Nach wochenlangen Spekulationen nahmen die Gerüchte ein Ende.
Am 4. September 06 trat Algeriens Staatspräsident Abdelaziz
Boutefliqa (Bouteflika) erstmals wieder an die Öffentlichkeit.
An diesem Tag eröffnete er die Sitzung der Gouverneure
arabischer Zentralbanken, die in Algier tagte.
Sein letzter Auftritt zuvor ging auf den 15. Juli dieses Jahres
zurück. Danach hatte er sich nirgendwo blicken lassen, auch
nicht, als wichtige Staatsgäste wie der palästinensische
Präsident Mahmud Abbas oder der Sondergesandte von Russlands
Staatsoberhaupt Wladimir Putin in Algier eintrafen. Offizielle
Informationen über seinen Verbleib gab es keine. Die
Spekulationen über eine schwere Erkrankung des Präsidenten
schossen daher erneut ins Kraut. Bereits sein wochenlanger
Krankenhausaufenthalt im November und Dezember 2005 in Paris war
geheimnisumwittert geblieben. Offiziell hatte Boutefliqa sich
damals nur wegen eines Magengeschwürs behandeln lassen. Aber
sowohl die Dauer seines Aufenthalts in der französischen
Hauptstadt als auch das Ausbleiben jeglicher Lebensäuberung,
oder von glaubwürdigen Informationen über seinen
Gesundheitszustand, lieben
die Gerüchteküche brodeln.
Eine mögliche lebensbedrohliche Erkrankung des Präsidenten wäre
umso schwerwiegender, als das politische System seit seinem
Amtsantritt im Jahre 1999 immer stärker auf die Person des
Präsidenten zugeschnitten worden ist. Auch die Pressefreiheit
ist, durch die Verschärfung des Strafrechts für Pressedelikte
(etwa Präsidenten- oder Staatsbeleidigung) im Frühjahr 2001 und
zahlreiche Prozesse vor allem seit 2004, erheblich eingeschränkt
worden. «In Algerien beschränken sich die politischen
Neuigkeiten auf die Handlungen und Gesten des Präsidenten»
schreibt die Pariser Abendzeitung Le Monde am 30. August
06, unter dem Titel «Algerien in der politischen Sackgasse».
Nun scheint Bouteflika vorübergehend wieder «in Form» zu sein,
ähnlich wie zu Anfang dieses Jahres. Aber noch hängt ein
Schleier der Unklarheit über einer der zentralen Fragen, die in
den letzten Wochen aufgeworfen worden ist: Was wird aus dem
Amnestieangebot an noch im Untergrund befindliche, radikale
Islamisten, die zukünftig ihre Waffen niederlegen?
Amnestieregelung 2006
Ein Gesetz, das am 28. Februar dieses Jahres in Kraft trat, sah
eine solche Amnestie vor – begrenzte ihre Gültigkeit aber auf
sechs Monate. Das bedeutete, dass noch bewaffnet kämpfende
Islamisten vor dem 31. August ihre Waffen niederlegen mussten,
um unter die Amnestieregelung fallen zu können. Danach sollten
Polizei und Armee den «Unbelehrbaren», die in ihren
Unterkünften – in den meisten Fällen Kasematten in den Bergen
östlich von Algier – blieben, zu Leibe rücken.
Ähnlich war es nach dem «groben»
Amnestiegesetz vom Juli 1999 gewesen, infolge dessen damals – am
Ende der «heiben»
Phase des algerischen Bürgerkriegs der neunziger Jahre - über
6.000 bewaffnete Islamisten ihren Kampf einstellten. Als das
damalige Amnnestieangebot im Januar 2000 auslief, führten die
Sicherheitskräfte die «Opération Saif el-Hadjadj» durch:
Saïf bedeutet «Schwert» , und der Überlieferung zufolge
war el-Hadjadj ein besonders hart zugreifender Gouverneur im
Bagdad der frühislamischen Periode. Gerade auf radikale
Islamisten, für die der «noch nicht verunreinigte» Islam der
Frühperiode als Vorbild gilt, sollte dieser Titel beeindruckend
wirken. Infolge des doppelten Einsatzes von Zuckerbrot und
Peitsche gewann die algerische Staatsmacht ab 2000 die Hoheit
über grobe
Teile des Staatsgebiets zurück.
Ergebnisse: eher ernüchternd
Aber die Resultate der diesjährigen Amnestieinitative scheinen
weitaus ernüchternder zu sein. Sicher, es gibt heute auch
weitaus weniger bewaffnete Islamisten in Algerien als noch zu
Anfang dieses Jahrzehnts. Ihre Zahl wurde vor einem Jahr auf
rund 1.000 geschätzt. Dennoch wirkt das Ergebnis des jüngsten
Amnestiegesetzes auf viele algerische Politiker und Beobachter
ernüchternd.
Als Ende August dieses Jahres in Algier eine (vorläufige) Bilanz
nach Ablauf der sechs Monate gezogen wurde, war zunächst von 250
radikalen Islamisten die Rede, die ihre Waffen niedergelegt
hätten. Einige Tage später wurde diese Zahl auf «ungefähr 300»
leicht nach oben korrigiert. Dagegen ist die Rede davon, dass
nach wie vor 800 bewaffnete Islamisten im Untergrund seien. Sie
gehören überwiegend zur «Salafistischen Gruppe für Predigt und
Kampf», dem GSPC. Und Innenminister Yazid Zerhouni gab am 3.
September vor der algerischen Presse zu Protokoll, dass die
Sicherheitskräfte binnen eines Jahres «500 Terroristen getötet
oder gefangen genommen» hätten.
Diese Zahlen bedeuten aber nicht nur, dass die Mehrzahl der noch
im Untergrund kämpfenden Islamisten ihre Waffen nicht
niederlegen möchte. Sie sind vor allem ein Anzeichen dafür, dass
diese Gruppen nach wie vor Kämpfer aus ihrem Umfeld rekrutieren
können. Denn die Gesamtzahl der Ausgestiegenen, der weiterhin
Kämpfenden und der Getöteten ist höher als die vor einem Jahr
angegebene Gesamtzahl der Angehörigen des islamistischen
Untergrunds.
Ein harter Kern der im Untergrund verbliebenen Islamisten - vor
allem des GSPC - machte unterdessen in den letzten Tagen durch
bewaffnete Aktionen klar, dass er nicht aufzugeben gedenkt. Am
Abend des 29. August, kurz vor dem offiziellen Auslaufen der
Frist, starben zwei Polizisten und ein Geschäftsbesitzer bei
einer Schieberei
mit dem GSPC in der Innenstadt von El-Kseur (in der Nähe von
Béjaïa). Am 6. September wurde ein Bombenattentat auf den Chef
der Sicherheitskräfte von Beni Douala, in der Nähe der
Bezirkshauptstadt Tizi-Ouzou, vereitelt. Im Stadtzentrum von
Tizi-Ouzou wurden am selben Tag zwei mutmabliche
bewaffnete Islamisten erschossen. Laut Polizeiangaben sollen sie
neue Anschläge geplant haben.
Alle diese Örtlichkeiten liegen in der Kabylei, einer
berbersprachigen Region östlich von Algier und Rückzugsraum
bewaffneter Gruppen. Im Bergland von Akbou, in derselben Region,
hat die Armee im selben Zeitraum eine gröbere
Operation gegen den bewaffneten Untergrund begonnen.
Ursachenforschung
Ursächlich für die bisher relativ geringen Auswirkungen der
Amnestieinitiative dürfte unter anderem sein, dass auberhalb
der islamistischen Gruppen ein ideologisches Vakuum herrscht.
Seitdem die wirtschaftliche Situation sich, aufgrund des
gestiegenen Rohölpreises, aufgebessert hat – heute sind
offiziell 15 Prozent in Algerien arbeitslos, im Jahr 2000 waren
es offiziell 30 Prozent – gehen viele Menschen ihren Geschäften
nach. Eine politische Diskussion findet kaum statt, und wird
durch das immer stärkere Präsidialregime in den letzten Jahren
auch zunehmend erstickt. Politische Alternativen, die eine
Anziehungskraft entwickeln könnten, scheint es auberhalb
des Islamismus kaum zu geben – auch wenn dieser, aufgrund der
Bluttaten in den 90er Jahren, in den Augen vieler Algerier
ebenfalls diskreditiert ist. An seine Stelle ist aber keine
andere Utopie, kein anderer Hoffnungsträger getreten.
Hinzu kommt, dass den Ausgestiegenen kaum soziale Perspektiven
winken. Einige ihrer früheren Chefs konnten zwar, dank grobzügiger
staatlicher Unterstützungszahlungen, eine gute soziale Position
oder gar eine wirtschaftliche Karriere ansteuern. Etwa der
frühere Chef der «Islamischen Rettungsarmee» AIS, Madani Mezrag,
der eine Mineralwassermarke namens Texanna lancierte –
ein todsicheres Geschäft in Algerien, aufgrund der dortigen
Temperaturen und der nach wie vor nur einige Tage pro Monat
funktionierenden Trinkwasserversorgung durch die Leitungen.
Texanna heibt
der Ort in Nordostalgerien, im Hinterland der Küstenstadt Jijel,
wo bis 1999 das Hauptquartier der AIS bzw. ihres ostalgerischen
Flügels lag.
Forderungen der ehemals bewaffneten Islamisten
Aber viele der «einfachen» Mitglieder der früheren bewaffneten
Gruppen gehören in sozialer Hinsicht zu den Verlierern. Die
ehemalige «Nummer Zwei» der Anfang 2000 aufgelösten AIS, Aoued
Bouabdellah, forderte deshalb in der algerischen Tageszeitung ‘Liberté’
vom 02. September 06: «Nur 2 bis 3 % der Ehemaligen der AIS
haben sich ins Berufsleben eingegliedert. Die meisten arbeiten
hingegen im informellen Sektor, um ihre Familien zu ernähren.
Wie wollen Sie, unter diesen Bedingungen, dass wir die
verbliebenen Terroristen vom Niederlegen der Waffen überzeugen
können, wenn ihnen keine sozialen Perspektiven geboten werden?»
Der Mann fordert, dass der Staat sich «um die
dringlichsten Probleme, d.h. in diesem Fall um die sozialen
Probleme» der Betroffenen kümmere.
Hingegen nutzte der ehemalige AIS-Anführer Madani Mezrag die
Situation, um auf einer Pressekonferenz am 29. August dieses
Jahres auch handfeste politische Zugeständnisse an die früheren
bewaffneten Islamisten zu fordern. Komme es dazu, so «werden wir
die verbleibenden Terroristen aktiv bekämpfen».
Zu diesen Forderungen gehören insbesondere eine Generalamnestie,
statt der bisher in Aussicht gestellten bedingten Amnestie, und
de facto eine Rückkehr der «verbotenen Partei». Dieser
Ausdruck bezeichnet in Algerien die 1992 gesetzlich aufgelöste
Islamische Rettungsfront (FIS). Ihre Wiedergründung hatte die
Staatsspitze, im Zuge der diesjährigen Amnestieinitiative,
ausgeschlossen. Aber die Mitglieder ihrer Auslandsführung und
ihre im Exil lebenden Parteikader (wie Anouar Haddam in
Washington oder Rabah Kebir in Köln/Bonn bzw. Stuttgart), so hieb
es zunächst, sollten unbehelligt nach Algerien zurückkehren
können. Dies ist aber bislang nicht passiert. Anscheinend haben
die Spitzenfunktionäre der islamistischen Partei nicht die
politischen Garantien erhalten, die sie forderten. Auf seiner
Pressekonferenz klagte Madani Mezrag deswegen bürokratische
Verschleppungen der von Bouteflika angekündigten «nationalen
Versöhnung» an. Ferner beschuldigt er direkt ‘Hizb França’
(«Die Partei Frankreichs»). Als solche, also als vom Ausland
gesteuerte fünfte Kolonne der früheren Kolonialmacht, hatten die
algerischen Islamisten in ihrer Hochphase ihre politischen
Gegner diffamiert. Mazrag kündigte ferner an, für die Wahlen im
Jahr 2007 zu kandidieren.
Hinausschiebung der Verwirkungsfrist für die Amnestie?
Auf so weitgehende Forderungen, wie Madani Mazrag sie aufwirft,
wird die algerische Staatsmacht wohl nicht eingehen mögen. Aber
um die jüngste Amnestieinitiative aus ihrer scheinbaren
Sackgasse heraus zu bringen, sind wesentliche Teile der
politischen Klasse Algeriens dazu übergegangen, eine (begrenzte
oder unbegrenzte) Verlängerung der Frist zu fordern, die für die
Wahrnehmung des Amnestieangebots gesetzt wurde. Der Chef der
«Nationalen Befreiungsfront» (FLN) Abdelaziz Belkhadem, der im
Frühsommer durch Präsident Bouteflika zum Premierminister
nominiert wurde und als islamisch-konservativer Nationalist
gilt, hat diese Debatte im August lanciert. Anlässlich der
Sommeruniversität des FLN in Béjaïa sprach er sich für eine
Aufhebung der Ausschlussfrist aus, die den «Unwilligen» nach
Ablauf der sechs Monate drohte. Ihm folgten zahlreiche Kräfte
aus dem algerischen Establishment. Die nationale Organisation
von Veteranen des Unabhängigkeitskriegs und ihrer Angehörigen,
eine mächtige Lobbyvereinigung, sprach sich beispielsweise für
diese Idee aus. Ähnlich die legalen islamistischen Parteien, die
als relativ moderat gelten, wie die «Nationale Reformbewegung»
MRN und die (mit regierende) algerische Hamas-MSP.
Die dritte grobe
Regierungspartei neben FLN und Hamas-MSP, der
bürgerlich-nationalistische RND (Nationale demokratische
Sammlung), nahm eine ähnliche Position mit einigen Nuancen ein.
Ihr Chef, der ehemalige Premierminister Ahmed Ouyahia, forderte
ebenfalls, dass das Amnestieangebot mit Ablauf der sechs Monate
nicht verwirkt sein dürfe. Allerdings forderte er zugleich, dass
«der antiterroristische Kampf fortgesetztwerden » müsse. Auf der
Titelseite der Tagszeitung ‘El Watan’ vom 2. September
zeichnete der Karikaturist Ouyahia dabei, wie er eine rote
Linie auf der Strabe
von Belkhadem und MNR-Chef Abdallah Djaballah.
Ob
die Frist nun verlängert wird oder nicht, ob das Amnestieangebot
also seit dem 1. September verwirkt worden ist, bleibt derzeit
ungeklärt. In seinem ersten Auftritt nach seiner mehrwöchigen
rätselhaften Abwesenheit lieb
Bouteflika sich am 4. September nicht darüber aus. Doch sein
Innenlminister Yazid Zerhouni lieb
am Vortag in der Öffentlichkeit durchblicken, dass die Chance
auf eine Amnestie auch weiterhin gelten werde. «Wenn jemand sich
ergeben will, soll man zu ihm sagen: Nein, kehr in den
Untergrund zurück?» Damit hat er zwar nicht unmittelbar
ausgesprochen, wohl aber – vom Kontext seines Ausspruchs her –
deutlich signalisiert, dass ehemalige islamistische Kämpfer auch
künftig unter das Amnestieangebot fallen können.
Editorische Anmerkungen
Den Artikel schickte uns
der Autor am 8.9.2006 zur Veröffentlichung.