DAS POLITISCHE BUCH

jour fixe initiative berlin hg.
Klassen und Kämpfe

09/06

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Mit dem Begriff der Klasse war früher nicht nur Solidarität, sondern sogar die Hoffnung auf die Herstellung der Menschheit verbunden, die negative Universalität des Proletariats sollte durch revolutionäre Aktion in die klassenlose Gesellschaft umschlagen. Die zeitgenössische linke Diskussion über den Klassenkampf, die in den letzten Jahren eher an Umfang als an Schwung und Substanz gewonnen hat, ist dagegen von äußerster Fragmentierung gezeichnet, wie bereits die gängige Pluralisierung des Gegenstandes in „Klassen und Kämpfe“ anzeigt. Die Zeitschriftenhefte, die unter diesem Titel in den vergangenen Jahren gleich dutzendweise  erschienen sind, bieten in der Regel ein Sammelsurium an Überlegungen zu diesem oder jenem Aspekt der Sache, während es um die Theorie eher schlecht bestellt ist, die dergestalt bloßer Niederschlag der wirklichen Fragmentierung des Proletariats bleibt. So auch im Sammelband „Klassen und Kämpfe“, von der Berliner Jour Fixe Initiative im Unrast-Verlag herausgegeben.  

Zu den Beiträgen eher allgemeinen Charakters zählen die Überlegungen von Daniel Bensaid, einem Pariser Professor für Philosophie, der sich an den Elaboraten einiger seiner Kollegen abarbeitet (u.a. „die Theorie der Felder von Pierre Bourdieu oder die der ‚sozialen Körper’ von Claude Meillasoux“), was wohl tun muss, wer seine Brötchen an der Universität verdient. Das alles ist etwas dröge, aber meist nicht verkehrt. Gegen den radikalen Konstruktivismus, dem der Diskurs zum Ersten wird, und gegen die postmoderne Zertrümmerung aller gesellschaftlichen Zusammenhänge, pocht Bensaid auf der unerbittlichen, alle Lebenssphären durchziehenden Wirklichkeit des Kapitalverhältnisses und dem mit ihm unverrückbar gesetzten Klassencharakter der Gesellschaft, der nicht schon deswegen Geschichte wäre, weil das Proletariat sich zeitweilig abseits der historischen Bühne hält. Er stellt richtig fest, die aktuelle Frage sei „sicherlich nicht das Verschwinden der Klassen in einer nebulösen, postmodernen, fragmentierten Gesellschaft, sondern die nach den Metamorphosen der Lohnarbeit, den Unsicherheiten ihres Werdens und den Kämpfen, in denen sich neue Repräsentationen herausbilden.“ Weil Bensaid im Nebenberuf aber auch noch Führungsmitglied der trotzkistischen Wahlpartei Ligue Communiste Revolutionaire (LCR) ist, meint er den Hinweis auf die politische Repräsentation der Klasse nicht gerade kritisch. Ganz im Gegenteil mündet sein Aufsatz in die interessierte Frage, „unter welchen Bedingungen … die Spaltung zwischen der sozialen Bewegung und den politischen Repräsentationen in einer Gesellschaft überwunden werden (könnte), in der der öffentliche Raum verkommt?“ Bensaid, so wird vom Ende seiner Ausführungen her durchsichtig, versichert sich der Wirklichkeit der Klasse, weil er sie repräsentieren möchte.  

Mysteriös fällt Michael Koltans Antwort auf die Frage aus, „Warum die neue Linke so alt aussieht“. Weil sein Beitrag einen großen Bogen von der Marxschen „Revolutionstheorie“ über die Rätekommunisten der 1920er Jahre zur Bewegung 1968 ff. wagt und zentrale Fragen immerhin berührt, verdient er eine ausführlichere Kritik. Er besagt grob verkürzt dies: Marx sah den Kommunismus in der kapitalistischen Vergesellschaftung der Arbeit heranwachsen, die unausweichlich das kapitalistische Privateigentum sprengen werde. Die Revolution dachte er bloß als Übernahme der politischen Macht durch die ebenso allmählich wachsenden Organisationen der Arbeiterbewegung. Dies alles sei „geschichtlich falsifiziert“, weil der Kapitalismus mit der wachsenden Produktivität der Arbeit prima zu Rande komme und die Arbeiterbewegung sich mit dem Bestehenden arrangiert habe. Schon die Rätekommunisten seien eine subjektivistisch-rebellische Gegenbewegung zum Objektivismus wie Etatismus der Marxschen Theorie und der ihr verpflichteten Arbeiterbewegung gewesen. Es ging ihnen um den reinen Akt der Revolte und um die Kulturrevolution, nicht aber den Klassenkampf, was sie allerdings selber nicht kapiert hätten. Dies Selbstmissverständnis habe sich dann in der Neuen Linken potenziert, weil im Zeitalter des Massenkonsums und der Individualisierung die Musik nicht mehr in der Produktion spielt, sondern in der Freizeit; die Lehrlinge revoltierten nach 1968 für ihre lange Mähnen und nicht den schnöden Lohn. Heute sei der Begriff der Revolution „praktisch obsolet“, ebenso der der Arbeiterklasse. Wie dies mit Koltans Befund zusammengeht, wir stünden vor „knallharten sozialen Auseinandersetzungen“, in denen es ums Eingemachte geht, letztlich sogar um die alte Alternative „Sozialismus oder Barbarei“, bleibt schleierhaft. 

Es stimmt schon, dass ein gewissermaßen evolutionistisches Verständnis des Übergangs zum Kommunismus, das die Revolution folglich nur als politischen Akt fasst, zu den schlechteren Hinterlassenschaften von Marx zählt. Doch der Bruch der Rätekommunisten mit dem Etatismus lief nicht darauf hinaus, die „Marxsche Revolutionstheorie“ durch existenzialistische Auflehnung, den Klassenkampf durch Kulturrevolution zu ersetzen. Marx hatte es mit einem noch embryonalen Proletariat zu tun, dessen Selbstaufhebung ihm recht klar vor Augen, ärgerlicherweise aber noch nicht auf der Tagesordnung stand. Überall klebten die Menschen mehrheitlich als Bauern an der Scholle, vielerorts war noch nicht einmal die bürgerliche Revolution vollbracht, während das noch kleine und recht ungebildete Proletariat erste Anstalten zu kämpfen machte. Eben dieser verfluchten Konstellation entspringt Marx’ sozialdemokratischer Etatismus, den er ausdrücklich als Übergangsprogramm formulierte. In diesem Etatismus nicht eine historisch erklärbare Dreingabe, sondern den Kern des Revolutionsbegriffs von Marx auszumachen, der an anderen Stellen zwischen politischer und sozialer Revolution scharf zu trennen wusste, stiftet heillose Verwirrung. Denn eben die soziale Revolution scheint in greibare Nähe gerückt, als die Rätekommunisten ein halbes Jahrhundert später aufkreuzen. Massenstreiks und Räte sind in den Erfahrungsschatz einer immens gewachsenen Arbeiterklasse eingegangen, die Krücke des Staates und das Bündnis mit der fortschrittlichen Bourgeoisie obsolet geworden; so wenigstens ihre unbescheidene Hoffnung. Erstmals scheint die Möglichkeit gegeben, den Klassenkampf zur sozialen Revolution zu eskalieren; vorausgesetzt, die Arbeiter heben nicht wieder neue bürokratische Apparate auf den Schild, sondern schaffen sich Organe, die zur freien Assoziation taugen. Was den radikalen Gehalt der Marxschen Theorie erstmals einzulösen suchte – die rätekommunistische Bewegung für die Selbstemanzipation der Arbeiter – deutet Koltan als Indiz ihrer Überlebtheit (über die wiederum historisch bedingten Grenzen der Rätekommunisten lässt sich erst diskutieren, wenn wenigstens das geklärt ist); während das Engagement von Künstlern, Literaten und Intellektuellen und die antiautoritäre Haltung junger Arbeiter im rätekommunistischen Milieu belegen sollen, es sei um eine vage Kulturrevolution gegangen. Meint Koltan wirklich, Arbeiterunionen und Anarchosyndikalismus, die Rote Ruhr Armee und der mitteldeutsche Aufstand und nicht zuletzt die KAPD, die mit 40.000 Mitgliedern der weichgespülten KPD anfangs ebenbürtig war, seien allesamt nur praktischer Überschuss einer Bewegung gewesen, die sich im Lichte seiner Soziologie als „Phänomen einer radikalen Identitätspolitik“ enthüllt? Wenn so das „Bewusstsein vergangener Kämpfe“ ausschaut, das die Herausgeber einleitend anmahnen, wäre komplette Amnesie vielleicht das kleinere Übel.  

Armselig ist nicht nur der Begriff der Revolution, sondern auch der des Klassenkampfs. Koltan versteht darunter ausschließlich „die gewerkschaftliche und politische Bewegung derjenigen, die im 19. Jahrhundert durch die kapitalistische Industrialisierung zum Verkauf ihrer Arbeitskraft verdammt wurden“, und diese Bewegung wird zudem strikt auf „Fragen des Lohns“ begrenzt. Keine Frage, dass die antigewerkschaftlichen Rätekommunisten ergo mit Klassenkampf ebenso wenig am Hut hatten wie die Bewegungen nach 1968, denen es „um die Arbeitsqualität, das heißt um Arbeitszeiten, um Hierarchien, um die Arbeitsorganisation“ ging. Auch dass die antiautoritäre Lehrlingsbewegung dafür kämpfte, „im Betrieb nicht in klassischer Manier als ein Stück Menschenmaterial angesehen zu werden, dem jede Individualität ausgetrieben werden sollte“, zeigt schlagend, dass man bereits im Zeitalter der letztlich ziellosen Kulturrevolution angekommen war. Die Herrschaft über die lebendige Arbeit und der Klassenkampf existieren in Paralleluniversen, als sei die Unlust, Menschenmaterial zu sein, nicht schon immer eine seiner stärksten Triebkräfte gewesen.  

Im Handumdrehen herrscht Tabula Rasa. Revolution ist Staatseroberung, Klassenkampf heißt Gewerkschaftsbewegung und mit den Räten lässt sich „mehr als ein Jugendzentrum oder ein Alternativbetrieb“ nicht wuppen (womit nur noch staatliche Planung übrig bliebe – oder vielleicht Marktsozialismus?). Weil keine Kritik an der Marxschen Theorie und den Rätekommunisten geleistet, sondern nur ihr Scheitern festgestellt wird, fallen die unabgegoltenen Fragen unter den Tisch – also die nach der Überwindung des Privateigentums, des Wertgesetzes und des Proletariats. Am Ende steht der vage und schwer nach gramscianischem Diskursgehuber müffelnde Vorschlag, „das Terrain des Antikapitalismus zu besetzen“, „das Thema Antikapitalismus überhaupt wieder als Thema in der gesellschaftlichen Diskussion zu etablieren.“  

Auch sonst hilft das Buch wenig, einen Ausweg aus dem gegenwärtigen Schlamassel zu finden. Mag Wompel, Redakteurin der überaus nützlichen Website Labournet, sieht die Schwäche des Widerstands gegen Hartz IV wesentlich in der Akzeptanz der „Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung“ begründet, eine Kritik der Lohnarbeit aber findet nicht statt. Trotz ihrer sympathischen  Abneigung gegen „die Politik von Repräsentanten (Gewerkschaftsfunktionäre, Attac, linke Splitterparteien)“ fällt auch Wompel nur das bedingungslose Grundeinkommen als Ausweg aus der Misere ein, also genau die Mohrrübe, die einige der besagten Repräsentanten sei’s zur Mobilisierung, sei’s als bescheidenes Endziel den Leuten vor die Nase halten.  

Erheblich besser nehmen sich daneben einige historische Beiträge aus. Zu nennen ist hier zuallererst Klaus Viehmanns Aufsatz über das Verhältnis von Stadtguerilla und Klassenkampf in Westdeutschland, der sich nebenbei als Richtigstellung von Koltans eigenartiger Geschichtsschreibung der Neuen Linken lesen lässt, indem er an die wilden Streiks vor allem ausländischer und ungelernter Arbeiter (und insbesondere Arbeiterinnen) in den frühen 1970er Jahren erinnert. Viehmann beschreibt, wie sich die RAF anfangs noch auf diese Pariaschichten des hiesigen Proletariats bezieht, innerhalb weniger Jahre jedoch eine antiimperialistische Wende zu den nationalen Befreiungsbewegungen im Süden vollzieht. Aus den Überlegungen anderer Linksradikaler wiederum, nach dem Vorbild der italienischen Brigate Rosse eine Fabrikguerilla im Ruhrgebiet aufzubauen, ist nicht viel geworden, doch allein die langen Passagen aus einem Strategiepapier des 1975 von der Polizei erschossenen Werner Sauber lohnen die Lektüre des Beitrags, weil sie ein Kapitel in der Geschichte proletarischer Aufsässigkeit ins Gedächtnis rufen, das bis weit in die Linke hinein – siehe Koltan – in Vergessenheit geraten ist. Viehmann, der selbst in der in seinem Beitrag ausgesparten Bewegung 2. Juni aktiv war, geht schließlich noch auf die Praxis der Revolutionären Zellen und der Roten Zora ein, die von  Anschlägen auf die Bundesanstalt für Arbeit bis zur zahlreichen Aktionen zur Unterstützung von Arbeiterinnenkämpfen in aller Welt reichte. Der Unterschied und oftmals auch blutige Gegensatz zwischen solchen Kämpfen und den nationalen Befreiungsbewegungen spielt in Viehmanns Beitrag allerdings keine Rolle. Der Antiimperialismus wird kritisiert, weil er das Klassenterrain in Deutschland aufgab und Flugzeugentführungen guthieß; auch die scheußlichen Exzesse der antiimperialistischen Logik in Sachen Palästina scheint Viehmann abzulehnen. Hingegen bleibt der Klassencharakter der nationalen Befreiungsbewegungen – und damit der Grundfehler der metropolitanen Antiimperialisten – im Dunkeln. Schon die Solidarität mit den vietnamesischen „Kommunisten“, die Arbeiterkämpfe gängelten, Bauernaufstände niederschlugen und linke Oppositionelle kaltstellten, war einer eklatanten Fehleinschätzung geschuldet bzw. der Unfähigkeit, den Kampf gegen den Vietnamkrieg von der Parteinahme für ein staatskapitalistisches Racket zu trennen.  

Auch Elfriede Müllers Erinnerung an den Pariser Mai 1968 ist reich an Fakten und frei von der Sicht der Sieger, die das massenhafte Aufbegehren im Rückblick als Modernisierungsschub erleichtert zu den historischen Akten zu legen weiß. Gegen diese retrospektive Verharmlosung von „1968“ schildert Müller minutiös, wie die Studentenunruhen in einen Flächenbrand von Fabrikbesetzungen übergehen, der Frankreich tatsächlich für einige Wochen in einen Ausnahmezustand versetzt. Zugleich kommt die Darstellung der Arbeiterbasis, die sich den Integrationsversuchen von Gewerkschaften und PCF immer wieder widersetzt, um ihnen am Ende mangels einer klaren Perspektive doch zu erliegen, ohne Romantisierung der Arbeiterklasse aus. Eher dürftig wird es, sobald die Bedeutung der Ereignisse zur Debatte steht. „Die Quintessenz der zahlreichen Literatur über den Mai besteht in der Einsicht, dass die Bedeutung der Ereignisse multipel und widersprüchlich und nicht eindeutig zu fassen ist“, schreibt Müller, um den Mai schlussendlich zu einem „Befreiungsversuch aus geschlossenen Systemen und autoritären Visionen“ zu erklären, was selbst einem Cohn-Bendit ohne größere Schweißausbrüche von den Lippen gehen dürfte.  

Der Band ist wohl das, was man einen Querschnitt durch die linke Diskussion nennt, enthält also mal mehr, mal weniger lesenswerte Beiträge und hilft insgesamt nicht weiter. Insbesondere Koltans wilde Konstruktionen, aber auch die hier höflich ausgeklammerte Sorge des ehemaligen Operaisten Sergio Bologna über den drohenden „Untergang Europas“ und seiner Mittelschichten zeigen, wie wenig zurzeit überhaupt vorausgesetzt werden kann. Vielleicht ist dieser trübe Zustand erst zu überwinden, wenn das Diskutieren wieder praktische Folgen gewinnt, was weniger von den heute Diskutierenden abhängt als von der Praxis der Lohnabhängigen überhaupt. Immerhin hat bereits eine so wenig umstürzlerische Angelegenheit wie der Streik bei AEG Nürnberg den Wertkritiker Robert Kurz (wohnhaft in Nürnberg) veranlasst, sein monotones Gepolter gegen die „verhausschweinte Arbeiterklasse“ vorübergehend einzustellen und sich über die praktischen Möglichkeiten des Arbeiterkampfs in Zeiten der Betriebsschließungen einige Gedanken zu machen (nachzulesen in der Wochenzeitung Freitag vor einigen Monaten). Wenig dürfte es helfen, sich mit der gegenwärtigen Ratlosigkeit anzufreunden, indem man Jahr um Jahr „verschiedene theoretische Ansätze und philosophische Denkmodelle“ aneinanderreiht, wie die Herausgeber einleitend die Ziellosigkeit des Sammelbandes ankündigen.

I. M. Zimmerwald, August 2006

Editorische Anmerkungen

jour fixe initiative berlin hg.
Klassen und Kämpfe
UNRAST-VERLAG
ISBN 3-89771-438-8
Ausstattung: br., 224 Seiten
Preis: 16.00 Euro