Über den Unterschied zwischen linker Kritik und Kritik der Politischen Ökonomie
Thesen zu grundsätzlichen Verständnisfragen aktueller Gesellschaftskritik

von Robert Schlosser
09/06

trend
onlinezeitung

1. Linke Kritik am Kapitalismus ist geläuterte Kritik, eine Kritik, die unter Vorbehalten formuliert wird. Diese Vorbehalte bestimmen die Grenzen der Kritik. Eine solche Kritik kann enthüllen, anklagen, für die Opfer des Kapitals Partei ergreifen, aber sie kann nur noch beschränkt verstehen und erklären und sie kann schon gar keine Perspektive zur Überwindung des Kapitalverhältnisses eröffnen. Linke Kritik erklärt die gesellschaftliche Entwicklung nicht mehr aus einem ökonomischen Bewegungsgesetz sondern spricht von veränderlichen „Akkumulationsmodellen“, von möglichen „Paradigmenwechseln“ und damit von der Gestaltbarkeit des Kapitalismus. Das letzte Wort linker Kritik wird immer der Reformismus bleiben (Keynesianismus), manchmal auch ein utopischem Reformismus (sei es das BGE oder die solidarische, solare Ökonomie).

2. Was sind die Vorbehalte linker Kritik, die die Kritik der Politischen Ökonomie verstummen lassen? Diese Vorbehalte werden formuliert wie Glaubenssätze und ähneln denen der bürgerlichen Marktideologen. Sie beziehen sich zumeist auf die Erfahrungen des „realen Sozialismus“, auf die Erfahrungen der lange erfolgreichen kapitalistischen Entwicklung nach dem 2. Weltkrieg, verarbeiten den Verlust des „revolutionären Subjekts“ auf bestimmte Weise oder sie beziehen sich gar ganz platt auf individuelle Erfahrungen in „alternativen Lebensformen“, „reflektieren“ Erfahrungen aus Wohngemeinschaften. (Schon da habe es mit der Verteilung der Arbeit nicht geklappt.)

Allen Vorbehalten ist gemein, dass eine moderne Gesellschaft ohne Markt und Geld einfach nicht vorstellbar und machbar sei. Diese Vorbehalte gelten ihren Vertretern als so selbstverständlich, dass sie sie nicht einmal gründlich begründen müssen. Es handelt sich um Vorbehalte, die ganz und gar dem bürgerlichen Mainstream entsprechen und gerade deshalb keiner weiteren Begründung bedürfen.

Drei Beispiele:

In einer Polemik gegen die Grün-Alternative-Liste in Hamburg formulierte es der Ex-KBWler Wilfried Meier 1989 so:

"Je differenzierter sich eine Gesellschaft entwickelt hat, um so zerstörerischer müßte sich der Versuch einer freien Assoziation der Produzenten ohne Marktbeziehungen, ohne besondere Verwaltungs- und Staatsapparate auswirken...Gewaltsame Gedankenkonstrukte, ernsthaft umgesetzt in politisches Handeln und versehen mit politischer Macht, legen terroristische und totalitäre Konsequenzen nahe - und das hat nicht nur mit der Rückständigkeit Rußlands zu tun.“ (KOMMUNE Nr.3/89 S.46)

In seinem Buch „Die Zukunft des Marktes formulierte es Elmar Altvater 1991 so:

„Der von Marx gegen die verdinglichte Vergesellschaftung der Marktwirtschaft angedeutete 'Verein freier Menschen' kommt, wenn es sich bei dem Verein um eine Massengesellschaft handelt, ohne die Entlastungen, die die verdinglichte 'Zurückspiegelung' der Gesellschaftlichkeit in den Waren und im Geld bietet, nicht aus." (Elmar Altvater „Die Zukunft des Marktes", Verlag Westfälisches Dampfboot Münster 1991, S. 359)

Und in ihrem Plädoyer für eine „sozialistische Markwirtschaft“ zogen Joachim Bischoff und Michael Menard von den SOST 1990 die Lehren aus dem „realen Sozialismus“ so:

„Sein Zusammenbruch zeigt, daß eine soziale Steuerung der Ökonomie ohne Marktwirtschaft nicht möglich ist.“ (Joachim Bischoff/Michael Menard „MARKTWIRTSCHAFT UND SOZIALISMUS", VSA Verlag Hamburg 1990, S.37)

Damit klar, wie weit Kritik gehen darf, und wo sie aufhören muss. Oder?

3. Es ist aber auch klar, dass derjenige, der Kritik unter solchen Vorbehalten formuliert, nicht mehr an die Wurzel des Übels und damit des sozialen Elends im Kapitalismus, gehen kann. Sind Privateigentum, Ware und Wert einmal als unabdingbar akzeptiert, muss auch die Kritik am Kapital „modifiziert “ werden. Es geht dann nur noch um die „radikale“ Kritik einer bestimmten Form des Kapitals, des „entfesselten Kapitalismus“, des „entbetteten“ Marktes usw.. Die theoretische Distanz zur „Kritik des Heuschreckenkapitalismus“ schwindet. Von einem allgemeinen Bewegungsgesetz, dass sich in einer bestimmten Veränderung der Gesellschaft ausdrückt, ist nirgends mehr die Rede.

4. Die Kritik der Politischen Ökonomie (um die sich Leute wie Altvater oder Bischoff früher Verdienste erworben haben) beanspruchte im Gegensatz dazu Radikalität, Vorbehaltlosigkeit und Wissenschaftlichkeit in einem anderen Sinne. Mit seiner Kapitalkritik wollte Marx das „ökonomische Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft“ aufdecken. Das bedeutete, die Phänomene der kapitalistischen Gesellschaft samt ihrer Entwicklung und damit ihrer Veränderung, als notwendige Resultate des Verwertungszwangs des Kapitals zu erklären. Das der Wert der Waren durch gesellschaftliche Arbeit bestimmt ist, erschien Marx als eine Selbstverständlichkeit, über die man nicht lange streiten könne. Es ging ihm darum, aufzuzeigen, wie der Wert sich durchsetzt, die widersprüchlichen und sich verändernden Erscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft als notwendiges Resultat des Prozesses der Verwertung von Wert zu beschreiben. Darin bestand sein Wissenschaftsanspruch. (Deshalb wollte er sein „Kapital“ ursprünglich Darwin widmen.) Er konnte sein Kritik nur deshalb so konsequent formulieren auf die Kritik am kapitalistischen Privateigentum zuspitzen, weil er keinerlei Vorbehalte der oben angesprochenen Art machte.

5. Linke Kritik erklärt die aktuelle gesellschaftlichen Entwicklung aus der Hegemonie neoliberaler Ideologie und Politik. Sie erklärt den Neoliberalismus und die durch ihn betriebene Gesellschaftsveränderung nicht aus den Verwertungszwängen des Kapitals (Fall der Profitrate). Die Zerstörung erkämpfter und zugestandener sozialer Reformen erscheint nicht als eine notwendige Entwicklung, die nach der Rekonstruktionsperiode des Kapitals (Periode nach dem 2. Weltkrieg bis Ende der 60iger Jahre) einsetzen musste. Sie wird vorgeführt als politische und ökonomische Fehlentwicklung, der es durch realistische Politik gegenzusteuern gelte. Diese realistische Politik schließt eine „solare Revolution“ nicht aus.

6. Linke Kritik kann sehr nützlich sein, eine hervorragende Anklage des sozialen Elends liefern, mag Phänomene systematisch zu beschreiben, die sonst vielleicht unterbelichtet blieben, aber sie vermag keine Perspektive zur Überwindung des Kapitals zu eröffnen. Dominanz linker Kritik bedeutet letztlich die Preisgabe des Anspruchs auf soziale Emanzipation und beschränkt soziale Phantasie, die darauf ausgerichtet ist. Die Schere im eigenen Kopf beschneidet, was sonst andere beschneiden müssen. Da, wo linke Kritik antikommunistisch wird oder schon ist, wird sie zum Bremsklotz sozialer Bewegung. Soziale Bewegung, die sich primär auf linke Kritik stützt, hat keine Perspektive. Man muss sich entscheiden, durch welche Brille man schauen will und für welchen Horizont sich die Anstrengung des Kampfes lohnt.
 

Editorische Anmerkungen

Den Text erhielten wir im September vom Autor zur Veröffentlichung.

Weitere Texte von Robert Schlosser gibt es im TREND und auf dessen Homepage:

Bedingungen sozialer Emanzipation
Robert Schlossers Werkstatt