Algerien:
Referendum am 29. September über „Frieden und nationale Aussöhnung“
 
Von Bernhard Schmid
09/05

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„Die Bürger haben das Dokument nicht gelesen“, so lautet die Titelschlagzeile der algerischen Tageszeitung El Watan vom 14. September, zwei Wochen vor der Volksabstimmung über die „Charta für den Frieden und die nationale Aussöhnung“.

Die bürgerlich orientierte Tageszeitung gibt Auszüge aus Gesprächen wieder, die ihre Journalisten in Krankenhäusern, Schulen und Unternehmen, auf Wochenmärkten und den Straßen von Algier führten. Die zitierten Reaktionen schwanken dabei überwiegend zwischen Indifferenz – als Ausdruck der Tatsache, dass viele Bewohner der algerischen Hauptstadt erklärtermaßen ihren drängenden sozialen Problemen den Vorrang einräumen – und Skepsis.

Aussichten für die Abstimmung 

Dennoch kann sich niemand ausdrücklich vorstellen, dass die Vorlage zur „nationalen Aussöhnung“ bei der Abstimmung vom 29. September scheitern könnte. Denn Präsident Abdelaziz Bouteflika (oder Boutefliqa, je nach Transkription aus dem Arabischen), der im April vorigen Jahres mit offiziell 85 Prozent der Stimmen für eine zweite fünfjährige Amtsperiode wiedergewählt wurde, hat nicht nur eine geballte Propagandamacht aufzubieten. Dazu gehören die Staatsmedien, darunter der bisher einzige  Fernsehkanal des Landes (ENTV) -während die private Presse Algeriens teilweise deutliche Skepsis erkennen lässt -, aber auch die Vermittlungsanstrengungen der örtlichen Behörden.  

Vor allem aber verfügt Bouteflika über starke ökonomische Hebel, um - wahrscheinlich - einen relevanten Teil der Bürger zum erwünschten Wahlverhalten zu motivieren. Aufgrund des momentan hohen Rohölpreises auf den internationalen Märkten sind die Kassen des algerischen Staates in der jüngsten Periode, erstmals seit über einem Vierteljahrhundert, prall gefüllt. 53 Milliarden Dollar beträgt derzeit der Devisenüberschuss, den die Regierung auf der hohen Kante liegen hat. Erstmals überragen in den letzten Jahren die Reserven der öffentlichen Hand erheblich die Auslandsschulden (im vergangenen Jahr 22 Milliarden Dollar), die Algerien in den tiefen Krisenperioden der 1980er und 90er Jahren aufhäufen musste.  

Zwar überdeckt diese vermeintlich glänzende Haushaltslage nur oberflächlich die strukturelle Krisenanfälligkeit der algerischen Ökonomie, die aus ihrer weitgehenden Importabhängigkeit resultiert. Im Rahmen der vorherrschenden internationalen Arbeitsteilung wurde die Rolle Algeriens immer stärker auf jene eines hochspezialisierten Lieferanten zweier Rohstoffe, Erdöl und Erdgas, zugeschnitten. Produktionskapazitäten in anderen Sektoren sind vorhanden, bleiben aber zu bis zu 80 Prozent ungenutzt. Denn ausländische Konzerne sind kaum daran interessiert, in diese früheren Staatsfirmen – die während der staatssozialistischen Phase des Landes aufgebaut wurden, aber mittlerweile fast alle zur Privatisierung ausgeschrieben sind – zu investieren und ihre Anlagen zu modernisieren. Westliche Firmen interessiert Algerien vorwiegend nur als Absatzmarkt, und als Rohöllieferant. Mit diesen stärkeren Konkurrenten und ihrem höheren Produktivitätsniveau können die einheimischen Firmen, schon auf dem algerischen Binnenmarkt, nicht mithalten. Die daraus resultierenden Krisen- und Abhängigkeitsphänomene werden sich in absehbarer Zeit sogar noch drastisch verschärfen, da der Binnenmarkt durch das Assoziierungsabkommen mit der EU, das am 1. September 2005 in Kraft trat, in den nächsten anderthalb Jahrzehnten weitgehend geöffnet werden muss. 

Dennoch ist die außenwirtschaftliche Situation Algeriens, auch wenn sie sich nur im Anschein und auf kurze Frist hin positiv darstellt, eine wichtige Trumpfkarte für Präsident Bouteflika. Denn in Anbetracht der gravierenden sozialen Probleme – einer zusammenbrechenden Wasserversorgung in den Städten, immer noch horrender Arbeitslosigkeit (auch wenn sie nach offiziellen Zahlen von 30 auf 18 Prozent gesunken sein soll), dem Mangel an Wohnraum – kann das Staatsoberhaupt sich zumindest kurzfristig den inneren Frieden buchstäblich erkaufen: Ein Sonderbudget für eine notleidende Region hier, auf klientelistischer Basis verteilte Zuschüsse dort...  

Bereits zum zweiten Mal seit seinem ursprünglichen Amtsantritt, im April 1999, lässt Abdelaziz Bouteflika die algerische Wahlbevölkerung zur Stimmabgabe „für den Frieden“ und für ein Amnestieprojekt an die Urnen rufen. Beim ersten Mal hörte die Vorlage, über die beim Referendum vom 16. September 1999 abgestimmt wurde, auf den Namen „innere Eintracht“ (concorde civile). 

Rückblick auf die Amnestie von 1999 

Damals sollten die Wahlberechtigten – rund 18 der 30 Millionen AlgerierInnen – dem Amnestiegesetz seinen Segen erteilen, das faktisch bereits seit Juli desselben Jahres Anwendung fand. Sein Gegenstand war ein Amnestieangebot der Staatsmacht an jene Mitglieder islamistischer bewaffneter Gruppen, die innerhalb einer Frist von sechs Monaten (die am 13. Januar 2000 auslief) ihre Waffen abgeben würden. Ihnen wurde Straffreiheit garantiert, mit Ausnahme jener Mitglieder islamistischer Guerilla- oder Untergrundgruppen, denen persönlich Mord, Vergewaltigung oder die Teilnahme an Massaker an der Zivilbevölkerung sowie an Bombenanschlägen auf öffentlichen Plätzen vorgeworfen werden konnten. Die Anwärter auf die Amnestie sollten vor einer dreiköpfigen Prüfungskommission  aus Richtern und Staatsrepräsentanten vorsprechen. Wer dann unter das Amnestieangebot fiel, dem wurden eine Wohnung und materielle Eingliederungshilfen versprochen. 

Nicht angewendet werden sollte dieses individuelle Amnestierungsverfahren jedoch auf die Mitglieder der größten bewaffneten Islamistenorganisation, der „Islamischen Rettungsarmee“ (AIS), die von 1994 bis 1999 den bewaffneten Arm der „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) – die Partei war im März 1992 gesetzlich verboten worden – bildete. Ihre Mitglieder wurden, in Umsetzung eines bereits zwei Jahre vorher geschlossenen Waffenstillstandsabkommens zwischen der AIS und der Staatsmacht, pauschal amnestiert. Die individuelle Prozedur sollte also für die Mitglieder jener unabhängig von der ehemaligen Partei handelnden, autonomen Terrorgruppen gelten. Dazu gehörten etwa die berüchtigten „Bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA), die hauptsächlich für die Kollektivmassaker an ZivilistInnen verantwortlich zeichneten.  

Genaue Zahlen darüber, wie viele ehemals bewaffnete Islamisten von dem damaligen Amnestiegesetz profitierten, sind nicht veröffentlicht worden – ebenso wenig darüber, wie viele am Ausgang des individuellen Prüfungsverfahrens verurteilt worden. Die Staatsmacht spricht von rund 6.000 Personen, die damals den bewaffneten Kampf beendet hätten. Von Verurteilungen im Anschluss ist nichts bekannt geworden, es dürfte aber kaum welche geben, zumal die individuelle Zurechnung von Massakern und Sprengstoffattentaten auf einzelne Mitglieder der GIA wohl eher schwierig war. Der Volksmund weiß jedenfalls, dass sich „seltsamerweise immer nur solche Mitglieder der GIA stellten, die vorher ihre Mitkämpfer bekocht hatten oder allenfalls mal Schmiere gestanden waren“. Die Staatsmacht drückte offensichtlich auch mal beide Augen zu, solange nur ihrem Bestreben, endlich wieder international als stabilisiertes Land auftreten zu können, näher zu kommen war. 

Damals, 1999, stellte sich kaum jemand offen gegen das Amnestiegesetz. Denn Algerien stand damals unmittelbar am Ausgang der „heißen Phase“ des Bürgerkriegs, die 1993 begonnen hatte. Und ein großer Teil der öffentlichen Meinung wünschte damals ihrerseits, auf kurze Frist hin, nur eines: Dass das Blutvergießen endlich aufhörte. Die politischen Konditionen, zu denen die Staatsmacht die Friedensaussicht anbot, erschienen demgegenüber zunächst als zweitrangig. Doch für böses Blut sorgten in den darauffolgenden Jahren die materiellen Privilegien, die viele der Amnestierten genossen. Während Algerien in der unmittelbaren Nach-Bürgerkriegs-Periode Spitzenwerte an Arbeitslosigkeit jenseits der 30 Prozent (nach offiziellen Statistiken) verzeichnete, erschien die staatlich garantierte Versorgung ehemaliger islamistischer Terroristen vielen Bürgern geradezu anstößig. Noch dazu fühlte sich manche und mancher schockiert, als Präsident Bouteflika zu Anfang 2000 noch den Hinweis für angebracht hielt, die Öffentlichkeit solle die frisch Amnestierten „nicht provozieren“, etwa durch „anstößige Kleidung“. Ein weiteres Problem in den Augen eines Teils der Öffentlichkeit lag darin, dass die Amnestierten zwar offiziell als „Repentis“ (Reuige) bezeichnet wurden – aber viele ehemals bewaffnet kämpfende Islamisten jederzeit Wert auf die Feststellung legten, sie hätten gar nichts zu bereuen, da sie keine Fehler begangen hätten. Sie hätten nur der Fatwa diverser religiöser Würdenträger Folge geleistet, die zur Abgabe der Waffen aufgefordert hatten. 

Ein erneutes, zeitlich befristetes Amnestieangebot ähnlich jenem von 1999 wurde den verbliebenen bewaffneten Islamisten im Zuge der Präsidentschaftswahl vom April 2004 unterbreitet. Es wurde aber dieses Mal nur von rund 100 Bewaffneten angenommen. 

Bouteflikas Ankündigung 

Seit Jahren trug Präsident Bouteflika sich mit dem Projekt einer „nationalen Aussöhnung“ herum, deren Kern aus einem erheblich erweiterten Amnestieprojekt bestehen sollte. In seiner Rede zum 50. Jahrestag der Auslösung des nationalen Befreiungskriegs gegen die Kolonialmacht Frankreich, die Bouteflika am 31. Oktober 2004 – am Vorabend des Jahrestags – hielt, sprach er zum ersten Mal Klartext. Damals kündigte er eine „Generalamnestie“ für alle ehemals bewaffnet kämpfenden Islamisten an, dieses Mal ohne Ausschlussfrist. Aber auch, dass der Staat die materielle Versorgung aller „Opfer der nationalen Tragödie“ übernehmen werde. Dies konnte an eine – teilweise - Erfüllung der Forderungen der „Familien von Verschwundenen“ denken lassen.  

Letztere vertreten die Interessen von Angehörigen „verschwundener“ Personen, das betrifft ihren Angaben zufolge zwischen 10.000 und 20.000 Individuen. Ein Teil von ihnen wurde in den 90er Jahren mutmaßlich durch Angehörige der Staatsorgane verschleppt und getötet – etwa weil man sie, auch irrtümlich, für islamistische Aktivisten hielt -, während ein anderer Teil sich in Wirklichkeit Untergrundgruppen angeschlossen hatte oder im Kampf getötet worden war. Im Vorjahr hat die Staatsmacht nunmehr rund 6.200 Fälle von „Verschwundenen“ anerkannt. Aus Sicht der Regierung gehen sie allerdings – sofern Staatsorgane dafür verantwortlich sind – auf individuelle Initiativen von Mitgliedern der Sicherheitskräfte zurück, für die sie nicht direkt politisch verantwortlich gemacht werden will. Aber sie akzeptiert mittlerweile, den Angehörigen Entschädigungen zu zahlen.  

Beweggründe des Präsidenten 

Umstritten war in den politischen Parteien und den Medien vor allem Bouteflikas Generalamnestie-Vorhaben. Es beruhte auf mehreren Motivationen, vor allem aber folgenden: Erstens wollte Algeriens Präsident auf internationaler Ebene erneut und verstärkt die wiedergewonnene Stabilität des Landes unter Beweis stellen. Das Desinteresse potenzieller westlicher Investoren am größten Teil der algerischen Ökonomie - abgesehen von der lukrativen Erdöl- und Erdgasindustrie, die zahlreiche Anleger anzieht – wird auf zwischenstaatlicher Ebene nach wie vor auf das „Stabilitätsrisiko“ zurückgeführt. Offiziell sieht man darin mitunter noch die Nachwehen des Bürgerkriegs, obwohl dessen offene Phase seit nunmehr sechs Jahren vorüber ist. Dabei fürchten die Investoren in Wirklichkeit meistens viel eher die soziale Instabilität des Landes, da die Reaktionen der algerischen Straße – es kommt fast jede Woche zu lokalen Unruhen aufgrund sozialer Probleme, die jedoch kaum strukturiert sind und deswegen örtlich begrenzt bleiben –gefürchtet sind.  

Zum Zweiten möchte Bouteflika aber auch demonstrativ unter Beweis stellen, dass der politische Einfluss der algerischen Armee – in deren Kreisen man über die Aussichten auf eine allgemeine Amnestie oft wenig Begeisterung an den Tag legt - beschnitten worden ist. Denn innerhalb der Oligarchie des Landes verlaufen tiefe Gräben zwischen den neoliberalen Technokraten, die derzeit in vielen Ministerien sitzen und im Kontakt mit den westlichen Wirtschaftsmächten stehen, und dem eher protektionistisch ausgerichteten Flügel der Eliten. Teile der Armee sympathisieren eher mit letzterem, der im vorigen Jahr durch den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Ali Benflis repräsentiert wurde. In den westlichen Hauptstädten ist man gegenüber dem „sowjetischen Dinosaurier“, den die Armee und ihr wirtschaftlicher Einfluss darstellten, auch oft misstrauisch. Drittens aber wolle – und will – Bouteflika sich durch ein erfolgreiches Referendum gern nochmals ein persönliches Plebiszit gönnen. Der Präsident denkt längst über eine Verfassungsänderung nach, die darin bestehen soll, das Amt des Premierministers abzuschaffen und alle Macht beim Staatsoberhaupt zu vereinigen. Gewinnt Bouteflika das Referendum als „strahlender Sieger“, dann dürfte er sich in seinen persönlichen Plänen bestätigt sehen. 

Doch im Laufe des Sommers gerieten die Pläne für die Abstimmung ein wenig ins Stocken. Die Kritik an dem Amnestievorhaben wuchs auch in der politischen Klasse, nachdem am 27. Juli die Ermordung zweier algerischer Diplomaten in der irakischen Hauptstadt Baghdad bekannt wurde. Die beiden waren 10 Tage zuvor durch „Al Qaida im Zweistromland“, die Gruppe um den jordanischen Extremisten Abu Mussab Al-Zarqawi, entführt und „zum Tode verurteilt“ worden. Die Empörung über die Bluttat fiel umso breiter aus, als auch prominente algerische Islamisten zumindest die Entführung – bevor die „Hinrichtung“ der beiden Algerier bekannt wurden – offen begrüßt hatten. So war der ehemalige Chefideologe des radikalen Flügels der verbotenen „Islamischen Rettungsfront“, Ali Belhadj, am 26. Juli vor laufenden Kameras des qatarischen Fernsehsenders Al Jazeera festgenommen worden. Er war gerade dabei, die Entführer zu begrüßen und eine „Bitte“ an die „Brüder“ zu richten. Auch die „Salafistische Gruppe für Predigt und Kampf“ (GPSC), die letzte noch weitgehend intakte bewaffnete Untergrundgruppe in Algerien, hatte im Internet die Entführungsaktion im Irak begrüßt. 

Ein Projekt mit unklaren Konturen 

Aufgrund des Drucks aus verschiedenen Richtungen lässt Bouteflika nunmehr den Abstimmenden ein Projekt vorlegen, dessen genaue Konturen noch gar nicht bekannt sind. Vom Vorhaben einer Generalamnestie war Abdelaziz Bouteflika im Hochsommer zunächst abgerückt. Anlässlich der ersten Großkundgebung des Präsidenten für die Annahme der Referendumsvorlage, am 25. August im ostalgerischen Sétif, rief Bouteflika aus: „Die Versöhnung bedeutet keine Generalamnestie“, „Es wird keine Generalamnestie geben“. Das genaue Profil und Ausmaß der geplanten Maßnahmen blieb aber nunmehr weitgehend im Unklaren. 

Fest steht, dass erneut allen noch bewaffnet kämpfenden Islamisten ein Amnestieangebot unterbreitet wird. Dieses Mal existiert weder eine Prüfungskommission, noch eine Ausschlussfrist. Jedenfalls nicht nach dem Text der „Charta für Frieden und nationale Aussöhnung“ (hingegen kündigte Premierminister Ahmed Ouyahia am 15. September im algerischen Fernsehen ENTV an, es werde eine zeitliche Befristung der Geltungsdauer der „Charta“ geben). Der Text schließt aber erneut die Urheber von Vergewaltigungen, Kollektivmassakern und Bombenanschlägen von der Amnestie aus – dieses Mal fehlt jedoch der Hinweis auf die Verantwortlichen für Morde. Damit würden nach dem aktuellen Vorhaben auch die Urheber etwa der gezielten Morde an Intellektuellen, selbst wenn ihnen die persönliche Tatdurchführung nachgewiesen werden könnte, nach den Buchstaben des Gesetzes straffrei ausgehen. 

Was soll aber mit denjenigen Angehörigen von Untergrundgruppen geschehen, die ihre Waffen nicht freiwillig niederlegen? Eine Frage, die umso heikler erscheint, als bei diesem Mal keine ausdrückliche Ausschlussfrist, an deren Ende das Amnestieangebot ausläuft, definiert worden ist. Der Text lässt sie offen: Den Betreffenden werden Strafnachlässe in Aussicht gestellt, aber deren Höhe wird nicht näher konkretisiert. Ferner enthält der Text der „Charta für Frieden und nationale Aussöhnung“ ein Angebot zur Übernahme materieller Entschädigungsleistungen für die Familien von „Verschwundenen“. Dieser Aspekt ist neu gegenüber dem 1999er Projekt.

Personen, die in Abwesenheit durch die algerische Justiz verurteilt wurden, wird ein Erlöschen des Strafanspruchs in Aussicht gestellt. Das dürfte namentlich die hohen Funktionäre der „Islamischen Rettungsfront“ (FIS) betreffen, die im Exil leben wie Rabah Kebir (im Raum Bonn) oder Anwar Haddam in Washington. Letzterer hatte Mitte der 90er von der US-Hauptstadt aus das politische Bekenntnis nicht nur für Aktionen von FIS-Militanten, sondern auch für Anschläge der GIA übernommen und hatte bis1996 auch die autonomen Terrorgruppen (die GIA, Groupes islamiques armés) explizit unterstützt. Derzeit ist die Rede davon, dass Anwar Haddam demnächst mit seinem Einverständnis durch die USA an Algerien ausgeliefert werden könnte, wo er nach aktuellen Aussichten straffrei ausgehen könnte.  

Gleichzeitig aber macht der Text der „Charta“ auch deutlich, dass eine Wiederzulassung der seit 1992 verbotenen Partei und eine politische Betätigung ihrer obersten Funktionäre, „die ihre Verantwortung für die nationale Verantwortung nicht übernommen haben“ nicht in Betracht kommen. Zuletzt war im Herbst 2004 vorübergehend über eine neue Zulassung des FIS, unter anderem Namen, spekuliert worden. Nicht zuletzt die Ereignisse dieses Sommers dürften jedoch dafür gesorgt haben, dass die Abwehrreaktionen dagegen zu stark ausfielen. 

Die Kritik und Skepsis gegenüber dem Vorhaben Bouteflikas fällt deutlich vernehmbarer aus als noch 1999. Die Presse zeigt sich teilweise deutlich verschnupft - wohl auch deswegen, weil die Bestrebungen zu staatlicher Kontrolle und Zensur der privaten Zeitungen seit dem Amtsantritt Bouteflikas und vor allem in den letzten zwölf Monaten stark gewachsen sind. So wurde die Tageszeitung „Le Matin“, die den algerischen Ex-Kommunisten, aber auch anti-islamistischen Teilen des Establishments und der Armee nahe stand, 2004 durch die Regierung geschlossen. Am 14. September kam es auch erstmals zu offenen Repressalien der Behörden gegen GegnerInnen der Annahme der Abstimmungsvorlage: In der ostalgerischen Metropole Constatine wurden Anhänger der Kleinpartei MDS (Demokratische und soziale Bewegung) festgenommen, weil sie für den Boykott des Referendums plakatiert hatten. Die Kleinpartei umfasst einen Teil der algerischen Ex-Kommunisten, ist aber nicht staatsfeindlich-antikapitalistisch orientiert, sondern steht eher dem antiislamistischen Flügel innerhalb der Armee nahe. Die verschiedenen Gegner der Referendumsvorlage rufen, wie der MDS, nicht zum „Nein“-Votieren auf, sondern zum Boykott der Abstimmung, der sie keine Legitimität zuerkennen, da die offizielle Fragestellung tendenziös sei (wer will schon gegen statt für „den Frieden“ stimmen?) und die Propaganda der Staatsmedien erdrückend sei. 

In der Bevölkerung fallen die Reaktionen eher verhalten aus. Vor sechs Jahren war hingegen eher die offene Zustimmung vorherrschend, da die meisten Leute mit dem damaligen Referendum das in Aussicht gestellte Ende des offenen Bürgerkrieges verknüpften. 

Dennoch ist kaum mit einer mehrheitlichen Ablehnung in den Urnen zu rechnen. Und auf jeden Fall dürfte Bouteflika sich am Abend des 29. September zum strahlenden Sieger erklären. Wer nicht mit der Vorlage einverstanden ist, wird sich voraussichtlich von den Wahlurnen fernhalten. Wirklich interessiert ist daher nur die Teilnahmequote, bzw. die Frage, ob die Zahlen zur Beteiligung an der Abstimmung „frisiert“ werden oder nicht. 

Sein persönlicher Stellvertreter und Minister ohne Geschäftsbereich, Abdelaziz Belkhadem, hat unterdessen am 13. des Monats erklärt, die anvisierte „nationale Aussöhnung“ stelle in seinen Augen eine Vorstufe für eine „Generalamnestie“ für „alle an der nationalen Tragödie Beteiligten“ dar. Damit setzte er erneut die Frage einer (bedingungslosen) Generalamnestie, die zwischenzeitlich der Konkretisierung durch die Vorlage der „Charta für Frieden und nationale Aussöhnung“ gewichen war, auf die Tagesordnung: Letztere schaffe, so drückte Belkhadem sich aus, „ein günstiges Klima“ für eine Generalamnestie, die in der Folge in Angriff genommen werden könne. Damit scheinen erneut die wichtigsten Richtungsentscheidungen, auf kürzere oder längere Frist hin, offen zu sein. 

Doppeltes Kalkül 

Die Annahme der Vorlage wird daneben übrigens, neben dem Präsidenten und anderen führenden Politikern, noch einige andere individuelle Nutznießer haben. Wie die algerische Tageszeitung Liberté am 8. September aus dem Bergland zwischen Boumerdès und Lakhdaria – rund 60 Kilometer östlich von Algier – berichtet, haben sich dort in jüngster Zeit viele jüngere Leute einer bewaffneten Islamistengruppe angeschlossen. Ihr Kalkül bestehe zur Zeit darin, sich erst im Rahmen des „Kampfes“, der die Erpressung und Ausraubung von Zivilisten einschließt, zu bereichern und später vom vorteilhaften Statut eines „Repenti“ (Reuigen) und amnestierten Kämpfers zu profitieren. „Den Untergrund für ein Statut“ hat die Zeitung ihre Titelseite überschrieben. Das Agieren vieler bewaffneter Gruppen hat auch in der Vergangenheit oft handfeste materielle Beweggründe – in Gestalt von Raub und Plünderung – gehabt, aber ein solches doppeltes Kalkül treibt diese Logik auf die Spitze.  

Vor allem der Bezirk von Boumèrdes, der östlich an die Hauptstadtregion Algier anschließt, ist nach wie vor eine Hochburg bewaffneter Gruppen, auch wenn diese insgesamt nur noch wenige hundert aktive Mitglieder zählen. Am 1. September errichteten islamistische Kämpfer hier eine Straßensperre und ermordeten den Bürgermeister der Kleinstadt Ammal. Am 7. September wurde ein 40jähriger Zivilist in der Ortschaft Ouled Aïssa ermordet. Und erst am 13. September wurden, ebenfalls im Bezirk Boumerdès, drei wehrpflichtige Soldaten und ein Gendarm von bewaffneten Islamisten getötet.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 22.9. 2005 zur Verfügung gestellt.