"Wir leben in der Zone"
Zur ökologischen Situation in Tomsk (Westsibirien)

von anti atom
09/05

trend
onlinezeitung

In Tomsk, einer 400 Jahre alten Stadt mit etwa 500.000 Einwohnern im Westen Sibiriens wird Ende September (wahrscheinlich) ein deutsch-russisches Wirtschaftstreffen stattfinden. Urspruenglich war ein Gipfeltreffen mit Schroeder und Putin geplant, welches aber aufgrund der Neuwahlen in Deutschland abgesagt wurde. Lokale Aktivisten gehen aber davon aus, dass der oekonomische Teil des Treffens stattfindet. Schliesslich wird in der Stadt vielfaeltig gebaut, Strassenschilder und Fassaden werden erneuert, was als Zeichen fuer 'hohen' Besuch gilt. Grund genug auch auf die oekologische Situation vor Ort einen Blick zu werfen.

Tomsk gilt neben Tscheljabinsk u.a. als eines der oekologischen Katastrophengebiete Russlands. Denn in der 15 km entfernten geschlossenen Stadt Seversk befindet sich das "Sibirische Chemische Kombinat". Neben Chemie- und Militaerprodukten wird dort auch Plutonium hergestellt und es gibt eine 'End'-Lagerstaette fuer Atommuell, der u.a. aus Frankreich und Bulgarien kommt. (genaueres zu den Anlagen in Seversk findet sich unter
http://www.bellona.no/en/international/russia/nuke_industry/siberia/wp_4-1995/8224.html) Nach den Aussagen eines Oeko-Aktivisten vor Ort ist ausserdem eine Wiederaufbereitungsanlage fuer Atommuell in Planung. Urspruenglich sollte es dafuer Geld aus den USA geben, doch nach Protesten wurde dieses zurueckgezogen. Nun scheinen die Planer der Anlage auf die EU und damit auch das deutsch-russische Wirtschaftstreffen zu hoffen.

Durch das Chemie-Kombinat und die nuklearen Abfaelle sowie die nicht seltenen Unfaelle sind die BewohnerInnen der Gegend grossen gesundheitlichen Risiken ausgesetzt. In der Stadt haengt ein dauerhafter Benzingeruch. Krebs und andere Erkrankungen treten ueberdurchschnittlich haeufig auf. Tomsk liegt einer Studie der oertlichen Universitaet zufolge in einem der am staerksten belasteten Gebiete. Genaue Informationen zu bekommen ist recht schwierig.

"Mobiles Tschernobyl - Nein danke!"

Ein paar Worte zur Atomwirtschaft in Russland allgemein: Nur etwa 3,5% des Primaerenergiebedarfs in Russland werden durch Atomenergie gedeckt. Dafuer werden immense Risiken in Kauf genommen: Veraltete Reaktoren (insgesamt gibt es 30 Stueck in 10 Atomkraftwerken) und die langen Transportwege fuer den Atommuell zu den sogenannten Endlagerstaetten in Tomsk und Tscheljabinsk per Zug auf unsicheren Schienen. Unfaelle sind nicht selten, geschehen z.b. 1994 im Nowosibirsker Oblast und 2001 im Krasnojarsker Kreis. Manchmal stehen die Transporte auch mehrere Tage irgendwo.

Und all das obwohl mit erneuerbaren Energien gut 30% des Energiebedarfs in Russland gedeckt werden koennten. Investitionen in diesem Bereich gibt es aber momentan kaum, aufgrund des durch den Staat niedriggehaltenen Erdgaspreises (dem Hauptenergietraeger).

Fazit

Im Moment ist leider nicht genau bekannt, wann und in welcher Form das fuer Ende September in Tomsk geplante Wirtschaftstreffen stattfindet und wer daran teilnehmen wird. Es waere allerdings eine Gelegenheit auf die katastrophale oekologische Situation in der Gegend aufmerksam zu machen. Auch wenn es vielleicht nicht dem westeuropaeischen Verstaendnis von direkten Aktionen entspricht koennte es sinnvoll sein, die deutschen TeilnehmerInnen durch Briefe und e-mails o.a. darueber zu informieren, damit sie auf dem Treffen kritischer nachfragen koennen. Es ist zwar unwahrscheinlich, dass dies etwas bewirken wird. Aber die internationale Aufmerksamkeit ist wichtig fuer die lokale Bevoelkerung als Ermunterung zu eigenen Aktivitaeten. Denn bisher ist die oekologische Bewegung in Russland sehr klein.

weiteres zum Thema:
www.antiatom.ru
www.greenpeace.ru (auch englisch)
www.russlandanalysen.de  (Nr. 63/2004 ueber die oekologische Situation und die Umweltbewegung in Russland)

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien am 4.9.2005 bei Indymedia.