionisten handelt (jetzt ist Syrien an der Reihe). Es ist immer das gleiche mit totalitären Regimen, sie brauchen ständig einen Feind, einen Feind, der anders ist als wir - mit einer anderen Kultur und anderem Aussehen. Dieser Feind war immer und ist noch das stärkste Werkzeug, das solche totalitären Regime haben, um Angst und Paranoia zu erzeugen, damit die Aufmerksamkeit der Menschen von dem wirklichen Problem und der Sinnlosigkeit des Krieges abgelenkt wird. Die USA sind eines der besten Beispiele dafür. Zuerst waren es die 'Commies' [Kommunisten], jetzt gibt es die Al Qaida und den 'Terrorismus?, und das Ergebnis ist, dass die US-Bürger sich zugunsten der ?Sicherheit? bereitwillig ihrer Freiheiten berauben lassen, während sie den staatlichen Terrorismus unterstützen. Das Verrückteste daran ist, dass wir Araber ununterbrochen die Verallgemeinerungen und lächerlichen Stereotypisierungen der Vereinigten Staaten kritisieren, aber wenn es sich um unseren "Feind" handelt, denken wir selber in Klischees und werden blind vor Angst und Haß.

Ob ich glaube, dass es falsch ist, mit israelischen Anarchisten zusammenzuarbeiten? Teufel, nein! Als Anarchist glaube ich weder an Grenzen noch an Nationen, und nicht nur das. Ich glaube, dass jeder wissen sollte, dass der Weg zu Frieden und Gerechtigkeit vor Ort beginnt, indem die Menschen sich miteinander verbinden, und das auch nur, wenn die Leute ihre Rechte kennen und Verantwortlichkeit durch direkte Demokratie praktizieren. Viele arabische Regime haben Kontakt mit Israel aufgebaut, libanesische Verräter haben mit Zionisten zusammengearbeitet, sogar Mitglieder unserer Regierung haben das getan. Wenn also die Unterdrücker beider Seiten Wege gefunden haben, die Macht unter sich aufzuteilen, sehe ich keinen Grund für uns Militante, die wir nicht durch Grenzen und Nationen eingeschränkt sind, uns nicht zusammenzutun, um beide zu zerstören. Ich sehe das eher als unsere Verantwortung."

Imad (Lib.): "Damals bei der ersten israelischen Invasion in den Libanon 1982 sagte Israel, es wolle den palästinensischen Widerstand ausmerzen, und das Ergebnis waren beträchtliche Schäden in jeder Hinsicht, menschlich, ökologisch, infrastrukturell und wirtschaftlich. Heute bin ich 26 und weiß immer noch nicht, was ich über den Krieg sagen soll. Man kann Krieg nicht erklären, vor allem nicht, wenn man ihn erlebt hat. Es sind so kleine Momente, in denen man gemischte Gefühle hat wie Wut, Angst, brennendes Verlangen sich zu wehren, Hilflosigkeit, Übelkeit, eine verstopfte Nase vom vielen Heulen, eine brennende Wut zurückzuschlagen, und zwar so hart wie möglich. Es ist all das. Das ist Krieg für mich. Das schlimmste daran, diesmal weg zu sein, war der Augenblick, als ich nach einem Gespräch mit meiner Familie den Hörer auflegte und wußte, dass mein Leben in diesem Moment wieder zur Normalität zurückkehrt und ihres zum Krieg. Meine Cousine, die in der südlichen Vorstadt von Beirut lebt, sagte am Telefon zu mir: 'Wir wissen, was als nächstes kommt, unsere Koffer stehen fertig gepackt neben der Tür. Ich schlafe in meinen Kleidern (an der Stelle lachte sie)! Mach dir keine Sorgen, wir erleben das nicht zum ersten Mal. Manchmal ist es bloß schwierig, sich daran zu erinnern, was man zu tun hat, ich meine, nach so langer Zeit (lachte noch mal)!'

Ich werde nie das Gefühl der Hilflosigkeit vergessen, das mich überkam, als sie meinen Wunsch zurückzukommen ablehnte und sagte: 'Womit wirst du uns hier helfen? Du wirst eine zusätzliche Last sein, noch jemand im Auto, noch jemand, um den wir uns Gedanken machen müssen! Dort wissen wir, dass du sicher bist! Ich habe dir doch gesagt, unsere Koffer sind fertig gepackt und warten nur... es kann jederzeit sein, dass wir weg müssen. Hör mit diesem Unsinn auf.' Das ist Krieg für mich!

Meine Mutter, die sich mit 65 Jahren weigerte, ihr Haus im Süden zu verlassen, obwohl sie alleine dort wohnte, ohne Auto, ohne Strom, ohne Telefon, weil, so sagte sie: 'Ich bin zu alt um in der Gegend herumzuziehen, es gibt nirgends Strom, und wenigstens hier in meinem eigenen Haus weiß ich, was wo ist - sogar im Dunkeln. Ich verspreche, dass ich gehe, wenn es wirklich schlimm wird, ich versprech´s. Fürs erste kriegen sie mich hier nicht raus.' Das ist Krieg für mich, dieser Moment der Stärke, den meine Mutter fühlte, als sie da draußen blieb, trotz der Gefahr. Es erzeugt Wut, dass das schon wieder passiert. Meine Familie ist gegangen, und jetzt kommen sie zurück und finden alles beschädigt, aber wie sie im Dorf sagen, Gottseidank ist es nur das Haus, gut dass niemand verletzt wurde! Das ist Krieg, das ist das Spiel mit Israel, du versuchst immer, mit dem geringsten Schaden wegzukommen und dankbar dafür zu sein; das ist es, was mich am meisten empört."

Eyal (Isr.): "Das war das zweite Mal, dass ich in einem Krieg war, in dem ich eigentlich hätte getroffen werden können - das erste Mal war im ersten Krieg gegen den Irak 1991. Ich war damals 11 Jahre alt und die Leute waren sehr verängstigt. Alle trugen Mundschutz und drängten sich in abgedichteten Räumen umeinander, aus Angst vor einem Angriff mit chemischen Sprengköpfen - der zum Glück nicht stattfand. Diesmal war es weniger beängstigend, weil nur gewöhnliche Waffen eingesetzt wurden, obwohl es hätte mehr Angst auslösen müssen, weil diesmal mehr Raketen fielen. Seltsamerweise habe ich das irgendwie verdrängt und mich nicht so sehr gefürchtet. Mein Bruder hat mich gefragt, ob ich es für besser halten würde, wenn er in unserem Wohnblock im Flur in der Nähe des Aufzugs bliebe und ich habe zu ihm gesagt, 'ja, geh du dahin', damit er mich in Ruhe ließ. Aber eine Menge anderer Leute, die ich kenne, bekamen ganz schön Angst und manche haben sogar die Stadt für eine Weile verlassen. Es war ihr Pech, dass der Krieg sich fast einen ganzen Monat lang hinzog. Die meisten mußten zurückkommen, bevor die Bedrohung durch die Raketen vorbei war.

Es war auch der erste 'wirkliche' Krieg, den Israel anfing, den ich erlebt habe, denn der Konflikt mit den Palästinensern ist kein richtiger Krieg, es ist mehr so etwas wie eine anhaltende koloniale Kontrolloperation mit ein paar gelegentlichen militärischen Aktionen. Es war sehr eigenartig für mich zu sehen, dass die Regierung einfach, na ja, 'ein paar Knöpfe drücken' kann und die Leute ziehen wirklich einfach los und kämpfen für sie, machen eine Invasion für sie und unterstützen sie. Das war ziemlich deprimierend."


Warum wird dieser Krieg geführt? Was bedeutet er für euch?

Imad (Lib.): "Warum!! Spielt das eine Rolle? Nichts in so einer Art Kosten-Nutzen-Debatte wird jemals einen Sinn ergeben. Es geht um das Wie. Wie kann Israel, nach all dem, was es in Palästina anrichtet, so weit gehen wie jetzt im Libanon, ohne dafür auch nur eins auf die Finger zu kriegen."

Anat (Isr.): "Es gibt Millionen Gründe. Die Militärs wollen immer Kriege führen. Ganz besonders jetzt, wo eine Kürzung des Militärhaushalts geplant war. Das war eine gute Gelegenheit, die Notwendigkeit einer strengen Militärherrschaft über unsere Leben zu beweisen. Olmert und Peretz haben einen bürgerlichen Hintergrund. Ganz anders als die große Mehrheit der politischen Führungsschicht in Israel. Sie haben keine militärische Vergangenheit und wurden deswegen dauernd kritisiert. Nun wollen sie beweisen, dass sie stark sind. Grundsätzlich ist die Teilnahme an Kriegen eine wichtige Voraussetzung für politische Positionen in Israel. Ich denke auch, dass sie Syrien in diesen Krieg mit hineinziehen wollten, damit die USA einen Grund für einen Angriff auf Syrien gehabt hätten. Sie dachten auch, sie können die Hisbollah und Hassan Nasrallah auslöschen, als wenn das Auslöschen der Hisbollah ein für alle mal den Aufstieg einer anderen Partei gegen Israel verhindern würde. Ehrlich gesagt kann ich schwer verstehen, warum sie den Krieg führten. Von meinem Gefühl her geht es in diesem Krieg darum, wer den größten Schwanz hat. Auf mich wird geschossen und Menschen töten in meinem Namen und mit meinem Geld für diese ganze patriarchale Ehrenscheiße. Dieser Krieg macht mich krank und als Frau sogar noch kränker."

Eyal (Isr.): "Ich kann nicht sicher sagen, worum es geht. Einerseits könnte man sagen, dieser Krieg hat Israel ein paar begrenzte politische Erfolge eingebracht. Wie beispielsweise, dass die libanesische Armee, jedenfalls offiziell, in den Südlibanon zu ziehen hatte, damit es so aussah, als sie die einzige bewaffnete Streitkraft dort... Andererseits war der Krieg ein ziemliches Desaster. Die Hisbollah war bei vielen Angriffen relativ erfolgreich: Sie traf die Infanterie, sie traf die Panzer und in einigen Fällen sogar Sondereinheiten und einen Hubschrauber. Es wurde gezeigt, dass Israel den Raketenbeschuss der Hisbollah stoppen konnte. Die israelische Regierung klopfte eine Menge lächerlicher Sprüche, als der Krieg anfing: 'Hassan Nasrallah wird den Namen Amir Peretz nie vergessen' und soweit ich weiß, sagte Olmert etwas über das Wegwischen der Hisbollah vom Gesicht der Erde, vielleicht hörte es sich aber auch nicht so absolut an. Und jetzt gibt es in Israel eine Erschütterung in der Politik. Viele Führungskräfte beschuldigen sich gegenseitig, viele Menschen fordern den Rücktritt von Olmert, Peretz und Halutz. Viele Leute betrachten sie und diese Regierung als Versager.

Eine wichtige Frage ist, warum die USA Israel nicht zurückhielten. ? Sie hielten sie weder davon ab, diesen Krieg zu beginnen, noch unternahmen sie irgend etwas, um Israels Militäraktionen einzuschränken, oder den Krieg zu einem schnellen Ende zu bringen. ? Statt dessen feuerten sie Israel geradezu an. Sollte man diesen Krieg also als eine Art vorbereitenden Stellvertreterkrieg für den Krieg zwischen den USA und dem Iran betrachten? Ich weiß es nicht. Ich habe in diesem Punkt mehr Fragen als Antworten."

Was ist mit der Hisbollah? Wie seht ihr sie?

Eyal (Isr.): "Also für eine fundamentalistische, islamistische, pro-staatliche und nicht-kapitalistische Organisation, könnte man sagen, ist die Hisbollah auf eine Art anständig.

Aber im Ernst, ich bin mit der Politik des aktiven Widerstands gegenüber der israelischen Militärpräsenz im Libanon definitiv einverstanden, einschließlich des Guerrillakriegs. Mit der Tatsache, dass eine Menge militärischer und wahrscheinlich auch finanzieller und logistischer Unterstützung von der iranischen Regierung kommt, bin ich nicht so einverstanden. Aber wenn ich ein tiefreligiöser Schiite wäre, hätte ich kein Problem damit, iranische Hilfe anzunehmen. Ich bin gegen den größten Teil der Hisbollah-Politik: gegen die Stärkung traditioneller Sozialbeziehungen, insbesondere in der Familie, gegen die Unterstützung der kontinuierlichen Existenz des Staates Libanon (wenn auch nicht notwendigerweise in der aktuellen Form) und gegen Staaten im allgemeinen. Aber um ehrlich zu sein, weiß ich nicht wirklich viel über Hisbollahs Positionen in bezug auf interne soziale Anliegen. Vielleicht sind sie besser (oder schlechter) als ich denke."

Anat (Isr.): "Ich unterstütze die Hisbollah auf die Art, auf die ich unterdrückte Menschen unterstütze. Aber wenn sich die aktuelle Machtverteilung ändert, kann ich sie nicht weiter unterstützen, weil sie eine hierarchische, patriarchale Macht darstellt, die die Unterdrückten anführt und die Unterdrücker-Logik aufrecht erhalten will. Sie wollen selbst die Unterdrücker sein, deshalb bin ich genauso gegen sie, wie ich gegen die Machtausübung der Regierung in Israel bin. Aber die Situation der Hisbollah unterscheidet sich von der Situation der Regierung in Israel, weil hier klar ist, wer die Unterdrückten sind und ich halte immer zu den Unterdrückten. Israel ist anders. Israel ist nicht schlimmer als jeder andere kapitalistische Staat, bloß ist es mein Problem. Als jemand mit einem Ashkenazi-israelischen (jüd.-europ. Zweig) Hintergrund ist es meine verdammte Verantwortung."

Imad (Lib.): "Trotzdem ich ideologisch und strukturell überhaupt nicht mit der Hisbollah einverstanden bin, ist es mir unmöglich, die Gefangenennahme (und nicht das Kidnapping, wie die Mainstream-Medien es nennen) der zwei Soldaten zu verurteilen oder der Hisbollah jegliche Schuld für den von Israel geführten Krieg zu geben. Hisbollah ist eine religiöse, fundamentalistische, patriarchale Partei, gegen die ich genauso bin wie gegen jede andere. Übereinstimmen könnten wir in der Frage des bewaffneten Kampfes gegen die israelische Kriegsmaschinerie. Aber wir haben dennoch ernsthafte Meinungsverschiedenheiten auf verschiedenen Ebenen. Diese stellten sich bei meinen politischen Aktivitäten im Libanon heraus, wo ich unterschiedliche politische Konfrontationen mit ihnen erlebt habe. Sogar auf der persönlichen Ebene hatte ich als jemand aus einer muslimisch-schiitischen Familie jede Menge Konflikte mit ihnen. Ich kann die Hisbollah endlos kritisieren und auch einige der Strategien, die sie in diesem Krieg angewendet haben. Aber ich kann weder die Gefangenennahme der zwei Soldaten noch ihren bewaffneten Kampf gegen die israelische Militärmacht verurteilen und ich werde auch keinerlei Aufrufe für ihre bedingungslose Entwaffnung unterstützen. Die Gefangennahme wurde als Manöver zum Gefangenenaustausch mit libanesischen Gefangenen, die teilweise seit 1975 in israelischen Gefängnissen sitzen, deklariert. Was war Israels Reaktion? Mehr als 1.000 zivile Tote, mehr als 4.000 Verletzte, ungefähr 1 Million Flüchtlinge, geschätzte 15.000 Tonnen treibendes Schweröl im Mittelmeer und eine Zerstörung der Infrastruktur im Wert von 2,8 Milliarden Euro ? und es geht immer noch weiter. Die Schadenshöhe ist unglaublich und die Reaktion darauf ist lächerlich und abscheulich. Und dazu kommt noch, dass die Hisbollah aufgrund dieses Krieges leider mehr öffentliche Zustimmung erfährt als je zuvor ? und komischerweise hat sie sich das bis zu einem gewissen Grad verdient

Könnt ihr uns einen Überblick aus erster Hand geben über die Anti-Kriegs-Bewegung in euren Ländern? Und was könnt ihr uns über die Reaktionen zum Krieg sagen?

Eyal (Isr.): "Was für eine Antikriegsbewegung!? Es war nur die nicht-zionistische Linke, wie immer ? zusammen mit palästinensischen Parteien, den unterschiedlichen progressiven Nichtregierungsorganisationen, den winzigen Marxistengruppen, und ein paar Anarchisten, Pazifisten, LGTBQ-Aktivisten ... usw. (natürlich überlappen sich einige dieser Kategorien). Kann sein, dass bei einigen Leuten nach der dritten Kriegswoche eine gewisse Desillusionierung über den Krieg eingetreten ist, aber spontane massenhafte Anti-Kriegs-Aktivitäten gab es eigentlich nicht."

Anat (Isr.): "Ich möchte mit den Schwierigkeiten anfangen; die größte Schwierigkeit bei diesen Aktionen war, daß der Haß explosionsartig zunahm, obwohl unsere Slogans nicht besonders radikal waren. Wir waren eine sehr kleine und gemischte Gruppe, obwohl wir versucht haben, das Komitee so breit wie möglich zu organisieren und möglichst viel Unterstützung gegen den Krieg zu bekommen. Wir haben versucht, einen Minimalkonsens und Formulierungen zu finden, auf die wir uns alle einigen konnten. Deshalb haben wir beschlossen, die 'Anti-Kriegs'-Botschaft zu nehmen , Stoppt das Bombardement, Stoppt den Krieg, Lasst alle Gefangenen frei, Stoppt die Bombardierung sofort und bedingslos; sehr gemässigte Botschaften, nicht vom Radikalsten, wie der Anti-Zionismus. Es war eine sehr einfache Botschaft, dass man den Krieg stoppen soll und dass Israel die Verantwortung trägt. Diese einfache Botschaft war beispielsweise eine legitime politische Meinung gegen Ende des letzten Krieges gegen den Libanon, nicht die Mehrheitsmeinung, aber sie gehörte zum legitimen politischen Diskurs. Plötzlich wurde das eine äußerst verräterische Ansicht, das schlimmste, was man einem Israeli sagen konnte. Die meisten Menschen, die anhielten, um auf unsere Aktionen zu reagieren, wünschten uns, dass wir sterben. Leute kamen mit Eiern an, die sie auf uns werfen wollten. Eine der Demonstrantinnen, die in der Nähe der Demo geparkt hatte, wurde von irgendwelchen Rechten bis nach Hause verfolgt und ihre Mutter mit Stöcken geschlagen, als sie die Tür öffnete. Manchen wurde telefonisch gedroht, dass man eine Granate auf die Demonstration werfen würde. Das erinnert an einen früheren Vorfall 1983, als ein Anti-Kriegs-Demonstrant auf diese Weise tatsächlich getötet wurde. So stark war der Hass, den sie gegen eine bloße Stellungnahme gegen den Krieg hatten. Sie haben das als eine echte Bedrohung empfunden. Das, was als Mainstream zugelassen ist, wurde extrem eng ausgelegt, die Leute verstanden den Slogan Stoppt den Krieg als Tötet alle Juden. Die Reaktionen waren absurd. Für sie war alles an diesem Krieg gerechtfertigt,da sie ja dachten, Israel sei in den Krieg gedrängt worden. Wenn es zweifelhaft ist, ob ein ziviles Gebiet irgendwie mit der Hisbollah in Zusammenhang steht, reicht das aus, um es zu bombardieren. Alle haben im Geist eines Nikolai Jezhov gehandelt, Chef der NKVD (sowjetische Geheimpolizei) in der Zeit des Stalinismus, der zu den Gräueltaten des stalinistischen Regimes gesagt haben soll, dass es besser sei, wenn zehn unschuldige Menschen leiden, als dass ein Spion entkomme - wo gehobelt wird, da fallen Späne.' Für Israel läuft immer noch alles nach dem Motto, wo gehobelt wird, fallen Späne.

Die Polizisten waren echte Schweine, obwohl das auch davon abhing, wo die Aktion stattfand. In Tel Aviv zum Beispiel haben sie Leute verprügelt. Aber in Haifa, wo die Polizei immer weniger gewaltbereit war als in Tel Aviv, haben sie uns nicht geschlagen, sondern die rechten Demonstranten dazu angehalten, uns zu verprügeln. In Haifa haben sie ständig Leute festgenommen und sie nur wegen Teilnahme an einer Anti-KriegsWache unter Hausarrest gestellt. Später haben sie uns etwas mehr geschützt und haben die Rechten davon abgehalten, uns anzugreifen. Auf der anderen Seite ist die Gewalt in Tel Aviv eskaliert; da haben sie zum Beispiel während der Demo vor dem Haus von Dan Halutz (Israels Generalstabschef) Demonstranten brutal zusammengeschlagen und verjagt. Einige sind in Ohnmacht gefallen und ein paar mußten ins Krankenhaus gebracht werden.

Die israelischen Medien haben immer die gleiche Geschichte erzählt: Es handele sich um einen gerechten Krieg, und Israel sei in ihn verwickelt worden. Sie wollten den Anschein erwecken, es sei ein Krieg gegen Israel und Israel müsse reagieren. Das waren die üblichen Worte, keine Diskussion darüber, ob der Krieg gerecht oder ungerecht sei, nur technische Details, zum Beispiel ob man im Libanon bis zum Litany vordringen solle oder bis dahin, wo sie dann waren oder ob sie die Infanterie reinschicken oder nicht. Es war in Ordnung sich zum Verlauf der Kämpfe an der Front kritisch zu äußern, aber nicht darüber, wie man diesen Wahnsinn beenden sollte. Wenn wir überhaupt in den Medien erwähnt wurden, dann nur sehr selten. Zum Beispiel haben wir fast täglich demonstriert, aber die Medien teilten uns mit, sie könnten über die heutige Demo nicht berichten, da sie schon über die gestrige berichtet hätten. Wir gaben mehr Interviews an ausländische Medien, sogar an arabische Medien. Das war etwas, was wir wirklich wollten. Wir wurden ein paar Mal in LBCI (libanesischer TV-Sender über Satellit) erwähnt. Ich habe sogar gehört, dass im Hisbollah-Radio, El Nour, gesagt wurde, sie würden die Brutalität der Polizei gegenüber den Demonstranten in Tel Aviv verurteilen.

Die Bewohner von Haifa erklärten den 16. Juli zum ersten Kriegstag, als eine Katuscha-Rakete den Bahnhof traf und acht Leute tötete. Das war 4 Tage, nachdem der Krieg für die Libanesen begonnen hatte. An diesem Tag entschied sich eine Frauengruppe, eine Anti-Kriegs-Gruppe zu gründen. Sie marschierten zum Bahnhof, um gegen den Krieg zu protestieren und über die anwesenden Mainstream-Medien eine Botschaft zu verbreiten. Von Kanal 10 wurde ihnen mitgeteilt, dass ihre Aktion nicht gesendet werden könne, weil es keine Anti-Kriegs-Bewegung gebe. Man hatte den Nerv, uns sogar dann noch zu verleugnen, als wir da waren. In Tel Aviv waren 4.000 ? 5.000 Leute auf einer Demonstration, in Haifa ungefähr 300, nicht zu reden von anderen Orten. Aber sie taten immer noch so, als gäbe es uns nicht.

Es war ermutigend, dass die wöchentlichen Demonstrationen an der Apartheids-Mauer weitergingen. Sie wurden von Palästinensern gemeinsam mit der ISM (International Solidary Movement), den `Anarchisten gegen die Mauer´ und anderen organisiert. Auch die Repression dagegen setzte sich fort, obwohl es Israel gelang, die Weltaufmerksamkeit weg von dem, was in Gaza und auf der Westbank passiert, nach Libanon zu lenken. Erst vor kurzem, am 11.August schossen sie in Bil´in aus nächster Nähe mit gummiummantelten Kugeln auf den israelischen Rechtsanwalt und Aktivisten Lymor Goldstein. Er lag daraufhin im Koma. Wir können nicht vergessen, was in Gaza passiert, und dass die Mauer immer weiter gebaut wird. Während dieses Krieges im Libanon brachten sie im Gazastreifen an einem Tag ungefähr 23 Menschen um, aber niemand sprach darüber. Die Menschen in Gaza werden ausgehungert. Ihnen wird dringende medizinische Hilfe verweigert. Es ist komplett verrückt. Gaza ist ein riesiges Konzentrationslager, wo sie die Leute langsam ermorden."

Hazem (Lib.): "Ich erinnere mich, dass ich sehr gelacht habe, als ich meinem Vater zuhörte, der sich fragte, wo die Araber sind, während wir bombardiert werden. Man fragt sich, wo denn die ganze Welt ist und wie die Menschen das akzeptieren können. Sie akzeptieren es einfach und reagieren genauso wenig, wie wir nicht auf den Krieg im Irak reagiert haben oder uns einen Scheiß darum kümmern, dass die Menschen in Afrika zu Tode hungern. Der größte Teil der libanesischen Anti-Kriegs-Bewegung basierte auf nationalistischen und/oder wirtschaftspolitischen Interessen. Die kleine Zahl linker Aktivisten oder Pseudo-Parteien war zu schwach, um eine wahrnehmbare Aussage zu transportieren oder eine proaktive Position einzunehmen ohne Rücksicht auf die Reaktion der verblendeten Bevölkerung.

Die libanesische Anti-Kriegs-Bewegung konzentrierte sich auf Hilfsleistungen, die sich mehrheitlich nicht von der Mainstream-Politik unterschieden. Die politischen Mainstream-Parteien/Organisationen schickten ihre Mitglieder wie üblich in die Flüchtlingslager, wo sie ihr Gesicht in die Kamera hielten und für mehr öffentliche Unterstützung ihrer Parteien/Organisationen warben. Dieselben Parteien/Organisationen, die ihre Anwesenheit und Fahnen in unabhängigen Flüchtlingslagern durchsetzten, begannen eine Woche, nachdem der Krieg begonnen hatte, mit ihrer Arbeit. Sie steckten Unmengen von Geld in die Öffentlichkeitsarbeit und riefen die Leute zum Spenden auf, bevor sie überhaupt mit ihren Hilfsaktionen vor Ort begannen. Das Welternährungsprogramm spendete zum Beispiel 10 Tonnen Nahrungsmittel an ein Flüchtlingslager. Die Verteilung der Lebensmittel von bezahlten Angestellten an die Flüchtlinge wurde von mehr als zwanzig Kameraleuten gefilmt.

Viele Mainstreamorganisationen behaupteten, dass sie den Südlibanon nicht erreichen und daher keine Hilfe leisten können. Mit unserer Aktion haben wir gezeigt, dass dies nicht stimmt. 7 Aktivisten von RASH gelang es, zu Fuß in den Süden zu kommen und Nahrungsmittel mitzubringen. Die Mitglieder von Parteien und Organisationen wollen ihr Leben nicht riskieren. Zunächst hielten alle unsere Aktion für einen Scherz, insbesondere nachdem wir Spenden ablehnten, es sei denn sie kämen von Einzelpersonen oder von radikalen Organisationen. Trotzdem gelang es uns, den Menschen im Süden, die unter Belagerung waren, eine Tonne Lebensmittel zu bringen. Ich möchte der Samidoun-Initiative (die vom Sanayeh-Hilfszentrum stammt) meinen Respekt aussprechen. Sie schaffte es, eine Graswurzelkoalition mit Menschen zu bilden, die helfen wollen."

Kürzlich wurde von libanesischer Seite von der sogenannten 'Libertären kommunistischen Alternative' ein Kommuniqué herausgegeben. Es zirkulierte auf bestimmten anarchistischen/anti-autoritären Internetseiten und Listen und erregte Aufsehen. Was denkt ihr darüber?

Hazem (Lib.): "Ich finde es beschämend. Es beschreibt die aktuelle Regierung, die kürzlich an die Macht kam, als vor-revolutionär, das ist Blödsinn. Diese Regierung basiert auf dem gemeinsamen Interesse ? was seltsam genug ist ? ideologisch völlig verschiedener Parteien; Parteien, die sich von anti-syrischem Rassismus nähren. Ich spreche hier nicht vom Rückzug der syrischen Truppen, sondern von der Gewalt, die an syrischen Zivilisten im Libanon ausgeübt wird, die sowieso schon ausgebeutet und diskriminiert werden. Die 'Libanesische Kommunistische Alternative' nahm niemals an irgendwelchen politischen Aktionen teil, wir sind ihnen nie irgendwo begegnet, und sie weigerten sich, uns zu treffen. Ich könnte sie hier seitenlang kritisieren, aber ich will nicht meine Zeit verschwenden, sie sind bedeutungslos, es ist nicht der Name einer Organisation, der einen zum Anarchisten macht."

Imad (Lib.): "Ich muß sagen, dass ich von ihnen als Gruppe niemals gehört habe. Der Name der Organisation war mir zum Beispiel neu. Ich hörte von einem Typ in Beirut, der zu dieser sogenannten Gruppe gehört, aber ich weiß nicht wirklich, wer die anderen sind, wenn es überhaupt andere gibt. Was das Kommuniqué angeht, es repräsentiert weder mich noch die Art von Politik, die ich als libertär oder anarchistisch bezeichnen würde. Auf der lokalen Ebene setzt es die Hoffnung in das 14.-März-Bündnis, ein kapitalistisches Bündnis innerhalb der herrschenden Klasse im Libanon, die korrupt und kapitalistisch ist, sich vom Elend der Leute nährt und dieses Elend aktiv fördert. Aus diesem Bündnis können viele leicht mit Parteien und politischen Strömungen in Verbindung gebracht werden, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, nicht nur während des libanesischen Bürgerkrieges, sondern auch gegen die palästinensische Bevölkerung im Libanon. In so ein Bündnis, eine sogenannte 'Bewegung', sollte man niemals Hoffnung setzen, sondern man sollte es eher bekämpfen. Dieses Kommuniqué erinnert mich an die irakische Opposition außerhalb Iraks, die den US-Krieg unterstützt hat. Es waren dieselben, die das Ba´ath-Regime aus ihren klimatisierten Häusern in Europa und Nordamerika bekämpften und die sich jetzt als herrschende Klasse im Irak eingerichtet haben. Dabei kollaborieren sie mit jedem Staat und jedem Konzern, um die irakischen Menschen genauso auszubeuten und zu terrorisieren wie Saddam es tat."

Obwohl dieser Krieg eindeutig nicht zu Ende ist, scheint die Welt nicht mehr an dem interessiert zu sein, was gerade passiert ist. Man konzentriert sich jetzt auf die Positionierung der 'internationalen UN-Friedenstruppe' im Süden Libanons als die Retter in der Not. Was denkt ihr darüber?

Anat (Isr.): "Das kommt mir alles so lächerlich vor, was werden die denn schon tun? Es ist eine Art Medien-Kampagne, Bush und alle diese Führenden wollen zeigen, dass sie etwas unternehmen. Dabei ist es offensichtlich, das Krieg und nicht Frieden auf der Agenda steht. Wir haben es hier ganz offensichtlich mit dem Vorspiel für den nächsten Krieg im Mittleren Osten zu tun. Die UN-Truppen werden gar nichts beenden. Sie waren dort stationiert, als Israel für 18 Jahre den Libanon besetzte und ihre Hauptquartiere wurden von Israel mehrfach bombardiert."

Imad (Lib.): "Lächerlich ist das Mindeste, was man dazu sagen kann. Wofür? Selbst wenn sie dafür gedacht wären, etwas zu tun, warum im Süden Libanons? Israel ist der Aggressor, warum werden sie dann nicht im Norden von Israel/Palästina positioniert? Wen sollen sie denn vor wem schützen? Israel hat 1996 eine UN-Basis in Qana im Libanon bombardiert und dabei 100 Flüchtlinge umgebracht. Sie waren in dem Glauben auf die Basis geflüchtet, dass der äußerst sichtbare UN-Posten von israelischen Angriffen ausgenommen wäre. Und was geschah daraufhin? Eine Entschuldigung und etwas politische Scharade. Sie haben es bei den letzten Angriffen wieder getan und ermordeten 4 UN-Angestellte bei der Bombardierung einer UN-Basis im Süden Libanons. Diese internationalen Friedenstruppen sind genau wie die UN eine heuchlerische Lüge und nur eine weitere Art der Geld- und Kraftverschwendung. Die UNO ist eine hierarchische Behörde, eingesetzt um die Welt zu domestizieren. Sie unterstützt Staatsterrorismus und die Ausbeutung der Armen. Sie ist wertlos und muß berechenbar gehalten werden. Ich würde weder von der UNO noch von ihren Truppen irgend etwas Gutes erwarten."

Eyal (Isr.): "Sie sind ausländische imperialistische Invasoren, die sofort das Land verlassen sollten; ich würde mich nicht beklagen, wenn ihnen Kugeln durch die Köpfe gejagt würden. Wirklich, wenn sich diese europäischen Arschloch-Staaten nur etwas um das Leben und die Sicherheit der Menschen in dieser Region sorgen würden, hätten sie Luftabwehrgeschütze geschickt und sie im Libanon stationiert. Das hätte jeglichen Angriff auf libanesische Dörfer und Städte verhindert."

Hazem (Lib.): "Was sind die Vereinten Nationen letzten Endes anderes als ein Werkzeug in der Hand der Mächtigen, zur Schwächung der Schwächeren. Ich verweigere jede Art der Kooperation mit dieser Struktur. Das ist, als würde man auf seinem Totenbett mit dem Rauchen aufhören."

Hier hörte die Befragung auf, aber mit den Fragen sind wir nicht am Ende.
Dies war der Anfang ? der Anfang dauert jetzt schon eine ganze Weile - und dies ist die erste niedergeschriebene Diskussion unter uns. Dabei geht es um Gedanken, um Wut und um Solidarität. Es ist nur der Anfang einer tieferen Diskussion, tieferen Reflektion und lauteren Wut. Viele Fragen sind noch zu beantworten und müssen diskutiert werden. Der Krieg hatte gerade begonnen... mal wieder.

Editorische Anmerkungen

zusammengestellt von Qursana! ? (Qursana = Piratin)
Übersetzung aus dem Englischen Regina Schwarz

http://qursana.blogspot.com

Homepage:: http://www.beirut.indymedia.org/ar/2006/09/5563.shtml |

Der Artikel erschien bei Indymedia am 23.09.2006