Leseauszug aus: IRRATIONAL, ABER WENIG RADIKAL!
Kann der 'Seiteneinstieg' der Bourgeoisie in den Feudalismus ein Vorbild für eine kommunistische Strategie heute sein?


von
Robert Schlosser
09/06

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Verlassen wir den Übergang Antike-Feudalismus und fragen uns, inwieweit der
'Seiteneinstieg' der Bourgeoisie und ihrer Gesellschaft als Orientierungspunkt einer revolutionären Strategie heute gelten kann. Dabei möchte ich auf zwei wesentliche Gesichtspunkte zu sprechen kommen, nämlich die Besonderheiten der kapitalistischen Produktionsweise und die Besonderheiten der Umwälzung, die wir heute anstreben.
Die Besonderheit der Umwälzung, die wir anstreben ist der Kommunismus, die Abschaffung aller Klassenprivilegien, die Beseitigung der Ausbeutung und Unterdrückung des Menschen durch den Menschen. Dies hat dem Kommunismus seit jeher die besondere Feindschaft aller besitzenden Klassen eingebracht; zumindest dann, wenn er das Feld einzelner Experimente verließ und sich verallgemeinern wollte. Doch dazu gleich mehr.
Wenn der Kommunismus mit dem Anspruch auftritt, die ganze Gesellschaft zu verändern, dann lassen ihm die herrschenden Klassen kaum Spielraum für seine Entfaltung, in welcher Form und Strategie dieser auch immer bewerkstelligt werden soll. Was uns von der Bourgeoisie im Feudalismus unterscheidet,ist, daß wir nicht für neue Klassenprivilegien und für effektivere Ausbeutung kämpfen. Der Feudaladel und aufkommende Bourgeoisie hatten zumindest eine sehr wesentliche Gemeinsamkeit: Beide waren Ausbeuterklassen.
Die ganze Epoche der bürgerlichen Revolution ist nicht nur eine Epoche der Aufstände und der Volksrevolution in verschiedenen Ländern, sie ist auch eine Epoche voller Kompromisse und Koalitionen zwischen der alten und der neuen Ausbeuterklasse. Innerhalb diese Zusammenspiels und dieses Gegeneinander veränderte sowohl die alte Aristokratie ihr Gesicht, wie auch die aufkommende Bourgeoisie. Engels spricht sogar davon, daß die alten feudalen Grundbesitzer sich anschickten „die ersten Bourgeoisie der Nation“ zu werden. (In seinem Aufsatz „Die drei großen Entscheidungsschlachten des Bürgertums“). Marx zeigt in
„Die sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ auf, wie im letzten Drittel des 15. Jhd. und in den ersten Jahrzehnten des 16. Jhd. die Masse des „vogelfreien Proletariats“ in England u.a. durch die Auflösung der feudalen Gefolgschaften entstand. Er weist zugleich auf folgendes hin:

„Vielmehr, ..., schuf der große Feudalherr ein ungleich größeres Proletariat durch gewaltsame Verjagung der Bauernschaft von dem Grund und Boden, worauf sie denselben feudalen Rechtstitel besaß wie er selbst, und durch Usurpation ihres Gemeindelandes. Den unmittelbaren Anstoß dazu gab in England namentlich das Aufblühen der flandrischen Wollmanufaktur und das entsprechende Steigen der Wollpreise. Den alten Feudalhandel hatten die großen Feudalkriege verschlungen, der neue war ein Kind seiner Zeit, für welche Geld die Macht aller Mächte. Verwandlung von Ackerland in Schafweide ward also sein Losungswort.“ (Kapital, Bd. 1, S. 746).

Der Spielraum für die Keime der bürgerlichen Produktionsweise im Feudalismus war relativ groß. Die auf Selbstversorgung ausgerichtete Naturalwirtschaft des Feudalismus hatte ökonomisch gesehen der sich entwickelnden Warenproduktion und Geldwirtschaft nichts entgegenzusetzen. Im übrigen konnte es dem alten Feudaladel recht sein, wenn an Stelle der Naturalabgaben durch die Bauern deren Geldabgaben traten, konnte er sich doch mit dem Geld in den Besitz der auf den Markt kommenden Luxusgüter bringen. Wie das angeführte Beispiel aus England zeigt, wurden die alten Großgrundbesitzer unter bestimmten Bedingungen sogar zu einer Stütze und Reserve für die Entwicklung der bürgerlichen Produktionsweise. Aus den alten feudalen Großgrundbesitzern wurden mehr und mehr kapitalistische Großgrundbesitzer.

Wenn über die Keime der bürgerlichen Gesellschaft und deren Ausdehnung zu Basen der revolutionären Umgestaltung gesprochen wird, so sollte das nicht vergessen werden.
Doch damit nicht genug. Wenn wir ferner an die Herausbildung einer genossenschaftlichen Produktionsweise hier und heute denken, so sollte dabei nicht übersehen werden, daß der Kapitalismus durchaus keine so „tolerante und hilflose“ Ökonomie darstellt wie die feudale. Die feudale Produktionsweise legte der sich ausdehnenden Warenproduktion zwar Hindernisse in den Weg, die letztlich in den großen Revolutionen überwunden wurden, sie hat aber niemals aktiv auf die Keime der bürgerlichen Produktionsweise eingewirkt. Rosa Luxemburg kennzeichnete den Kapitalismus einmal wie folgt:

„Der Kapitalismus ist die erste Wirtschaftsform mit propagandistischem Effekt, eine Form, die die Tendenz hat, sich auf dem Erdrund auszubreiten und alle anderen Wirtschaftsformen zu verdrängen, die keine andere neben sich duldet.“ (Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd.5, Dietz-Verlag, Berlin 1981, S. 411).

Ich würde dem so zustimmen, ohne das an dieser Stelle weiter begründen zu wollen. Etwaige kommunistische Experimente, mit dem Anspruch der Verallgemeinerung versehen, haben es jedenfalls nicht nur mit der im Staat konzentrierten politischen Gewalt der
herrschenden Klasse zu tun, sondern gleichermaßen mit dem stummen Zwang der ungeheuer dynamischen kapitalistischen Ökonomie. Hätte Schmierer sich weniger mit dem Übergang von der Antike zum Feudalismus und vom Feudalismus zur bürgerlichen Gesellschaft beschäftigt und sich stattdessen die Frage gestellt, wie es kam, daß sich die vom Marxismus beeinflußte Arbeiterbewegung so sehr auf die Eroberung der politischen Macht fixierte, dann wäre er über die Erfahrungen gestolpert, die es ihm wohl schwer gemacht hätten, so blauäugig eine Strategie zu präsentieren, die angeblich nicht von der Geschichte desavouiert erscheint. Die marxistische Strategie, die die Eroberung der politischen Macht durch den Klassenkampf in den Mittelpunkt stellt, ist nicht vom Himmel gefallen, und niemand hat sie sich aus den Fingern gesogen. Diese Strategie fand nicht zuletzt deshalb so viele Anhänger, weil andere Strategien, die den Schwerpunkt auf die „Schaffung positiver Beispiele“, auf Schaffung genossenschaftlicher Musterproduktion legten, schon vorher durch die Geschichte bloßgestellt waren.


 

Editorische Anmerkungen

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