Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe

von
Max Beer
09/06

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IV. VOM KOMMUNISMUS ZUM SONDEREIGENTUM Zur Kapitelübersicht

1. Wirtschaftliche Zustände in West- und Mitteleuropa.

Die Zeit, in der die Kirchenlehrer zwischen Kom­munismus und Sondereigentum zu vermitteln suchten und demgemäß das Naturrecht umgestalteten, war auf der Naturalwirtschaft aufgebaut. Sondereigentum an Grund und Boden bestand bereits, aber der Han­del war gering und eine Geldwirtschaft war kaum vorhanden. Die aus der römischen Zeit stammen­den Städte waren entvölkert, neue Städte gab es nicht. Die germanische Bevölkerung Mittel-und West­europas betrachtete noch den Kaufmann mit Miß­trauen, oft nur als einen Dieb, wenn er seine Waren teuer verkaufte. Noch schärfer urteilte über den Handel die Römische Synode vom November 1078, die von römischen und gallischen Bischöfen besucht war und unter dem Vorsitz Gregors VII. tagte. Unter den von ihr angenommenen Beschlüssen (Canones) besagte der 5., daß das Geschäft der Soldaten und der Kaufleute nicht ohne Sünden betrieben werden könne, daß ihnen keine wahre Buße möglich sei, außer wenn sie sich einem anderen Berufe zuwenden (vgl. Hefele, Konziliengeschichte, 2. Auflage, 5. Band, Seite 125).

Seit dem 10. Jahrhundert trat ein merklicher Um­schwung ein. In den Gebieten zwischen Rhein und Seine, ebenso zwischen Flandern und Südengland machte sich ein lebhafterer Warenaustausch bemerk­bar, und in der Lombardei und an den Küsten des Mittelländischen Meeres (in den italienischen und südfranzösischen Städten), den altrömischen Sitzen von Handel und Gewerbe, wurde es rühriger. Die alten Städte lebten wieder auf, neue Städte wurden gebaut. Aber es fehlte noch an einem genügenden Vorrat von Edelmetall, um Tauschmittel zu prägen und die Geldwirtschaft über die Naturalwirtschaft siegen zu lassen. Das meiste bis dahin vorhanden ge­wesene Silbergeld war aus dem Orient: aus Indien und dem Reiche der Kalifen gekommen. Es genügte jedoch nicht für die neue oder auflebende städtische Wirtschaft, die sich im zehnten Jahrhundert zu ent­wickeln begann.

Um diese Zeit wurden die Rammelsberger Silbergruben bei Goslar (gegründet 920) erschlossen, die sich damals als die reichsten Europas erwiesen. Dieser  Edelmetallreichtum verschaffte den tatkräftigen sächsischen Königen Heinrich I. (919—936) und Otto dem Großen (936—973) die Mittel, die Wirren der Ka­rolingerzeit zu überwinden, die Ungarn zu schlagen, die Slawen zurückzudrängen, Städte zu bauen und das Deutsche Reich wiederherzustellen.  Das ganze städtische, gewerbliche Leben Deutschlands, Frank­reichs, Flanderns und Italiens empfand sofort den Zufluß an Kraft, die Zirkulation wurde kräftiger. Im Jahre 991  schloß Venedig, damals der Haupthafen des europäisch-orientalischen und insbesondere des deutschen Handels, Verträge mit den Sarazenen ab; neun Jahre später schlug  es  die kroatischen  See­räuber; im Jahre 1000 hatte Köln bereits eine Eisen-warenniederlage in London;  1016 wurden deutsche Kaufleute vor englischen Gerichtshöfen mit den ein­heimischen gleichberechtigt; 1040 blühte Brügge als Wollhandelszentrum auf; flandrisches Tuch war be­reits weltberühmt;  die Weberei  breitete  sich  über das nördliche Frankreich aus; die berühmten Mes­sen in der Champagne müssen bald hierauf errichtet worden sein. Der Warenaustausch zwischen Okzident und Orient belebte die ganze Wirtschaft.  Der Ge­sichtskreis dehnte sich aus. Der Ausdehnungsdrang stellte sich bald ein. Und die Umstände waren für Europa günstiger als zur Zeit des alten römischen Reiches, da Europa — dank den sächsischen Silber­gruben und der wachsenden gewerblichen Tätigkeit der Städte — nicht in so hohem Maße wie früher auf orientalisches Edelmetall angewiesen war und eine aktive Handelsbilanz (Wachsen der Ausfuhr über die Einfuhr) erzielen konnte.

Bald jedoch empfand Europa eine neue Hemmung. Die Seldschuken rückten in Vorderasien vor: 1071 eroberten sie Jerusalem, 1076 Damaskus. Byzanz, der Handels- und Kulturvorposten Europas, fühlte sich gefährdet; es wandte sich vergeblich an Rom um Hilfe, da das Papsttum damals im Investiturstreit mit dem Kaisertum lag. Hingegen gelang es Byzanz, ein Bündnis mit Venedig abzuschließen, das gut kaufmännisch die Gelegenheit benutzte, ein Handels­monopol im Oriente zu erlangen (1081).

Diese wirtschaftlich-politischen Faktoren lieferten einen großen Teil der Triebkraft zu jenen militäri-schen Ausdehnungsexpeditionen Europas nach Vor-derasien, die man Kreuzzüge nennt. Sie nahmen eine religiöse Form an, da das Papsttum damals an der Spitze der europäischen Politik stand und da vielfach auch christliche Empfindungen und Ge­danken die nötige Massenpsychose erzeugten. Die Religion war doch die dominierende Ideologie des Mittelalters. Und tiefe ökonomische Triebkräfte, die an der Basis der Gesellschaft umwälzend wirken, können — wie die Erfahrung lehrt — die Massen nur dann in Bewegung setzen und die entsprechende Psychose schaffen, wenn sie sich in der herrschenden Ideologie ausdrücken. In den Kreuzzügen mischten sich harmonisch städtisch-wirtschaftliche und kirch­lich-religiöse Interessen.

Aus den Kreuzzügen (1096—1270) ging Italien als erste Handelsmacht Europas empor; die gewerbe­reichen lombardischen Städte wurden zu Mittelpunk­ten des Handels und der Finanz; die katalanischen und die südfranzösischen Städte blühten mächtig auf; in allen Kulturzentren West- und Mitteleuropas steigerte sich die geistige und materielle Lebenskraft und Produktivität. Die Scholastik, oder der um­fassende Versuch, durch Logik und wissenschaftliche Mittel die Richtigkeit des Christentums zu beweisen, erreichte ihren Höhepunkt. Paris, Köln und Oxford wurden durch Gelehrsamkeit berühmt. In den Städten gewann die Geldwirtschaft die Oberhand und mit ihr das Sondereigentum; auch die selbständigen Bauern wurden in die Geldwirtschaft hineingezogen, da sie den aufblühenden Städten Nahrungsmittel lieferten.

Umwälzend und autoritätserschütternd wirkte fer­ner der Kampf zwischen weltlicher Macht und Papst­tum um die Herrschaft, der die drei Jahrhunderte von 1075—1350 ausfüllte, und in dem so machtvolle Gestalten wie Papst Gregor VII. (1073—1085), Fried­rich Barbarossa (1152—1190), Papst Innozenz III. (1189—1216), Friedrich II. (1215—1250), Philipp der Schöne (1285—1314), hervortraten. In einem Rund­schreiben an die Bischöfe im Jahre 1081 erklärte Gregor VII.: „Wer weiß nicht, daß der Könige und Fürsten Ursprung und Abkunft von denjenigen her­rührt, die von Gott nichts wußten, sondern mit Hoch­mut, Raub, Hinterlist, Mord, kurz: durch Verbrechen aller Art, angestiftet vom Teufel, über ihresgleichen, ihre Mitmenschen, mit blinder Gier und unerträglicher Anmaßung zu herrschen getrachtet haben?" (Gre-gorii VII., Opera; Migne, Patrologia, Band 147—48, Epistel 21). Kein Republikaner und Demokrat hätte gegen Monarchie und Staat schärfer schreiben kön­nen. Andererseits sahen die Massen, wie durch welt­liche Macht Päpste eingesetzt und abgesetzt wurden und wie im Laufe dieser Kämpfe die Päpste, der Klerus und das Mönchtum sich politisierten, ver­weltlichten und von den christlichen Idealen der Armut, der Besitzlosigkeit, der Demut, der Fried­fertigkeit sich entfernten.

Der Boden für das kommunistische Ketzertum wurde hierdurch vorbereitet. Alle, die noch den ur­christlichen, naturrechtlichen und kommunistischen Überlieferungen anhingen, trennten sich von einer Kirche, deren Häupter sich politisierten und verwelt­lichten, und die auch das Mönchtum seinem eigent­lichen Ziele entfremdeten und zu ihrem Werkzeug erniedrigte. Seit dem zwölften Jahrhundert, als das Papsttum auf der Höhe seiner weltlichen Macht stand, brachen die kommunistischen Ketzer, zum größten Teile Handwerker, kämpfend hervor.

Es gab jedoch auch Männer und Frauen, die zum Urchristentum, zur Besitzlosigkeit und zur apostolischen Armut zurückzukehren strebten, ohne mit der Kirche zu brechen. Aus diesen Bestrebungen entstand zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts (1208) der Franziskanerorden (Bettelorden), ein dem Charakter des städtischen Proletariats angepaßter Orden, der zwar schließlich im Mönchtum aufging, indes hervorragende Männer hervorbrachte, die allen antipäpstlichen, sozialreformerischen und demokratischen Bestrebungen wissentlichen Vorschub leisteten und auch praktisch wirkten und große Opfer für ihre Überzeugung brachten. Von allen mönchischen Orden stehen die Linke der Franziskaner und ihr Vorläufer Joachim von Floris den Sozialisten am nächsten.

Gleichzeitig mit dem Orden der Franziskaner entstand der der Dominikaner, ebenfalls ein Bettelorden, der aber von Anfang an die allgemeine Tendenz zeigte, den herrschenden Autoritäten zu dienen und die Ketzer zu richten, kurz: als Polizisten und Inquisitoren zu füngieren. Unter den Dominikanern, insbesondere unter den deutschen und italienischen, gab es lobenswerte Ausnahmen, wie Albertus Magnus und Meister Eckehart, Campanella und Giordano Bruno, die geistig eher zu den Franziskanern gehörten. Im allgemeinen dürfte jedoch die früher gegebene Kennzeichnung der Dominikaner richtig sein. Es war auch der Dominikaner Thomas von Aquino (geb. 1227, gest. 1274), der mit Hilfe der aristotelischen „Politik" dem Naturrecht das kommunistisch-demokratische Element nahm und die während der Kreuzzüge entstandene städtische, bürgerliche Wirtschaftsordnung rechtfertigte.

Man darf, ohne Widerspruch zu befürchten, die Behauptung aufstellen, daß seit dem zehnten Jahrhundert der Aufstieg der Stadt und ihrer Wirtschaftsweise in wachsendem Maße das Denken, die Politik, die sozialen, kirchlichen und sittlichen Konflikte in letzter Analyse beherrschte. Das bedeutet, daß die allgemeinen Auffassungen einen zunehmend bürgerlichen Charakter erhalten.

Nach dieser allgemeinen Übersicht über den Zeitabschnitt vom 10. bis zum 14. Jahrhundert wollen wir die theoretischen Kontroversen für und wider Kommunismus und Besitzlosigkeit betrachten, sowie die praktischen Kämpfe und Leiden der kommunistischen Ketzer behandeln.

2. Joachim von Floris. Amalrich von Bena.

Der Kommunismus, wie er seit dem zwölften Jahrhundert bis in das Zeitalter der Reformation hinein sich in verschiedenen Formen bemerkbar macht, fand neben dem Manichäismus eine theoretische Stütze in Joachim von Floris und Amalrich von Bena.

Joachim ist in Süditalien um das Jahr 1130, nach anderen Angaben um das Jahr 1145 geboren und um das Jahr 1202 gestorben. Er war also ein älterer Zeitgenosse des heiligen Franz von Assisi, des Gründers des Franziskanerordens. Er war dessen Vorläufer, und es waren auch Franziskaner, die sich der Schriften Joachims annahmen und sie verbreiteten. Er genoß eine gute Erziehung, wallfahrte nach Palästina — es war das Zeitalter der Kreuzzüge —, wo er den Plan zu seinen Werken entwarf. Kehrte dann nach Süditalien zurück, lebte in einem Zöno-bium (Kloster), wurde Mönch und Abt, immer aber in das Studium der Heiligen Schrift vertieft. Die Päpste ermutigten ihn in seinen Arbeiten, auch Kaiser Heinrich VI. (im Jahre 1191) war ihm gewogen. Joachim gründete in Floris bei Cosenza (Kalabrien) einen Orden, lebte in strenger Askese, beschäftigte sich viel mit Handarbeiten, hielt streng auf Reinlichkeit, machte die Betten im Krankenhaus des Klosters, pflegte die Kranken und gab Beweise der größten Demut und Bedürfnislosigkeit. Er genoß den Ruf eines Propheten. Seine Hauptschriften sind „Concordia" (Übereinstimmung des Alten und des Neuen Testaments), Kommentar über die Offenbarung Johannis und ein Psalterium, das von der Dreieinigkeit handelt. Die Grundgedanken Joachims sind:

Der allgemeine Zustand der Welt ist verderbt. Die Mächtigen üben Gewalt, die Untertanen sind lasterhaft, die Geistlichkeit hat die Kenntnis der Wahrheit verloren und eifert gegen diejenigen, die auf eine Erneuerung hinarbeiten. Die Kirche ist verweltlicht und hat den Glauben an ihre Mission verloren, insbesondere sind die Mönche dem Zustande der Verderbnis verfallen. Hieraus erklären sich die verheerenden Konflikte zwischen Papst und Kaisertum, das Überhandnehmen der Legalisten, der theoretischen Kontroversen und die ketzerischen Massenbewegungen, das Vorrücken der Sarazenen, die das Christentum bedrohen. Diese Gefahren können nur abgewendet werden durch eine Erneuerung der Kirche. Die Erneuerer werden Orden sein, die zur apostolischen Armut, zum Verzicht auf allen Besitz und alle weltliche Macht zurückkehren. Diese Orden werden Prediger aussenden, die nicht bloß die Untertanen, sondern auch die Mächtigen und Vorgesetzten strafen. Diese Mission ist nötig, denn ein neues Zeitalter ist im Anbrechen, das Zeitalter des Heiligen Geistes.

Gott hat die Weltzeit in drei Alter geteilt. Das erste Zeitalter entsprach dem Vater, der seine Kinder mit Furcht regierte und. sie zu Knechten machte. Dann kam das Zeitalter des Sohnes: er regierte durch Weisheit und Zucht. Dieses Zeitalter geht zu Ende. Bald bricht das Zeitalter des Heiligen Geistes an, wo Liebe und Freiheit, äußeres und inneres Glück herrschen werden. Die Zeitalter der Furcht und Knechtschaft, der Arbeit und Disziplin sind zu Ende. Das dritte Zeitalter wird einen Zustand der Freiheit, des Friedens, der Gewaltlosigkeit, des Kommunismus sein: ein Zeitalter der Demütigen und Armen, ohne Klassen- und soziale Unterschiede, ohne Mein und Dein. (Engelhardt, Kirchengesch. Abhandlungen, Erlangen 1832; Renan, Nouvelles editudes d'histoire religieuse, Paris 1884; Sudeur, Kommunismus in der Kirchengeschichte, 1920. Vgl. Lessing, Erziehung des Menschengeschlechts §§86 ff.)

Die Schriften des Joachim oder Auszüge daraus wurden als „Ewiges Evangelium" bekannt und später als ketzerisch verurteilt(1), obwohl Joachim selber sich als treuen Sohn der Kirche betrachtet, die ketzerischkommunistische Bewegung scharf angegriffen hatte und obwohl seine Lehre vom dritten Zeitalter doch nur eine andere Form der in der urchristlichen Zeit allgemein angenommenen Idee des Chiliasmus (des tausendjährigen Reiches) darstellt.

Viel ketzerischer war die Lehre Amalrichs (gest. 1204). Dieser wurde in Bena in der Diözese von Char-tres (Frankreich) geboren. Mehrere Jahre trug er Logik und Exegese (Bibelerklärung) auf der Pariser Universität vor. Seine Lehren von der Gottheit wurden von der Universität verurteilt. Da auch der Papst die Verurteilung bestätigte, starb Amalrich aus Gram. Er hinterließ keine Schriften, wohl aber einige Schüler, die seine Lehre verbreiteten und verurteilt wurden. Die Ansichten der Amalrikaner kennen wir nur aus den Anklageschriften, also aus wenig zuverlässigen Quellen. Jedoch gestatten sie Rückschlüsse auf den Gedankengang und das Bestreben Amalrichs und seiner Anhänger. Sie gingen von Scotus Erigena (im neunten Jahrhundert in England) aus, der Mystiker und Pantheist (Glaube an die Durchdringung des Weltalls durch göttlichen Geist) war und an die Wiederkehr der paradiesischen oder natürlichen Glückseligkeit der Menschen glaubte. In seinem Werke „Über die Einteilung der Natur" (5. Buch, Kapitel 2 und 19) sagt er: „Daraus wird nun klar, daß die Vertreibung der Menschen aus dem Paradies nichts anderes ist als der Verlust der natürlichen Glückseligkeit, zu deren Besitz er geschaffen wurde... Und Johannes in der Apokalypse sagt: ,Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen.' Der neue Himmel und die neue Erde bedeuten, wie der selige Theologe Gregor von Nazianz erklärt, die Wiederherstellung der menschlichen Natur in ihren frühern Zustand." Erigena war auch Pantheist; er zitiert die tiefsinnige Stelle aus Dionysius dem Areo-pagiten, „daß Gott sowohl alles geschaffen hat wie in allem geworden ist" (3. Buch, Kapitel 10), oder hegelianisch ausgedrückt: Gott ist im Werden begriffen und in diesem Werdeprozeß wird er und die Welt geschaffen. Hier liegt der Kern aller Mystik.

Amalrich und seine Anhänger nahmen diese Ideen auf. Sie lehrten, Gott war und ist in allem, in Jesus sowohl wie in den heidnischen Denkern und Dichtern. Er sprach in Ovid so gut wie in Augustinus. Als Mystiker und Pantheisten waren sie anünomi-stisch (gegen rituelle Gebräuche, kirchliche Zeremonien und Satzungen), gegen Heiligenverehrung und Reliquienanbeterei. Sie meinten noch, wer im Heiligen Geiste ist, steht über dem Gesetz; Ehe- und Eigentumsgesetze haben für sie keine Geltung. Die Schüler Amalrichs kannten auch die Lehren Joachims von den drei Zeitaltern und sie glaubten, sie seien die Bahnbrecher des dritten Zeitalters (des Heiligen Geistes). Sie kämpften gegen die Kirche; sie hielten den Papst für den Antichrist, Rom für Babylon. Diese Lehre wurde von der franziskanischen Linken mit besonderem Eifer weiter ausgebaut und verbreitet. Mit den Amalrikanern verwandt ist die Sekte des freien Geistes, in der es Mitglieder gab, die in ihrem Glauben, vom göttlichen Geiste beseelt zu sein, sich über alle Moral hinwegsetzten und viel Unheil in der ketzerisch-kommunistischen Bewegung anrichteten. (Siehe Preger, Gesch. der deutschen Mystik, Band I, Seite 207 ff. Vgl. weiter unten Seite 208—210.)

3. Franz von Assisi; Duns Scotus, Marsilius von Padua, Wilhelm von Occam.

Der Gründer des nach seinem Namen benannten Franziskanerordens wurde im Jahre 1181 oder 1182 in Assisi (Umbrien, Italien) geboren. Sein Vater war ein sehr reicher Kaufmann, der viel reiste. Franz erhielt keine regelrechte Erziehung, lebte das Leben der goldenen Jugend, tobte sich aus, geriet in einem Kriege seiner Vaterstadt gegen Perugia in Gefangen-

schaft, kehrte dann zurück und begann sein altes zügelloses Leben, bis ihn eine Krankheit niederwarf. Die Heilung ging nicht leicht und schnell vonstatten. Franz hatte Zeit, über sein Leben nachzudenken und machte schließlich eine geistige Krisis durch, aus der er als ein anderer Mensch hervorging. Er zog sich in die Einsamkeit zurück, betete, widmete sich dem Dienst der Armen, Kranken und Aussätzigen. Einmal wies ihn eine innere Stimme auf folgenden Vers im Evangelium Matthäi (X, 7—10): „Gehet und prediget und sprechet: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Machet die Kranken gesund, reiniget die Aussätzigen, wecket die Toten auf, treibet die Teufel aus. Umsonst habt ihr es empfangen, umsonst gebt es auch. Ihr sollt nicht Gold noch Silber noch Erz in euren Gürteln haben, auch keine Tasche zur Wegfahrt, auch nicht zwei Röcke, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert." Diesem Ruf folgte Franz. In Armut und Frohsinn ging er seinem Werke nach. Im Jahre 1206 fand er ein Dutzend Anhänger, die ihm folgten. Es war gegen seine Absicht, einen Mönchsorden zu gründen. Er wollte nur eine Anzahl von Missionaren haben, die in apostolischer Armut lebten und das Gebot Christi befolgten, sich ihren Lebensunterhalt durch Handarbeit verdienten und — wo dies unmöglich — durch Betteln, jedenfalls sollten sie kein Geld anrühren; übermäßige Askese verlangte er von ihnen nicht. Er wollte eine Mission von Urchristen schaffen, die durch ihren Eifer, ihre Hingabe, ihr Beispiel die Welt reformieren sollte.

Der Heilige von Assisi liebte die Natur, nicht nur als Poet, sondern als Glied der ganzen Kreatur; in brüderlicher Liebe umfaßte er alle Dinge und Wesen der Welt. Er war unbewußt ein Mystiker; er hielt nichts von Philosophie, Wissenschaft und Theologie. Praktische Hilfe allen Schwachen, Kranken und Elenden, sittlich-religiöse Erneuerung der Menschheit war ihm das Alpha und Omega des Christentums. Er kämpfte gegen niemand, außer gegen sich selbst. Er blieb der Kirche treu.

Die Zahl seiner Anhänger wuchs außerordentlich rasch. Während seiner Abwesenheit von Italien (1219-20) verwandelte sein Stellvertreter Ellas die Franziskaner in einen Orden und milderte die Regel, was Franz nach seiner Rückkehr nicht gefiel. Auf Rat des Papstes beruhigte er sich jedoch und willigte in die Ordensgründung ein. (Die Franziskaner wurden auch Minoriten genannt.)

Franz fühlte jedoch, daß seine Anhänger sich auf die abschüssige Bahn begaben, indem sie zu einem Mönchsorden wurden und mit der Kirche sich verbanden. In seiner Willenskundgebung rief er aus: „Ich arbeite mit meinen Händen und will weiterarbeiten, und ich will auch bestimmt, daß die anderen Brüder anständige Arbeit verrichten. Die Brüder sollen sich hüten, Kirchen, Wohnungen und alles andere, was für sie erbaut wird, in einer Weise anzunehmen, die der heiligen Armut nicht entspricht, welche wir in der Regel gelobt haben, sie sollen immer nur Gast sein, Pilger und Fremdlinge. Ich befehle allen Brüdern, daß sie kein Privileg von der römischen Kirche erbitten, weder unmittelbar noch mittelbar, weder für die Kirche, noch unter dem Vorwand der Predigt, noch in Verfolgung des leiblichen Vorteils."

Unter Anleitung Franz' wurde bald der Clarissinnen-orden gegründet und im Jahre 1221 entstanden die Tertiarier: ein aus Laien bestehender Anhang zum Franziskanerorden. Es waren meistens arbeitende Proletarier, die außerhalb der Klöster lebten und wirkten und sich der sozialen Arbeit des Ordens widmeten. Die Tertiarier waren das Bindeglied zwischen dem Orden und den ketzerisch-sozialen Bewegungen. Sie müssen bald gefährlich geworden sein, denn die Staatsgewalt verbot den Anschluß der Tertiarier an den Orden.

Nach Franz' Ableben (1226) entstanden Spaltungen unter seinen Anhängern. Es bildete sich eine Linke, die die Regel von der apostolischen Armut, von Arbeit und Betteln streng aufrechterhalten wollte. Die Anhänger dieser Richtung wurden die Eiferer genannt. Das andere Extrem vertrat die Rechte: Sie wandte sich gegen die apostolische Armut und wollte aus den Franziskanern einen gewöhnlichen Mönchsorden machen. Zwischen beiden stand eine Mittelpartei, die die Mehrheit der Mitglieder umfaßte und für die Organisation eines Mönchsordens mit gemäßigter Regel eintrat, der Gemeineigentum besitzen, im Christentum zu Einfluß gelangen, Theologie und andere Universitätswissenschaften pflegen sollte. Vorerst wurde der Orden im Sinne der Mittelpartei geleitet, im Jahre 1247 jedoch wurde das geistige Oberhaupt der Linken, Johann von Parma, zum Franziskanergeneral gewählt, der in Paris Theologie studiert hatte und dem „Ewigen Evangelium" Joachims anhing. Er war ein eifriger Verteidiger der strengen Befolgung der Regel. Sein intimster Genösse war Gerhard von San Domino, der Verfasser der Einführung („Introductorius") in die Lehren Joachims. Diese Schrift hebt jedoch die Kritik gegen Papsttum und Kirche schärfer hervor, legt besonderes Gewicht auf die Missionsrolle der Bettelmönche und hält Joachim für den Propheten des nahenden dritten Zeitalters. Die franziskanische Linke sowie die Schüler Amalrichs waren geneigt, das „Ewige Evangelium" oder die Schriften Joachims und Gerhards höher als das Neue Testament zu schätzen oder es gar für veraltet zu halten.

Im Jahre 1254 sandte der Bischof von Paris den „Introductorius" an den Papst Innozenz IV. Eine von ihm eingesetzte Prüfungskommission verdammte die Schrift als ketzerisch. Gerhard wurde ins Gefängnis geworfen, Johann von Parma abgesetzt, was indes die franziskanische Linke nicht verhindern konnte, am „Ewigen Evangelium" festzuhalten und Papst und Kirche wegen ihres Sammeins von irdischen Schätzen zu verurteilen. Aus dieser Richtung kamen die Spiritualen, die gegen die Macht- und Habgier des Papsttums kämpften. Über hundert Spiritualen starben im vierzehnten Jahrhundert den Flammentod, weil sie — entgegen dem Entscheid des Papstes Johann XXII. (1316—1334) — die apostolische Armut verteidigten und die kirchliche Macht- und Raffgier verdammten. Aus der franziskanischen Linken kamen auch die Apostelbrüder, die zu der in der Lombardei und in Südfrankreich damals starken ketzerisch-kommunistischen Bewegung viel beitrugen. Der franziskanischen Linken gehörten schließlich auch die hochgelehrten Männer an, die in den Konflikten zwischen dem Papst Johann XXII. und Ludwig dem Bayern (1314—1347) geistige Waffen gegen das Papsttum lieferten. Der bedeutendste unter ihnen war der englische Franziskaner Wilhelm von Occam (Ockeham), der ein Schüler des berühmten Duns Scotus war.

Johann (Duns) Scotus (geb. in Nordengland, gest. in Köln 1308) war einer der gelehrtesten Franziskaner, gehörte jedoch zur gemäßigten Richtung. Er betrachtete die apostolische Armut als Ideal, als Vervollkommnung der christlichen Lebensführung. Das Sondereigentum entsprang weder dem göttlichen noch natürlichen Recht, sondern dem Zivilrecht und war die Folge des Sündenfalls. Die Menschen wurden von Herrsch- und Bereicherungssucht ergriffen, ein Kampf aller gegen alle entstand, da jeder sich den größten Teil aus dem Gemeinbesitz nehmen wollte. Deshalb wurde der Staat und das Sondereigentum begründet. Der Gemeinbesitz wurde geteilt auf Grund des Zivilrechts, das den wirtschaftlichen Verkehr reguliert. Handel und Verkehr sind der Gesellschaft nützlich, deshalb sind sie auch legitim. Die Vorteile des Handels dürfen jedoch nicht zu Zwecken der Bereicherung benutzt werden. Die Aufkäufer und Preistreiber sind eine Gefahr für die Gesellschaft (Duns Scotus, Quaestiones super senten-tias 4, distinctio 15, quaestio 2; sielie Karl Werner, Duns Scotus, Seite 585).

Ein Denker und Kämpfer war Wilhelm von Occam (geb. in Südengland, gest. in München 1347). Er hielt zur strengen Regel der apostolischen Armut und kämpfte gegen die weltlichen und materiellen Ansprüche des Papsttums. In diesem Kampfe entwickelte er originelle Ideen über die Entstehung des Eigentums und des Staates. Er wurde vom Papst Johann XXII. in Avignon ins Gefängnis geworfen und verdankte seine Befreiung Ludwig dem Bayern, an dessen Hof sich antipäpstliche Gelehrte sammelten. Mit Occam befand sich in München sein Freund Marsilius von Padua (geb. um 1270, gest. um 1342); beide hatten sich in Paris kennengelernt, wo Marsilius Philosophie, Medizin und Theologie studierte.

Beide entwickelten die für jene Zeit überraschend kühne Theorie von der Souveränität des Volkes. Marsilius behandelte sie in seinem im Jahre 1324 verfaßten Buche „Defensor Pacis" (Verteidiger des Friedens), das er Ludwig dem Bayern widmete.

Nach Marsilius ist das Volk die Quelle der gesetzgebenden Gewalt. Es wählt oder ernennt einen König oder Obmann der Regierung, der dem Volke verantwortlich ist. Das Volk kann ihn zur Rechenschaft ziehen. Es muß darauf sehen, daß er sich nicht über die Bürger erhebt. Um dies wirkungsvoll tun zu können, soll das Volk dem Oberhaupt nie gestatten, eine große bewaffnete Macht zu halten. Das Oberhaupt als Vertreter des souveränen Volkes steht höher als der Papst, da dessen Macht nur auf Vergewaltigung beruht und nicht auf dem Willen des Volkes. Marsilius wies auf die demokratischen Zustände der urchristlichen Gemeinden hin, die noch keinen Unterschied zwischen Laien und Priestern kannten und wo die Bischöfe keine gesetzgebende noch ausführende Gewalt besaßen, also auch der oberste Bischof eine solche rechtmäßig nicht besitzen könne.

Bei Occam wird die Lehre von der Souveränität des Volkes auf die Entstehung des Sondereigentums angewandt. Nach ihm hat die moralische Entwicklung der Menschheit drei Stufen durchgemacht: i. vor dem Sündenfall; 2. nach dem Sündenfall; 3. nach Eintritt der Bösartigkeit. Auf der ersten Stufe lebte der Mensch nach dem Naturrecht, ohne Staat und ohne äußere Regulierungen, alles war gemeinschaftlich und alle Menschen waren gleichheitlich und frei. Auf der zweiten Stufe wurde der Mensch vom Vernunftrecht geleitet, die Vernunft gab ihm Gesetze und gebot ihm, aufrichtig zu sein, die Lüsternheit zu zähmen, gemeinschaftlich und freiheitlich zu leben. Auf der dritten Stufe mußte schon eine äußere Gewalt eingreifen: sie schuf den Staat, die wirtschaftliche und politische Unfreiheit.

Aber wie konnte dieser Zustand errichtet und legitimiert werden entgegen dem Natur- und Vernunftrecht? Dieses ist doch ewig! Wie konnte es umgestoßen werden?

Hierauf antwortet Occam: Staat und Sondereigentum sind nur legitim, wenn sie mit Zustimmung des Volkes entstanden sind. Die Souveränität des Volkes ist ein Naturrecht. Hat das Volk seinen Willen zugunsten der staatlichen und privatwirtschaftlichen Ordnung kundgegeben und ist sie im Interesse der Gesamtheit eingeführt, so hat sie gewissermaßen die Sanktion des Naturrechts (Occam, Dialogus, abgedruckt in Goldast, Monarchia II, Seite 932—34). Diese Lehre von der Entstehung des Staates und des Sondereigentums auf Grund der Zustimmung des Volkes erinnert lebhaft an die Theorie vom gesellschaftlichen Vertrag: daß Staat und Sondereigentum auf Grund eines ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrags zwischen den Volksgenossen entstanden seien, — eine Theorie, die man gewöhnlich auf Rousseau zurückführt, aber viel älter ist.

Die englischen Franziskaner: Roger Baco, Duns Scotus und Occam haben auch wissenschaftlich und philosophisch-theologisch eine große Bedeutung, die wir aber unberücksichtigt lassen müssen, da uns hier nur die Ansichten für und wider Kommunismus und Volksfreiheit angehen.

4. Domingo de Guzman; Thomas von Aquino.

Domingo (Dominik) de Guzman, der Gründer des Dominikanerordens, stammt aus Altkastilien (Spanien), wurde um das Jahr 1170 geboren und starb 1221. Er studierte Theologie und erhielt von Inno-zenz III. den Auftrag, nach Languedoc (Südfrankreich) zu gehen und dort die Albigenser, die walden-sischen Ketzer, zu bekehren. Er blieb dort vom Jahre 1205—1215, predigte und drohte, ohne sein Ziel zu erreichen. Es gelang ihm nur, eine Anzahl Anhänger zu gewinnen und einen Orden zu gründen, dem der Bischof von Toulouse im Jahre 1215 eine Kirche als Ordenshaus anwies. Seinen Ursprung als Ketzer-bekehrer und Ketzerrichter hat dieser Orden nie verleugnet. Die Dominikaner wurden — mit wenigen Ausnahmen — zu „Spürhunden Gottes" (lateinisches Wortspiel: Domini canes = Hunde des Herrn), zu Inquisitoren, und brachten viele Ketzer ans Schwert und auf den Scheiterhaufen.

Der berühmteste Dominikaner war Thomas von Aquino (1227—1274), ein adeliger Italiener, der mit den Staufern verwandt war. Er zeichnete sich durch umfassende Gelehrsamkeit aus. Seine Bedeutung für die Geschichte des Sozialismus ist eine rein negative. Sein Wirken ist wesentlich eine Abkehr von platonischen und neuplatonischen Ideen, die stets mystisch-kommunistische Strömungen mit sich führten, ebenso eine Abkehr von den kommunistischen Überresten des landwirtschaftlichen Lebens; das bedeutete eine Zuwendung zum städtischen Leben mit seinem mittelalterlichen, gewerblich-landbaulichen Charakter, eine Zuwendung zu den antikommunistischen Gedankengängen des Aristoteles. Thomas hat zur Einbürgerung der aristotelischen Politik und Ethik in die mittelalterliche Theologie sehr viel beigetragen. Er ist der eigentliche Lehrer der modernen Päpste, die gegen den Sozialismus Enzykliken erlassen.

Die Einführung in die Schriften des Aristoteles verdankt Thomas ohne Zweifel seinem deutschen Lehrer Albertus Magnus (1193—1280), bei dem er in Köln und Paris studierte. Albertus, ein Dominikaner, war der belesenste und wissensreichste Scholastiker seiner Zeit. Seinem edlen Charakter und seiner Lebensführung nach gehörte Albertus eher zu den Franziskanern, denn er lebte in apostolischer Armut, liebte die Wissenschaft, studierte die freigeistigen Araber und Juden, wie Avicenna (gest. 1037), Averroes (gest. 1198), den jüdischen Theologen Moses Maimonides (gest. 1204), die eine rationalistische oder gar freidenkerische Richtung schufen und die zwar auf Aristoteles basierten, aber von neuplatonischen Ideen beeinflußt waren. Averroes beschäftigte sich auch mit Platos kommunistischer Republik.

Thomas ging über seinen Lehrer hinaus. Mit richtigem Instinkte ließ er sämtliche vorhandenen Schriften des Aristoteles aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen (1260—1270) und führte sie als autoritäre Quellen in die Schulen ein. Während bis dahin von Aristoteles hauptsächlich die Logik, Physik und Metaphysik bekannt gewesen waren, wurden nunmehr auch seine „Politik" und „Ethik" eingebürgert, — Schriften, die im Prinzip gegen Plato, gegen den Kommunismus und gegen die naturrechtlichen Ideen gerichtet sind. Aristoteles' „Politik" ist (wie bereits im ersten Teile dieser „Geschichte" bemerkt wurde) zum Teil eine Polemik gegen Platos „Politeia". Es wird dort der Beweis versucht, daß Sondereigentum natürlich sei, weil es mit der menschlichen Natur besser übereinstimme als der Kommunismus, daß die Sklaverei nicht wider die Natur sei, da gewisse Menschen tatsächlich sklavisch von Natur seien, daß die Menschen in ihrer Natur ungleich seien, daß also die Lehre vom gemeinschaftlichen Besitz, von Freiheit und Gleichheit sich nicht auf die Natur berufen könne.

Angesichts der großen Autorität, die Aristoteles im Mittelalter genoß, war es für Thomas nicht schwer, ein Kompromiß zwischen den urchristlich-patristi-schen Überlieferungen des Naturrechts und aristo-telisch-mittelalterlich-städtischen Ansichten und Zuständen zu bewerkstelligen. Denn an ein gänzliches Aufgeben des alten Naturrechts war nicht zu denken: die Autorität der Kirchenväter konnte man nicht einfach abschütteln. Thomas von Aquino war ein großer Kompromißler und Opportunist, und wie dies bei solchen Charakteren der Fall ist, verbeugt man sich zwar ehrerbietig vor dem Prinzip, aber man folgt praktisch den augenblicklichen Machtverhältnissen, und man macht sich seine Theorien demgemäß zurecht. Der Kommunismus, meint Thomas, setze ideale Menschen voraus und sei wohl „in statu innocentiae" (im Zustande der Unschuld) möglich gewesen, denn damals bestand keine Gefahr, daß er zu Uneinigkeit oder Zank führen würde. Aber wie die Menschen nun einmal seien, sei das Sondereigen-tum natürlicher, nur müßten die Reichen — nach natürlichem und göttlichem Recht — den Armen reichlich Almosen geben, denn der Überfluß des einen bedeute den Mangel des ändern. Übrigens seien Eigentum und Ungleichheit nicht notwendigerweise Folgen des Sündenfalls und des Abweichens vom Naturrecht. Diese Einrichtungen würden auch ohne die moralischen Katastrophen entstanden sein; die gesellschaftlichen Umstände würden die Menschen schon veranlaßt haben, Sondereigentum und Ungleichheit herzustellen, denn die Verschiedenheit der Besitzverhältnisse und der Bevölkerungsschichten beruhten auf der Verschiedenheit der Arbeitsleistungen. Auch der Staat sei nicht notwendigerweise eine Folge des Sündenfalls oder etwa nur dazu bestimmt, die Lasterhaftigkeit der Menschen zu zügeln; er bilde vielmehr die geeignete Form eines gesunden Zusammenlebens der Menschen(2).

Die aristotelisch-thomistische Ansicht wurde nach und nach zur herrschenden Theorie der Kirche, die mit ihr die Sozialisten bekämpft. Die wachsende Entfaltung des Sondereigentums und des städtischen Lebens seit dem Ausgange des Mittelalters verdrängte das alte patristisch-kanonische Naturrecht aus der christlichen Theologie. Nur die kommunistischen Ketzer hielten es aufrecht und basierten hierauf ihre Sozialethik.

 

Anmerkungen

1) Interessant ist in dieser Beziehung die Ansicht Renans (Aver-roes, Ausgabe 1866, Seite 292): „Die ketzerische Bewegung des Mittelalters teilt sich in zwei voneinander getrennte Strömungen: eine wird vom ,Ewigen Evangelium' gekennzeichnet und umfaßt die mystisch-kommunistischen Bestrebungen, die von Joachim von Floris ausgingen und nachdem sie das 12. und 13. Jahrhundert ausgefüllt hatten (Johann von Parma, Gerhard von San Donnino, Hubert von Casale, Peter von Bruys, Waldus, Dolcino, die Brüder des freien Geistes), wurden sie von den deutschen Mystikern im 14. Jahrhundert fortgesetzt; die andere Strömung war die des materialistischen Unglaubens und entsprang dem Studium der Araber und deckte sich mit dem Namen Aver-roes." In die letztere Richtung wurde der Staufer Friedrich II. hineingezogen.

2) Aristoteles" Politik (griechisch und deutsch von Susemihl, Leipzig 1879, 2- Teil) Buch II, Kap. 2, § 5, 6, 7, 8, Kap. 3 und 4; Buch IV, Kap. 9; Buch VIII, Kap. 7, § 8; Kap. 10, § 3. St. Thomas Aquino, Summa I, quaestio 96, 4; II, 2, quaestio 66a und 32 (über Besitz und Eigentum); derselbe, De regimine princi-pum, I, i, IV, 4 (vom Sonderbesitz). Vergleiche auch Troeltsch, Archiv für Sozialwissenschaft, 1909, Seite 58—59, oder dessen Gesammelte Werke, Band I; Carlyle, History of Mediaeval Po-litical Theory, Edinburg 1903—07.

Editorische Anmerkungen

Max Beer, Allgemeine Geschichte des Sozialismus und der sozialen Kämpfe, mit Ergänzungen von Dr. Hermann Duncker, S.187-203

Der Text ist ein OCR-Scan by red. trend vom Erlanger REPRINT (1971) des 1931 erschienenen Buches in der UNIVERSUM-BÜCHEREI FÜR ALLE, Berlin.

Von Hermann Duncker gibt es eine Rezension dieses Buches im Internet bei:
http://www.marxistische-bibliothek.de/duncker43.html