Betrieb & Gewerkschaft
Streikjahr 2006 - eine Zwischenbilanz

Von Daniel Behruzi
09/06

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In den ersten Monaten diesen Jahres haben die Auseinandersetzungen zwischen Arbeitgebern und Beschäftigten in vielen Betrieben und Branchen an Schärfe gewonnen. Einzelne Belegschaften - wie die von CNH in Berlin und von Panasonic in Esslingen - haben sich verzweifelt gegen die Schließung ihres Werks zur Wehr gesetzt. In Ländern und Kommunen kam es zu den längsten Arbeitskämpfen in der Geschichte des  Öffentlichen Dienstes. Der Tarifkonflikt in der Metall- und Elektroindustrie wurde von der bislang größten Warnstreikwelle begleitet. Doch trotz beeindruckender Kampfbereitschaft standen am Ende dieser Konflikte aus Sicht der Beschäftigten zumeist materielle Verschlechterungen. Auch konnte die organisierte Gewerkschaftslinke diese Kämpfe kaum beeinflussen und von der fortgesetzten Polarisierung in den Beschäftigtenorganisationen nicht nennenswert profitieren.

Trotz „Aufschwungs“ setzt sich die massenhafte Vernichtung von Arbeitsplätzen unvermindert fort. Ganze Betriebe werden dicht gemacht - nicht weil sie Verluste einfahren, sondern weil sie die von den Börsen vorgegebenen Maximalprofite nicht erreichen oder weil im Ausland noch billiger und damit profitabler produziert werden kann. Die damit einhergehenden Entlassungen gehen vielerorts mit wenig Widerstand und von der breiten Öffentlichkeit kaum bemerkt vonstatten. Doch es gibt auch andere Fälle, in denen sich die betroffenen Belegschaften ihrem Schicksal nicht einfach ergeben, und in teils erbitterten Kämpfen versuchen, ihre Arbeitsplätze zu verteidigen. Hierfür steht der Kraftwerksbauer Alstom Power in Mannheim ebenso wie Infineon in München, BSH und Samsung in Berlin und - das bekannteste Beispiel - AEG in Nürnberg. 

Arbeitskampf bei CNH 

In den letzten Monaten machte vor allem die Belegschaft des Baumaschinenherstellers Case New Holland (CNH) - ehemals Orenstein und Koppel - in Berlin-Spandau von sich reden. In dem mit 107 Tagen längsten Streik der Berliner Nachkriegsgeschichte versuchte diese, die Verlagerung der Produktion nach Italien zu verhindern. Etwa 350 Jobs sollten diesem Plan unmittelbar zum Opfer fallen - und das obwohl das zum Fiat-Konzern gehörende Unternehmen allein im ersten Quartal 2006 einen Nettogewinn von 43 Millionen Dollar eingefahren und mehr als 70 Millionen Euro öffentliche Subventionen für das Berliner Werk eingestrichen hat. Die Streikenden beeindruckten in diesem Kampf nicht nur mit ihrem Durchhaltevermögen, sondern auch mit vielfältigen, öffentlichkeitswirksamen Aktionen. So wurde ein Riesen-Banner vor dem Reichstag entrollt, kurzzeitig der Verkehrsknotenpunkt „Großer Stern“ besetzt und die Delegierten des DGB-Bundeskongresses mit einer Aktion zur Solidarität aufgefordert. Tag und Nacht harrten die ArbeiterInnen vor den Werkstoren aus, um den Abtransport bereits gefertigter Maschinen zu verhindern - mit Erfolg. Zudem versuchten sie, Verbindungen zu anderen von Arbeitsplatzvernichtung oder Lohnraub betroffenen Belegschaften aufzubauen, mit dem Erfolg, dass zum 1.Mai zumindest ein gemeinsames Flugblatt mit Gewerkschaftern der Telekom, der S-Bahn und der Charité verteilt wurde. Auch in anderer Hinsicht bedeutete dieser Arbeitskampf einen kleinen aber wichtigen Schritt nach vorne. So schafften es die Beschäftigten bei CNH, Verbindungen zu GewerkschafterInnen in Frankreich und Italien aufzubauen. Sie nutzten die Internationale Automobilausstellung in Paris zu einer öffentlichkeitswirksamen Aktion gegen den CNH-Mutterkonzern Fiat. Gemeinsam mit italienischen Gewerkschaftern nahm eine CNH-Delegation an der 1.-Mai-Demonstration in Turin teil. Durch diese internationalen Kontakte konnten die Streikenden verhindern, dass italienische KollegInnen zu Streibrecherarbeiten eingesetzt wurden.

Doch trotz dieses beeindruckenden Engagements - am Ende des Konflikts steht die Einstellung der Produktion und die Entlassung von 333 ArbeiterInnen. Die IG Metall konnte lediglich einen „Sozialplan“ vereinbaren, in dem die Einrichtung einer „Beschäftigungsgesellschaft“ und die Zahlung von Abfindungen „auf AEG-Niveau“ festgelegt sind. Gemeinsam mit dem Berliner Senat, der die an CNH gezahlten Subventionen zurückfordert, sollen für die Betroffenen nun alternative Beschäftigungsmöglichkeiten gesucht werden - ein Ansinnen, das vor dem Hintergrund der in der Hauptstadt erfolgten Deindustrialisierung leider von mäßigem Erfolg gekrönt sein dürfte.

Dieses unbefriedigende Ergebnis weist auf ein grundlegendes Problem hin: Während die von Schließung bedrohten Belegschaften erbittert versuchen, ihren Arbeitsplatz und damit ihre Existenzgrundlage zu erhalten, führt die Gewerkschaftsführung den Kampf mit der Forderung nach einem „Sozialtarifvertrag“, der die sozialen Folgen für die Entlassenen abmildern soll. Doch so wichtig die Zahlung von Abfindungen im Einzelfall auch ist - an der Vernichtung der Arbeitsplätze ändert das nichts. Zudem bedeuten auch recht hohe Abfindungen in Zeiten von Hartz IV nicht, dass die Existenz der Betroffenen und ihrer Familien dauerhaft gesichert ist. Sicherlich ist die Streikforderung nach einem „Sozialtarifvertrag“ eine Möglichkeit, wenn sie als taktische Maßnahme genutzt wird, um einen Arbeitskampf zu legalisieren. Dies entspricht der Idee, den Preis der Schließung für das Unternehmen durch entsprechende Forderungen so hoch zu treiben, dass dieses darauf letztlich ganz verzichtet. Die Gewerkschaft kann aber auch durch das Aufstellen anderer Forderungen, die bisher nicht tarifvertraglich geregelt sind, einen legalen Arbeitskampf ermöglichen.  Zudem gibt diese Forderung der Gewerkschaftsspitze, der üblicherweise nicht an einer Eskalation gelegen ist, die Möglichkeit, eine derartige Auseinandersetzung zu einem „gütlichen“ Ende zu bringen - auf Kosten der Jobs.

Der Grund für die Hilflosigkeit - nicht nur der gewerkschaftlichen Apparate, sondern auch der betroffenen Belegschaften - ist vor allem ein ideologischer: Wer das Privateigentum an Produktionsmitteln und die Profitlogik nicht in Frage stellt, kann einer vom Eigentümer verfügten Schließung letztlich nichts entgegensetzen. Deshalb ist es auch und gerade für solche konkreten Auseinandersetzungen von entscheidender Bedeutung, die Vorstellung einer Alternative zum kapitalistischen Privateigentum wieder zu etablieren. Warum kann eine kleine Clique von Besitzenden über das Schicksal Hunderter oder gar Tausender ArbeiterInnen entscheiden? Haben die Streikenden nicht mehr Trümpfe in der Hand, wenn sie nicht nur die Werkstore sondern auch den Betrieb selbst besetzen? Ist es nicht möglich, dass die Beschäftigten den Betrieb in eigener Regie weiterführen? Solche Fragen auf nachvollziehbare Weise aufzuwerfen und mit der Forderung nach Überführung der von Schließung oder Massenentlassungen bedrohten Betriebe in öffentliches Eigentum zu verbinden, ist - neben der konkreten Unterstützung der Streikenden - Aufgabe linker AktivistInnen in einem solchen Konflikt. Dabei kann zum Beispiel an die von Oskar Lafontaine bei einer Rede vor den streikenden AEG-Beschäftigten vorgebrachte Forderung nach demokratischer Abstimmung der Belegschaften über Werksschließungen angeknüpft werden. Diese führt unweigerlich zu der Feststellung, dass man nur über das demokratisch entscheiden kann, was einem auch gehört. Wegen des ideologischen Rückschlags, den die Arbeiterbewegung in den 90er Jahren erlitten hat, werden aber wohl noch eine Reihe von Kämpfen à la CNH und das verstärkte Aufwerfen solcher Forderungen in Gewerkschaften und WASG bzw. der zukünftigen Linkspartei durch SozialistInnen nötig sein, um solche Vorstellungen wieder zu etablieren. 

Streik im Öffentlichen Dienst 

Geprägt waren die ersten Monate dieses Jahres aber nicht von einzelbetrieblichen Auseinandersetzungen, sondern vom längsten Arbeitskampf im Öffentlichen Dienst seit Bestehen der Bundesrepublik. Die Wurzeln dieser heftigen Auseinandersetzung lagen in dem - von der Spitze der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di als „Jahrhundertwerk“ gepriesenen - Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVÖD), der zum 1.Oktober 2005 die alten Flächentarife in Bund und Kommunen ablöste. Dieses Tarifwerk entspricht ganz dem neoliberalen Zeitgeist: leistungsabhängige Lohnbestandteile, Wegfall von Sozialzuschlägen, Einführung von Öffnungsklauseln, die Möglichkeit zur Tarifabsenkung in von Privatisierung bedrohten Bereichen, die Einführung einer neuen Niedriglohngruppe - das sind nur einige der „Glanzlichter“ dieser „Jahrhundertreform“. Aber nicht nur das. Der TVÖD zementierte auch das Ende der Tarifeinheit im Öffentlichen Dienst: Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hatte sich durch die Kündigung der Arbeitszeitverträge frühzeitig aus den Verhandlungen katapultiert. Und den kommunalen Arbeitgebern gab der Vertrag die Möglichkeit, eine Verlängerung der Arbeitszeit auf 40 Wochenstunden sofort wieder auf die Tagesordnung zu setzten - was deren Verbände in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg bereits wenige Wochen nach Inkrafttreten des TVÖD durch die Kündigung der entsprechenden Regelungen dann auch taten.

Mit den im TVÖD eingegangenen kampflosen Zugeständnissen versuchte die ver.di-Spitze, die Arbeitgeber zu beschwichtigen. Doch der Appetit kommt beim Essen - anstatt die Arbeitgeber friedlich zu stimmen, sahen sich diese zu immer dreisteren Forderungen ermutigt. Für die öffentlich Bediensteten hatte das Vorgehen der Gewerkschaftsführung denkbar schlechte Ausgangsbedingungen für die ihnen aufgezwungene Auseinandersetzung zur Folge. Statt Bund-, Landes- und Kommunalbeschäftigte gemeinsam und bundesweit gegen Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub zu mobilisieren, standen die ArbeiterInnen und Angestellten der Kommunen in einzelnen Bundesländern sowie die Landesbediensteten alleine da. Für die ohnehin traditionell gewerkschaftlich schlechter organisierten Beschäftigten der Länder bedeutete das Streikziel TVÖD zudem, dass sie für innerhalb der Gewerkschaft heftig kritisierte Verschlechterungen auf die Straße gehen sollten. Ein weiteres - von der ver.di-Spitze selbst geschaffenes - Problem war die im TVÖD enthaltene „Meistbegünstigungsklausel“, die vorsieht, dass jeder mit den Ländern getroffene Tarifabschluss bzgl. Arbeitszeiten und Sonderzahlungen, der für die Arbeitgeber günstiger ist, von Bund und Kommunen übernommen werden kann. Das machte eine Lösung im Konflikt mit der TdL besonders kompliziert und hat letztlich dazu geführt, dass es keine bundesweit einheitlichen Arbeitszeiten in den Ländern mehr gibt.

Auch die von der ver.di-Spitze verordnete Streikstrategie war nicht dazu angetan, möglichst viele Kolleginnen und Kollegen aktiv einzubeziehen. Die rotierenden Arbeitsniederlegungen machten es vielfach unmöglich, kontinuierliche Diskussionen und Aktivitäten unter den Streikenden zu entwickeln. In vielen Regionen wurde ein Großteil der Beschäftigten überhaupt nicht einbezogen. Vor allem aber wurde der Arbeitskampf zu wenig dazu genutzt, verschiedene Belegschaften - auch über den Öffentlichen Dienst hinaus - zusammenzubringen. Die in der Endphase des Arbeitskampfs beginnende Tarifrunde der Metallindustrie hätte hierfür eine hervorragende Gelegenheit geboten. Es war wohl in erster Linie der Widerstand von Teilen des IG-Metall-Apparats, der ein Zusammengehen von Metallern und ver.dianern - das der Auseinandersetzung eine neue Qualität und eine zusätzliche Dynamik hätte geben können - verhinderte. Gemeinsame Aktionen blieben - wo sie überhaupt stattfanden - zumeist symbolisch. Damit wurde die Chance, eine verallgemeinerte Streik- und Protestbewegung gegen Lohnraub, Entlassungen und die Angriffe der Großen Koalition zu entwickeln, durch die Gewerkschaftsbürokratie sabotiert. Statt dessen versäumte es DGB-Chef Michael Sommer bei kaum einer Gelegenheit, auf die „erfreuliche Diskussionsbereitschaft“ von Angela Merkel hinzuweisen.

Dabei stand für die Gewerkschaftsbewegung insgesamt einiges auf dem Spiel. Im Öffentlichen Dienst fand keines der in vergangenen Jahren noch üblichen Tarifrituale statt. Ein Teil des Arbeitgeberlagers - insbesondere um TdL-Chef Hartmut Möllring (CDU) - hatte es darauf abgesehen, die Gewerkschaft zu demütigen und sie entscheidend zu schwächen. Dieses Ansinnen wurde letztlich durch die große Kampfbereitschaft - die bereits in den Urabstimmungsergebnissen von größtenteils um die 95 Prozent - und durch das überraschende Durchhaltevermögen auch in Bereichen mit bislang wenig Streikerfahrung zunichte gemacht. Materiell steht am Ende dennoch eine Niederlage. Die Arbeitszeiten in den Kommunen Baden-Württembergs wurden unbezahlt auf 39 Wochenstunden verlängert. In anderen Bundesländern wurden sie zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen differenziert - was zukünftige Auseinandersetzungen erschweren dürfte. Noch weit schlimmer das Ergebnis für die rund 800.000 Landesbediensteten: Für jedes Bundesland wurden die aktuell durchschnittlich geleisteten Arbeitszeiten errechnet und auf alle Beschäftigten angewendet. Zuvor hatten die Altbeschäftigten 38,5, die Neueingestellten je nach Bundesland 40 bis 42 Wochenstunden gearbeitet. Die Regelung bedeutet also, dass die dreisteren Arbeitgeber belohnt werden. Vor allem aber hat sie zur Folge, dass in den Bundesländern nun völlig unterschiedliche Arbeitszeiten gelten. Da die Regelungen in diesem Punkt bereits Ende 2007 wieder gekündigt werden können, wird der nächste Konflikt nicht lange auf sich warten lassen - wiederum mit schlechteren Ausgangsbedingungen für die Beschäftigten. Und wie in anderen Fällen versuchen die Gewerkschaftsoberen, das Resultat schön zu rechnen. So wird als durchschnittliche Wochenarbeitszeit für die Länder 39,22 Stunden angegeben. Da aber in den Flächenländern wie Nordrhein-Westfalen und Bayern länger gearbeitet wird als in den kleineren liegt die tatsächliche Arbeitszeit auf die einzelnen Beschäftigten gerechnet darüber. Auch auf Nachfragen ist der ver.di-Apparat aber nicht in der Lage - oder nicht willens - über die wirklichen Durchschnittszeiten Auskunft zu geben. Zudem hat die Ausnahmeregelung für besonders belastete Beschäftigtengruppen, die bei 38,5 Stunden bleiben, zur Folge, dass die Arbeitszeiten der anderen Gruppen noch stärker steigen.

Mit dem TVÖD und den auf diesen folgenden Tarifregelungen wurden also eine Vielzahl neuer Spaltungslinien im Öffentlichen Dienst etabliert, die für die Beschäftigten in künftigen Konflikten von Nachteil sein werden. Andererseits haben die Streikenden - für viele war es der erste Arbeitskampf überhaupt - in dieser langen und heftigen Auseinandersetzung wichtige Erfahrungen gesammelt. Tausende Beschäftigte haben Streikposten gestanden, auf Versammlungen gesprochen und ihre Argumente in Diskussionen mit KollegInnen und der Bevölkerung vorgebracht. Die positive Wirkung der gemachten Erfahrungen und des gesammelten Selbstbewusstseins werden in nicht allzu ferner Zukunft deutlich werden. 

Ver.di und die Ärztestreiks 

Die Auseinandersetzungen im Öffentlichen Dienst gehen ohne Zäsur weiter - vor allem im Bereich der von der Umstellung des Finanzierungssystems auf sogenannte Fallpauschalen (DRG) gebeutelten Krankenhäuser. Hier hat der von ver.di mit dem TVÖD akzeptierte Verzicht der Standesorganisation Marburger Bund (MB) die Möglichkeit verschafft, die Ärzte in eine Auseinandersetzung für einen separaten Tarifvertrag zu führen. Diese bedeutende Entwicklung hat zwar einerseits eine vertiefte Spaltung zwischen Medizinern und anderen Klinikbediensteten zu Folge, andererseits hat der Marburger Bund mit seiner Forderung nach 30 Prozent mehr Geld, mit Streiks und öffentlichkeitswirksamen Aktionen einer kampfunerfahrenen Angestelltenschicht gezeigt, dass Widerstand auch hier möglich ist. Dass die Assistenz-ÄrztInnen allerdings von der MB-Spitze nicht besser vertreten werden, als von der ver.di-Führung belegt das dürftige Tarifergebnis mit der TdL. Zwischen den von ver.di für die ÄrztInnen vereinbarten Regelungen und dem MB-Vertrag bestehen nur recht geringe Unterschiede. Bezogen auf die miesen Arbeitsbedingungen der KlinikärztInnen - die für große Sympathien in der Bevölkerung für deren berechtigte Anliegen sorgt - beinhalten beide Verträge so gut wie keine Verbesserungen bzw. im Vergleich zum alten Bundesangestellentarif (BAT) nur Verschlechterungen. Stattdessen sind Arbeitszeiten (inklusive Bereitschaftsdienste) von bis zu 66 Wochenstunden vorgesehen. Ob sich für die ÄrztInnen reale Verbesserungen im Vergleich zu den bisherigen Arbeitsbedingungen ergeben, bleibt abzuwarten. Die Spaltung zwischen Ost- und West-ÄrztInnen hat der Abschluss in jedem Fall vertieft.

Dennoch hat das Vorgehen des Marburger Bundes die ver.di-Spitze ganz offensichtlich unter Druck gesetzt. Ausdruck davon ist die neuerdings von ver.di erhobene Forderung nach einer pauschalen Lohnerhöhung von 150 Euro für alle Beschäftigten der kommunalen Kliniken. Aus Anlass der von der Bundesregierung gekürzten Pendlerpauschale, die die Gewerkschaft als Begründung ihrer Forderung anführt, geht ver.di damit erstmals selbst in die Offensive. Es ist die richtige - wenn auch reichlich späte - Antwort auf die von der MB-Führung betriebene Spaltung. Zudem widerlegt sie das von der ver.di-Spitze vielfach selbst vorgebrachte Argument, ihr seien durch die Friedenspflicht die Hände gebunden. Dass die ver.di-Führung hier nur auf den durch die Forderungen des Marburger Bundes entstandenen Druck reagiert, zeigt sich auch daran, dass diese Forderung nur in den kommunalen Kliniken aufgestellt wird. Warum nicht auch bei Nahverkehrsunternehmen, Energieversorgern und der Müllabfuhr? Die Kürzung der Pendlerpauschale trifft schließlich auch diese Beschäftigten.

Allerdings wird für die Durchsetzung dieser völlig berechtigten Forderung eine entschlossene und konsequente Mobilisierung der Beschäftigten nötig sein. Die nun angelaufenen Warnstreiks in einzelnen Betrieben werden dazu alleine sicherlich nicht ausreichen. Zudem darf die 150-Euro-Forderung nicht länger durch Verzichtsangebote an anderer Stelle konterkariert werden. So verhandelt die Gewerkschaftsspitze derzeit in diversen Krankenhäusern über den „Tarifvertrag Zukunftssicherung“, der Gehaltsabsenkungen bis zu zehn Prozent erlaubt. Mit dem den Kliniken durch direkte Lohnkürzung oder in Form von „Genussscheinen“ zur Verfügung gestellten Geld sollen diese Investitionen finanzieren. Abgesehen davon, dass es sich die ArbeiterInnen und Angestellten in den Krankenhäusern nicht leisten können, auf Teile ihrer ohnehin mickrigen Gehälter zu verzichten, besteht für die den Arbeitgebern überlassenen „Kredite“ nicht einmal Insolvenzschutz. Dass die ver.di-Spitze die Angst um den Arbeitsplatz vielfach ausnutzt, um ihre Zustimmung zu Lohnkürzungen zu rechtfertigen, macht die 150-Euro-Forderung nicht gerade glaubwürdig. Deshalb muss diese mit der Ablehnung weiteren Verzichts und dem Kampf gegen Stellenabbau und Privatisierung verbunden werden. So könnte die Gewerkschaft die Auseinandersetzungen in verschiedenen Kliniken miteinander verbinden und wieder in die Offensive kommen. 

Tarifrunde der IG Metall 

Ein Grund für die harte Haltung von Ländern und Kommunen im Konflikt mit ver.di war die von den Arbeitgebern propagierte „Vorbildfunktion“ des öffentlichen Dienstes - hier durchgesetzte Arbeitszeitverlängerung und Lohnraub sollte die Unternehmer der Privatwirtschaft ermutigen, ebenfalls in die Offensive zu gehen. Nicht umsonst sprach TdL-Chef Hartmut Möllring von der „Leit- und Pilotfunktion“ des Öffentlichen Dienstes. In der wichtigsten Branche, der Metall- und Elektroindustrie, wurde der Ball denn auch dankbar aufgenommen. Allerdings schreckten die Bosse hier letztlich davor zurück, im Rahmen der Tarifrunde einen regulären Arbeitskampf zu provozieren. Hauptgrund hierfür war die Tatsache, dass sich mit mehr als 800.000 ArbeiterInnen so viele Beschäftigte wie noch nie an der die Verhandlungen begleitenden Warnstreikwelle beteiligten. Ein anderer Faktor war die gute Auftragslage in der Metallwirtschaft - ein längerer Arbeitskampf hätte viele Konzerne empfindlich getroffen.

Verschärft wurde der Konflikt durch die Kündigung des „Lohnrahmentarifvertrags II“ im Tarifgebiet Nordwürttemberg-Nordbaden. Diese 1973 durch einen mehrwöchigen Streik erkämpfte Vereinbarung beinhaltet eine stündliche Erholzeit für Bandarbeiter von fünf Minuten - die sogenannte Steinkühler-Pause. Obwohl nur ein Teil der Tarifbeschäftigten von dieser Regelung profitierte, beteiligten sich auch andere Belegschaftsteile massiv an den Protestaktionen für den Erhalt dieser Errungenschaft. Statt den Angriff der Unternehmer schon im Vorfeld der regulären Tarifrunde durch einen erfolgreichen Streik - der ohne weiteres möglich gewesen wäre - abzuwehren, ließ es die IG-Metall-Spitze zu, dass das Thema in die Tarifrunde hineingezogen wurde. Letztlich wurde die „Steinkühler-Pause“ für einen größeren Teil der Beschäftigten ohne Not geopfert. Sie gilt künftig nur noch für „kurzzügliche“ Fließbandarbeit. Laut Angaben der Arbeitgeber wird für zwei Drittel der bisher 92.000 Anspruchsberechtigten die Pause eingeschränkt oder ganz gestrichen. Der Vorgang zeigt die defensive Ausrichtung der gewerkschaftlichen Strategie: Mit der Forderung, die „Steinkühler-Pause“ auf alle Beschäftigtengruppen und Tarifgebiete auszuweiten, hätte die aktive Solidarität aller Metaller für ihre KollegInnen im Südwesten mobilisiert werden können. Stattdessen beschränkte sich die IG-Metall-Führung darauf, die Unternehmerforderung abzulehnen - um sie letztlich doch teilweise zu akzeptieren.

In Punkto Lohn und Gehalt präsentiert die Gewerkschaft das erzielte Ergebnis als Teilerfolg, der aber angesichts von jahrelangem Reallohnverlust nur begrenzt ausfällt. Von einer Trendwende im Sinne der Beschäftigten kann allerdings ganz und gar nicht die Rede sein. Der im Pilotbezirk Nordrhein-Westfalen erzielte und in den anderen Tarifgebieten übernommene Vertrag sieht bei einer Laufzeit von zehn Monaten eine dreiprozentige Lohnerhöhung vor. Zudem wurde für die Monate März bis Mai eine Einmalzahlung von 310 Euro vereinbart. Diese ist allerdings an die „Lage der Betriebe“ gekoppelt. Bei angeblich schwieriger wirtschaftlicher Situation können die Unternehmer mit Zustimmung der Betriebsräte diese Zahlung streichen. Die Bilanz dieser „Verbetrieblichung“ fällt wenige Monate nach Vertragsunterzeichnung negativ aus: Die Behauptung von IG-Metall-Chef Jürgen Peters, der betriebliche Spielraum könne „eher nach oben“ genutzt werden, hat sich erwartungsgemäß nicht erfüllt.

Vor allem aber ist diese Regelung ein gewichtiger Tabubruch und der Einstieg in die von IG-Metall-Vize Berthold Huber - der sich selbst gerne als „Modernisierer“ im Gewerkschaftslager sieht - propagierte „zweistufige Tarifpolitik“. Damit wird ein Teil der Tarifverhandlungen auf die Ebene der Betriebe verlagert. Die betrieblichen Interessenvertreter - die nicht das Recht haben, zu Arbeitsniederlegungen aufzurufen - sind oftmals erpressbar und haben den Unternehmerforderungen zumeist wenig entgegenzusetzen. „Ein wichtiges Signal für die Zukunft“ nennt denn auch Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser die Regelung. Eine Folge wird sein, dass sich die „negative Lohndrift“ - die Tatsache, dass von den in Flächentarifverträgen erreichten Lohnsteigerungen immer weniger in den Betrieben ankommt - noch verstärkt. 

Gewerkschaftslinke 

Die derzeitige Situation in den Betrieben und Gewerkschaften ist geprägt von tiefen Widersprüchen. Auf der einen Seite nutzen die Arbeitgeber jede Gelegenheit, um in der Vergangenheit erkämpfte Errungenschaften zu beseitigen und die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften zu schwächen. Andererseits klammert sich ein Teil der Gewerkschaftsspitzen in Inhalt und Form an die von der Gegenseite längst aufgekündigte „Sozialpartnerschaft“, den in der bundesrepublikanischen Nachkriegsperiode angeblich vorherrschenden „Klassenkompromiss“. Andere Gewerkschaftsführer verstehen zwar, dass sich in den Klassenbeziehungen Grundlegendes verändert hat, reagieren darauf aber damit, die neoliberale Agenda der Kapitalseite „offensiv“ zu übernehmen. Exemplarisch findet dies im Konflikt zwischen Peters und Huber in der IG Metall ihren Ausdruck. Die infolge des verlorenen Arbeitskampfs für die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland 2003 offen ausgebrochene Auseinandersetzung wurde zwar vorläufig beigelegt. Ein erneutes Aufflammen des Konflikts ist im Zuge einer neuerlichen Kandidatur von Peters zum Vorsitz allerdings keineswegs ausgeschlossen.

Beide Flügel des Apparats geben jedoch keine adäquate Antwort auf die Kapitaloffensive. Nötig wäre es, die in vielen Bereichen vorhandene Kampfbereitschaft für konsequente Gegenwehr zu nutzen und zu bündeln. Voraussetzung hierfür ist ein Bruch mit der in weiten Teilen übernommenen Standortideologie sowie mit der gewerkschaftlichen Bindung an die Sozialdemokratie. Die Entstehung der Partei Arbeit und soziale Gerechtigkeit - Die Wahlalternative (WASG) und die Bildung der Fraktion Die Linke bietet für Letzteres wichtige Möglichkeiten. Die Umorientierung von Teilen der Gewerkschaftsapparate auf diejenigen in der WASG-Spitze, die sich in der Tradition „der guten alten Sozialdemokratie“ sehen, verbreitert zwar den Spielraum der Beschäftigtenorganisationen, ist mit dem notwendigen ideologischen Bruch aber nicht gleichzusetzen.

Profitieren von der sich innerhalb der Gewerkschaften entwickelnden Polarisierung könnte und müsste die organisierte Gewerkschaftslinke, die sich in den letzten Jahren in der „Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (IVG)“ und anderen Strukturen zusammengefunden hat. Die Auseinandersetzungen der vergangenen Monate - insbesondere der ver.di-Streik und die Tarifrunde der IG Metall - haben die politische und organisatorische Schwäche der bestehenden oppositionellen Strukturen allerdings offengelegt. Trotz des Engagements Einzelner gingen die Aktivitäten der Gewerkschaftslinken über schriftliche Solidaritätsbekundungen kaum hinaus. Nur das Netzwerk für eine demokratische und kämpferische ver.di hat während der ver.di-Tarifrunde immerhin regelmäßige Flugblätter veröffentlicht und dadurch versucht in die Streikbewegung direkt einzugreifen. Die Gründe für die Schwäche der gewerkschaftlichen Linken sind zum einen personeller Natur.  Der große Druck in den Betrieben und die sinnvolle Arbeit vieler IVG-Aktiver in der WASG bindet wichtige Kräfte. Zum anderen sperrt sich ein Teil der in die Hauptamtlichenapparate eingebundenen Gewerkschaftslinken dagegen, die IVG zu einer tatsächlich handlungs- und kampagnefähigen Struktur weiter zu entwickeln.

Den Einfluss, den linke GewerkschafterInnen auf den Verlauf von Kämpfen nehmen können, sah man ansatzweise beim ver.di-Streik in Stuttgart. Hier gehören wichtige ver.di-Funktionäre zur Gewerkschaftslinken und konnten erreichen, dass die Streiks besser und mit einer größeren Einbeziehung der KollegInnen verliefen. Doch auch hier  wurde die starke lokale Position nicht genutzt, um bundesweit mit Nachdruck eine effektive Streikstrategie einzufordern und aus dem Kampf heraus oppositionelle Strukturen zu stärken.

Trotz der sich ergebenden Möglichkeiten und vor allem der großen Notwendigkeit einer innergewerkschaftlichen Opposition ist die Entwicklung der Gewerkschaftslinken derzeit weitgehend von Stagnation geprägt. Auch auf einzelbetrieblicher Ebene gibt es nur wenige Durchbrüche, wenn auch oppositionelle Betriebsratslisten in verschiedenen Betrieben ihre Position ausbauen konnten. Das gilt unter anderem für die Liste „Gegen den Strom“ im Berliner Krankenhauskonzern Vivantes. Wichtigstes Beispiel ist aber die oppositionelle Betriebsgruppe „alternative/Klartext“ im DaimlerChrysler-Werk Untertürkheim. Diese konnte trotz heftiger Anfeindungen von Seiten der Betriebsratsspitze und des IG-Metall-Apparats bei den Wahlen zur Beschäftigtenvertretung im März ihren Anteil auf zehn Sitze ausbauen. Die Liste konnte 3100 Stimmen - vor allem aus den kampfstarken Produktionsbereichen im Werksteil Mettingen - für sich verbuchen. Die IG-Metall-Bürokratie reagierte auf diesen Erfolg mit verstärkter Repression. „Alternative“-UnterstützerInnen wurden aus den Sitzungen der gewerkschaftlichen Vertrauensleute ausgeschlossen. Dieser „kalte Ausschluss“ - der den Betroffenen die Mitgliedschaft in der IG Metall belässt, ihnen die gewerkschaftliche Arbeit aber faktisch unmöglich macht - ohne ordentliches Verfahren ist ein Angriff nicht nur auf diese betriebliche Oppositionsgruppe sondern gilt der Gewerkschaftslinken insgesamt. Das Signal ist: Sobald eine konsequente Gewerkschaftslinke breitere Unterstützung findet und für die Politik der Bürokratie damit zur Gefahr wird, reagiert der Apparat mit Repression. Deshalb ist es für die Linke zentral, den „alternative“-UnterstützerInnen soweit wie irgend möglich ideelle und praktische Solidarität zukommen zu lassen. Das gilt übrigens auch für WASG und Linkspartei.PDS.

Die Gründung der IVG, des Netzwerks für eine demokratische und kämpferische ver.di, der ver.di-Linken und anderer Strukturen in den vergangenen Jahren waren und sind Ansätze einer notwendigen Vernetzung der gewerkschaftlichen Linken. Die fortgesetzte Polarisierung bietet die Chance, kämpferische KollegInnen, die bislang nicht in die Gewerkschaftslinke einbezogen sind und sich zum Teil auch gar nicht als Linke bezeichnen würden, für oppositionelle Arbeit zu gewinnen. Das ist der IVG allerdings bislang kaum gelungen, u.a. wegen der nach innen gerichteten, auf den Funktionskörper bezogenen Ausrichtung und einer Debattenkultur, die sich kaum in gemeinsames Handeln übersetzt. Wenn es die Gewerkschaftslinke nicht schafft, einen realen Gebrauchswert für die Beteiligten zu entwickeln, wird sie nicht zum Anziehungspunkt breiterer Aktivistenschichten werden können.

In gewissem Sinne stellt sich die Aufgabe, die Arbeiterbewegung neu aufzubauen. Das gilt ideologisch, aber auch ganz praktisch beim Neuaufbau kampagnefähiger Strukturen und der Entstehung einer neuen Schicht kämpferischer Aktivistinnen und Aktivisten. In beiderlei Hinsicht stehen wir erst am Anfang. Jetzt gilt es, im einzelnen Betrieb - und so weit wie möglich auch auf branchen- und gewerkschaftsübergreifender Ebene -die sich ergebenden Möglichkeiten zum Aufbau von Kernen einer kämpferischen Gewerkschaftslinken zu nutzen.

Editorische Anmerkungen

Die Übersicht wurde von Daniel Behruzi am 20. Juli 2006 geschrieben und uns im August 2006 zu Veröffentlichung gegeben.

Daniel Behruzi ist Mitglied im Sprecherrat des Netzwerks für eine kämpferische und demokratische ver.di. Er lebt in Berlin und arbeitet als Journalist unter anderem für die Tageszeitung junge Welt.