Venezuela: “Bolivarische” oder permanente Revolution? 09/05

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Spätestens seit dem 11. April 2002, dem Beginn des missglückten Putschs gegen den venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez Frias, ist der „Bolivarianismus“, also die nationale Befreiungsideologie der jetzigen Staatsführung des lateinamerikanischen Landes, international ein kontroversielles Thema geworden. Die US-Administration, welche gemeinsam mit der damaligen bürgerlichen Aznar-Regierung in Spanien die Putschisten unterstützte, sieht in der Bewegung von Chávez so etwas wie eine zweite Auflage des Castrismus der 60er Jahre.

Zahlreiche Linke solidarisieren sich mit der „bolivarianischen Revolution“ - wobei sich oft konkrete Solidarität mit einzelnen Maßnahmen der venezolanischen Regierung, die generelle Verteidigung eines halbkolonialen Landes gegen die imperialistische Bedrohung (vor allem durch den US-Imperialismus) und eine mitunter unkritische Bewunderung mit Chávez als dem Protagonisten des „Prozesses“ miteinander vermischen.

Solidarität mit den Werktätigen (und Arbeitslosen!) eines halbkolonialen Landes; Verteidigung eines halbkolonialen Landes gegen die militärische Bedrohung durch den Imperialismus – seien es Drohungen mit einer militärischen Intervention oder die Bewaffnung der einheimischen Konterrevolution – bedeutet aber zumindest für uns RevolutionärInnen keineswegs, dass wir uns zwangsläufig mit der politischen Führung des betreffenden Landes solidarisieren müssen. Im Gegenteil – oft genug sind die nationalen Bourgeoisien halbkolonialer oder kolonialer Länder auf Grund ihrer Abhängigkeit von diesem oder jenem Imperialismus oder der Schwäche ihrer eigenen Klasse unfähig, den Widerstand gegen eine imperialistische Aggression wirkungsvoll zu organisieren.

Hugo Chávez hat mit seiner Reformpolitik, welche die Lebensbedingungen der armen Bevölkerung zumindest teilweise verbesserten, seiner linken Rhetorik (erst vor kurzem erklärte er den Sozialismus zur dominierenden Ideologie des 21. Jahrhunderts), seinen Verbalattacken gegen den US-Imperialismus und einer Wirtschaftspolitik, die nicht davor zurückschreckt, mit „Schurkenstaaten“ wie Kuba oder dem Iran Geschäfte zu machen, breite Sympathien der „Antiglobalisierungsbewegung“, aber auch dezidiert linksradikaler Organisationen erringen können. Wir wollen im folgenden versuchen, Anspruch und Wirklichkeit der „bolivarianischen Revolution“ miteinander zu vergleichen und daraus einige Schlussfolgerungen zu ziehen.

Der Aufstieg der „Bolivarianischen Bewegung“

Nach dem Sturz der Diktatur Marcos Pérez Jiménez im Jahr 1958 teilten sich die sozialdemokratische Acción Democrática (AD) und die christdemokratische COPEI mit dem Abkommen von Punto Fijo bis in die 90er Jahre die Macht, die Positionen im Staatsapparat und in der Wirtschaft. Die Kommunistische Partei Venezuelas PCV, die an der Bewegung gegen Jimenez auf einer bürgerlich-demokratischen Plattform beteiligt hatte, wurde um ihren Anteil an der Beute geprellt.

Im Gefolge der internationalen Ölkrise 1973 wurde Venezuela durch die Einkünfte aus der Erdölförderung – 240 Milliarden US-Dollar bis 1983 – zu einem der wohlhabendsten Ländern Lateinamerikas. Die Abhängigkeit vom Erdölsektor machte Venezuela aber für alle Konjunkturschwankungen der Weltmärkte extrem anfällig. Der Preisverfall ab 1983 führte bis 1993 zu einer Anhäufung von Auslandsschulden von 35 Milliarden Dollar und einer permanenten Wirtschaftskrise.

Die Machtteilung zwischen AD und COPEI sowie die Dominanz des Erdölsektors hatten einerseits die Herausbildung einer dünnen oligarchischen KapitalistInnenklasse, andererseits die Entstehung eines für Lateinamerika im Verhältnis zu den BäuerInnen starken Industrieproletariats gefördert.

 

Land (2000)

Industrie

Landwirtschaft

Dienstleistungen

Venezuela 22,8 % 10,6 % 66,5 %
Peru keine Angaben 30,2 keine Angaben
Kolumbien 18 % 22,2 % 59,6 %

Quelle: Fischer Weltalmanach 2005

Über Kredite des IWF und einen harten Spar- und Austeritätskurs versucht der sozialdemokratische Präsident Carlos Andrés Pérez die Krise in den Griff zu bekommen, löst damit aber Ende 1989 aufstandsähnliche Unruhen aus. Im Caracazo kommt es in den Slums rund um Caracas zu Massenprotesten, die Armen aus den Vorstädten stürmen die Villenviertel der Oligarchie. Pérez setzt die Armee ein, die Zahl der Toten – zwischen 400 und 5.000 – auf Seiten der protestierenden Armen ist bis heute nie klar eruiert worden.

Am 4. Februar 1992 versucht Hugo Chávez mit seinem Movimiento Bolivario Revolucionario 200 (MBR-200 / Revolutionäre Bolivarische Bewegung) einen Putsch, der jedoch schon nach 12 Stunden scheitert. Pérez stand damals wegen seines harten Sparkurses ebenso unter Druck wie wegen der immer lauter werdenden Anschuldigung, sich persönlich aus der Staatskasse bedient zu haben. Zwei weitere Putschversuche später und nach einem Absetzungsverfahrens des Obersten Gerichtshofes wegen Veruntreuung und Korruption später musste Pérez 1994 den Präsidentenpalast räumen und Rafael Caldera Platz machen. Dieser, ein bekannter Führer der Christdemokraten, hatte sich angesichts der tiefgehenden politischen Vertrauenskrise von der COPEI getrennt und stützte sich auf eine Koalition, der unter anderem die ehemalige Guerrillaorganisation MAS (Bewegung für den Sozialismus) angehörte, die zu einer linkssozialdemokratischen Partei mutiert war. Die Inflationsrate lag beim Amtsantritt Calderas bei 71 %, die Banken des Landes waren zahlungsunfähig.

Der Versuch, die ausländischen Gläubiger zu befriedigen und gleichzeitig neue Massenunruhen zu verhindern, erwies sich als Drahtseilakt. Als Zugeständnis an die Massen begnadigte der Präsident 1994 den populären Chávez, der sofort seine MBR-200 in eine neue Partei, die „Bewegung für die Fünfte Republik“ (MVR), überführte. In der MVR gab es allerdings gehörige Widerstände gegen eine Beteiligung an Wahlen, da die Mitglieder der „Bewegung“ immer die zentralen Punkte des Bolivarismus in den Mittelpunkt gerückt hatten, die den Elektorialismus nicht unbedingt als Instrument zur Erreichung dieser Ziele vorsahen, sondern durchaus nach wir vor mit militaristisch-putschistischen Konzepten liebäugelten.

·         nationale Unabhängigkeit

·         politische Beteiligung der Bevölkerung durch Volksentscheide und Referenden

·         ökonomische Eigenständigkeit

·         eine Ethik des Dienstes am Volk

·         gerechte Verteilung der umfangreichen Erdöleinnahmen

·         Bekämpfung der Korruption

Chávez setzt sich gegen die Basis durch, und 1998 kann die von ihm geführte MVR-Liste, die sich auf PCV, MAS und die heutige Partei Patria Para Todos (Vaterland für alle) stützt, mit 56,6 % der Stimmen die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden.

Etappen der „bolivarischen Revolution“

Um die einzelnen Phasen des „bolivarische Revolution“ genannten Prozesses in Venezuala besser untersuchen zu können, wollen wir einige markante Meilensteine herausgreifen:

1.      von der Wahl 1998 zur neuen Verfassung

Der Wahlsieg Chávez war nur dadurch möglich gewesen, weil es seit dem Caracazo eine immer schärfere Klassenpolarisierung zwischen den Ausgebeuteten und der dünnen Schicht einheimischer KapitalistInnen und StaatsbürokratInnen gegeben hatte. Mit seinen Aufrufen „Alle Macht dem Volk“ machte sich Chávez in einem Land, in dem die ausgebeuteten Klassen das Vertrauen in „linke“ Parteien zu Recht verloren hatten, die Armen zu Verbündeten.

Chávez ließ sich nach seiner Wahl zuerst eine Reihe von Sondervollmachten ausstellen, um wirtschaftliche Sanierungsmaßnahmen einleiten zu können und die Armut zu bekämpfen. Zentrales politisches Projekt war aber die Vorbereitung der neuen, „bolivarischen“, Verfassung.

2.      Vom Referendum über die Verfassung 1999 zum Angriff auf die Gewerkschaft und zum Putsch vom 11. April 2002

90 Prozent der WählerInnen stimmen im April 1999 für die Einrichtung einer Nationalen Konstituierenden Versammlung. Der Verfassungsentwurf – modelliert nach dem deutschen Grundgesetz – führt eine Reihe innovativer Bestimmungen ein. So wird ein Schwerpunkt auf die „partizipative Demokratie“ gelegt, d. h. die Abwählbarkeit von FunktionsträgerInnen während ihrer Amtszeit. Gleichzeitig können von den parlamentarischen Körperschaften beschlossene Gesetze durch Referenden ausgehebelt werden. Die Abwählbarkeit ist aber laut § 72ff der bolivarischen Verfassung keine jederzeitige – sie kann erst mit Erreichung der halben Amtsperiode auf Verlangen von 20 % der WählerInnen eingeleitet werden.

Die bürgerliche Opposition und die sie stützenden Kräfte, inklusive den imperialistischen Kräften in den USA und im Spanischen Staat, reagierten besonders aggressiv, als Chávez und seine Parteienkoalition eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die direkt in die ökonomischen und sozialen Beziehungen eingriffen, wie z.B. Gesetze zur Vorantreibung der Landreform.

1999 und 2000 hat Chávez drei einschlägige Versuche unternommen, die Gewerkschaftszentrale CTV der direkten Staatskontrolle zu unterstellen. Die CTV wurde traditionell von der AD beherrscht, die in ihr führende ArbeiterInnenaristokratie ordnete die Gewerkschaftspolitik stets den Bedürfnissen des Unternehmerverbandes FEDECAMARAS unter. Nach dem caracazo bildeten sich in der CTV allerdings klassenkämpferische Strömungen heraus („clasistas“), und gegen den Willen der zentralen BürokratInnen kam es zu einer deutlichen Zunahme von Arbeitskämpfen (zwischen 1989 und 1991 immerhin 5.000 Streiks und andere Formen von Protesten). Nach einem dreitägigen Streik in der Ölindustrie 2000, in dem es primär um Lohnforderungen ging und nicht mir dem späteren reaktionären UnternehmerInnenstreik verwechselt werden darf, unternahm Chávez einen Vorstoß, die CTV unter staatliche Kontrolle zu bekommen, indem in einem Referendum alle Venezuelaner – also auch Nicht-GewerkschafterInnen - darüber abstimmen konnten, ob eine „Konstituierende Versammlung der ArbeiterInnen“ gebildet werden solle, die innerhalb von 180 Tagen eine neue Gewerkschaftsführung bestimmen sollte. Die Wahlenthaltung bei diesem Referndum betrug allerdings 76,5 Prozent.. Eine Mehrheit der abgegebenen Stimmen sprach sich aber für eine Neuwahl der Gewerkschatfsgremien auf allen Ebenen aus. Die Wahlen fanden 2001 in einem Zeitraum von fünf Monaten statt und wurden nach den Regeln des neuen, in der Verfassung verankerten CNE (Nationaler Wahlrat) durchgeführt und von diesem kontrolliert, was Venezuela eine Rüge der Internationalen Arbeitsorganisation wegen unzulässiger Einmischung in Gewerkschaftsrechte eintrug. Bei den Wahlen selbst gab es eine Überraschung: Von der Regierung direkt vorgeschlagene chavezistische Kandidaten konnten sich nur in 30 Prozent der Fälle durchsetzen, und dann auch meist nur auf lokaler Ebene. 70 % der Stimmen gingen an KandidatInnen aus den Reihen der „alten“ CTV. (Einige der gescheiterten Chávez-Kandidaten wurden übrigens mit hohen staatlich Posten belohnt, Aristóbulo Isturis etwas wurde zum Erziehungsminister gemacht).

Instinktiv hatten die venezolanischen Massen erkannt, dass hinter dem geplanten staatlichen Eingriff in die CTV mehr steckte als die von vielen BasisaktivistInnen ersehnte Abrechnung mit einer völlig korrumpierten Gewerkschaftsbürokratie. (Wir werden weiter unten auf die später gegründete „bolivarianische“ Gewerkschaft UNT eingehen).

Am 11. April 2002 putschten Teile der Streitkräfte und proklamierten mit Unterstützung der bürgerlichen Parteien und der Kirchenhierarchie den Präsidenten der Handelskammer FEDECAMARAS, Carmona, zum Präsidenten.

Der Putsch wirft eine Reihe von Fragen auf:

·         warum begnügten sich die Putschisten mit der Verhaftung Chávez?

·         warum suchten sie keine „chilenische Lösung“, also die massive und rasche blutige Unterdrückung der Massen?

·         warum hielten sich der spanische und US-amerikanische Imperialismus auffallend zurück, als sich das Scheitern des Putsches abzeichnete?

·         warum reagierte die „bolivarische Führung“ so extrem weich auf den Putschversuch, dass den VerschwörerInnen so gut wie nichts passierte (lediglich einige Offiziere wurden entlassen)?

Die Antwort liegt in der Komplexität der Situation. Die Massen mobilisierten sich selbständig zur Verteidigung „ihres“ Präsidenten und „ihrer“ Verfassung. Die Mobilisierung ging dabei weit über die im August 2001 geschaffenen „Bolivarischen Zirkel“ hinaus. Es entstand eine Situation der Doppelmacht, die Reaktion machte einen Rückzug. Offensichtlich war sich die nationale Bourgeoisie absolut nicht sicher, ob eine großangelegte Attacke trotz der fehlenden Bewaffnung der Massen nicht zum Bürgerkrieg führen würde.

Die Reaktion der Chávez-Regierung wiederum spiegelt den Wunsch wider, allen Fraktionen der herrschenden Klasse zu signalisieren, dass ihre Vorherrschaft keineswegs zerschlagen werden soll. Putschisten wurden daher nicht zufällig nach dem Putsch in Schlüsselpositionen der verstaatlichten Wirtschaft gesetzt.

3.      Der Unternehmerstreik Ende 2002/2003 und das Abwahlreferendum (August 2004)

Ende 2002 unternahm die Bourgeoisie, im Bündnis mit dem Management der wichtigsten Industriebetriebe und der ArbeiterInnenaristokratie der CTV einen neuen Anlauf, Chávez zu stürzen und den Prozess der „bolivarischen Revolution“ umzukehren. Ein dreimonatiger „Generalstreik“ sollte die Regierung in die Knie zwingen. Der „Streik“ trug Züge einer Massenaussperrung und wurde von massiver Kapitalflucht begleitet.. Bereits nach einem Monat zeigten sich die ersten Erosionsprozesse auf Seiten der Opposition: Das Versprechen, Chávez durch ökonomischen Druck schnell zum Aufgeben zu bewegen, hatte sich offenbar als falsch erwiesen. Zugleich begannen sich auch Teile der CTV-GewerkschafterInnen dagegen zu wehren, dass durch illegale Lohnkürzungen die Kosten des Abenteuers auf die ArbeiterInnen übertragen werden sollten. Vor allem aber kam es zu immer größeren Massenmobilisierungen gegen die Obstruktionspolitik der Opposition. Als die anti-chavezistischen bürgerlichen Kräfte nach drei Monaten die Aktion schließlich abbrechen mussten, hatten sie keines ihrer Ziele erreicht – im Gegenteil: In der PDVSA kam es nun endlich zu einer vorsichtigen Säuberung von offen reaktionären Elementen und einige Offiziere, die Verständnis mit der Opposition geäußert hatten, wurden versetzt.

Die bolivarianischen Reformen unter der Lupe

Unmittelbar nach der Amtsübernahme Chávez' begann die Bolivarische Bewegung mit einer Reihe von Reformmaßnahmen, die ihr breite Unterstützung im Proletariat, bei der indigenen Bevölkerung und bestimmten kleinbürgerlichen Schichten sicherte.

Eine Reihe von Maßnahmen konnten die materielle Situation der ArbeiterInnenklasse und der ärmsten Schichten deutlich verbessern: So wurden nach dem Putschversuch gegen Chavez 2002 Gratis-Volksküchen für Arme eingerichtet, das Bildungsbudget verdreifacht und ein kostenloses staatliches Gesundheitswesen etabliert: Im Gegenzug für die Lieferung von 53.000 Barrel Öl pro Tag nach Kuba (trotz des US-Embargos) wurden 10.000 kubanische ÄrztInnen nach Venezuela entsandt, die ihrerseits wiederum nur ein Taschengeld statt eines adäquaten Lohnes erhalten.

Ein Kapitel für sich ist die von Chávez und den Propagandisten der „bolivarianischen Revolution“ immer wieder strapazierte „Landreform“.

Wie weiter oben erwähnt, sind in Venezuela nur rund 10 % der Beschäftigten in der Landwirtschaft tätig. Das Land sticht damit deutlich von allen anderen Ländern des Halbkontinents ab. In den entwickelten kapitalistischen Ländern ist der Anteil der landwirtschaftlichen ProduzentInnen noch niedriger, der Rückgang der Beschäftigten ging aber mit einer entsprechenden Produktivitätssteigerung einher. Davon kann in Venezuela aber keineswegs die Rede sein. Lediglich 30 % der zur Ernährung der Bevölkerung erforderlichen landwirtschaftlichen Produkte können im Land selbst erwirtschaftet werden, Grundnahrungsmittel wie Mais, Zucker oder Bohnen müssen importiert werden.

Die Ursachen dafür liegen nicht nur in den Jahrzehnten der exzessiven Monokultur (Kaffee und Kakao) in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts begründet, auch die niemals in Angriff genommene Problematik der Zerschlagung des Latifundienbesitzes rächt sich heute massiv. Das „Landreformgesetz“ von 2001, das die alte herrschende Elite besonders erbitterte, spricht erst bei Grundstücken über 5.000 Hektar von Latifundien und macht Enteignungen mit Entschädigungszahlungen erst dann möglich, wenn Land brachliegt und bereits eine Art Strafsteuer dafür eingehoben wurde. Dass trotz der Verankerung der „Landreform“ in der bolivarianischen Verfassung von einem Versuch der Zerschlagung der Latifundistas nicht die Rede sein kann beweist ein Gesetzesentwurf vom Dezember 2004, in dem für das Jahr 2006 neue Steuern für nicht genutztes Land angekündigt werden.

Es wäre sektiererisch und falsch, die bolivarianischen Reformen in Bausch und Bogen zu verwerfen, weil sie im Rahmen des Kapitalismus erfolgten – denn dieser wurde und wird bewusst nicht angegriffen (nicht umsonst ist in der Verfassung das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln explizit verankert worden). Nach den langen Jahren einer regelrechten Aushungerungspolitik gegen die Massen wäre es absurd, genau jene Maßnahmen abzutun, die letzten Endes die Basis der Begeisterung für den „Prozess“ bilden.

Die RevolutionärInnen müssen den venezolanischen Massen vielmehr erklären, dass diese Reformen erst ein Vorgeschmack auf jene Verbesserungen sind, die möglich wären, würde die nationale Bourgeoisie gestürzt und der imperialistische Zugriff auf das Land gebrochen. Der Putsch und der Unternehmerstreik haben gezeigt, dass Fraktionen der herrschenden Klasse jederzeit bereit sind, mit Waffengewalt den Prozess zu stoppen.. Aber auch die bolivarische Führung ist jederzeit bereit, zuerst großartig verkündete Verbesserungen zurückzunehmen, wenn es dem Gesamtinteresse der Bourgeoisie dient.

Denn die Reformen sind nicht nur der alten Elite abgetrotzt, wie es in den offiziellen Regierungserklärungen dargestellt wird – sie werden gleichzeitig durch die (verschleierte) Ausbeutung der Massen selbst finanziert.

Die Regierung Chávez, die auf Treffen des Weltsozialformus und bei propagandistischen Veranstaltungen daheim und im Ausland stets auf die Streichung der Schulden der ärmsten Länder pocht, weist in dieser Beziehung selbst eine vorbildliche Zahlungsmoral auf. Motor der Wirtschaftspolitik Chávez sind wieder einmal die Erdölexporte (vor allem jene in die USA). Zwar wurde die Erdölgesellschaft PDVSA, die bereits 1975 verstaatlicht worden war, in die Verfassung als „ewiges Staatsunternehmen“ aufgenommen – Überkreuzbeteiligungen mit ausländischen Konzernen und die Gründung gemischter Tochterfirmen im Ausland zeigen aber deutlich, dass es sich hier um ein rein bürgerliches „Verstaatlichungskonzept“ handelt, das die Risiken sozialisiert und die Gewinne für die Bourgeoisie insgesamt durch ihren „Geschäftsführer Staat“ angeeignet..

Als Folge der sich verschärfenden Budgetsituation durch die massive Kapitalflucht im Jänner 2003 wurde die Landeswährung Bolivar wiederholt abgewertet, um die Dollareinnahmen im Export steigern zu können. Der Preis was eine rasante Inflation und ein Reallohnverlust in der Industrie von durchschnittlich 6,5 Prozent.

Die Zeitung der OIR (Opción de Izquierda Revolucionaria / Option der revolutionären Linken), die im Großen und Ganzen dem „Prozess“ extrem positiv gegenübersteht, stellt im März nicht zufällig die Frage: „Das vergangene Jahr endete mit einem Wirtschaftswachstum von 17,3 %, dem größten des ganzen Kontinents, und dennoch folgt jetzt die kalte Dusche: Eine neuerliche Währungsabwertung, was eine höhere Inflation bewirkt, und eine Steigerung der Lebenshaltungskosten. (...) Wem nützt das außerordentliche Wirtschaftswachstum, wenn es sich nicht in Lohnerhöhungen, neuen Arbeitsplätzen und einer Preissenkung der Güter des täglichen Konsums niederschlägt?“.

Die bolivarische Verfassung

Die neue bolivarische Verfassung, die nach eigenem Anspruch das Land in eine „partizipative, protagonistische Demokratie“ verwandeln sollte, stellt auf dem Papier eine der demokratischsten in ganz Lateinamerika dar: Die Menschenrechte werden ebenso anerkannt wie das Recht der Menschen auf ein würdiges Leben oder der Anspruch auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit, unabhängig von Geschlecht, Rasse oder Religion. In Venezuela herrscht heute tatsächlich ein relativ demokratisches Klima vor, es gibt keine systematische Unterdrückung der Opposition oder von KritikerInnen der Regierung.

Bekanntlich sind Verfassungen in der Regel nicht einmal das Papier wert, auf dem sie gedruckt werden. Anspruch und Wirklichkeit klaffen weit auseinander. Bestimmte Parameter machen es aber sehr wohl möglich, den grundlegenden Charakter einer Konstitution zu bewerten. So ist ausdrücklich das Recht auf Privateigentum an Produktionsmitteln in der venezolanischen Verfassung verankert. Daran ändern auch philosophische Betrachtungen über die ökonomische Verantwortung der Gesellschaft und die antiimperialistische Rhetorik nichts.

Wesentlich ist die starke Betonung der Instrumente von Volksabstimmungen und Referenden bei gleichzeitiger Möglichkeit für den Präsidenten, mittels Dekreten in die Gesetzgebung einzugreifen. Was manche BeobachterInnen als entscheidender Durchbruch der partizipativen, direkten Demokratie bewerten, ist in unseren Augen die Kodifizierung von Herrschaftsinstrumenten, die zum Repertoire des Bonapartismus zählen.


Mexikanische Lehren

Unserer Einschätzung nach ist Hugo Chávez Vertreter eines bürgerlichen, (links)bonapartistischen Regimes (wir werden diese Begriffe weiter unten ausführlich erklären und diskutieren), einer Regierung also, die den Anschein erhebt, über den Klassen zu stehen, „dem Volk“ verantwortlich zu sein, dadurch aber letzten Endes zu verhindern trachtet, dass die in Bewegung geratenen Massen den Rahmen des Kapitalismus überschreiten und die bürgerliche Herrschaft stürzen. Daher auch die Bereitschaft bonapartistischen Regimes, gegebenenfalls die Privilegien von Eliten der herrschenden Klasse anzugreifen, wenn dadurch die wirklichen Grundlagen der Ausbeutung, nämlich die gesellschaftliche Produktion und die individuelle Aneignung des Profits, aufrecht erhalten werden können.

Eines der wesentlichen Ziele jeder bonapartistischen Regierung ist es, die ArbeiterInnenorganisationen, egal, wie verrottet dieses auch sein mögen, an die Kandare zu legen.

„Linke“ bonapartistische Regimes wie jenes von Chavez sind in der lateinamerikanischen Geschichte des 20. Jahrhunderts keineswegs neu. Erinnert sei nur (in chronologischer Reihenfolge)

·         an die Degeneration der mexikanischen Revolution und die in den 20er Jahren beginnenden linkspopulistisch-bonapartistischen Regimes wie Obregonismus und Cardenismus;

·         die peruanische APRA und den APRIsmus

·         an die Entwicklung des Peronismus in den 40er und 50er Jahren

·         an den Vargismus in Brasilien (30er bis späte 50er Jahre)

·         die MNR in Bolivien

·         und nicht zuletzt der peruanische Velascismus (1968 – 1975)

Gerade zu Lateinamerika gibt es ja eine Reihe von Dokumenten Trotzkis, die bequem als Buch oder im Internet zu konsultieren wären – die „Escritos Latinoamericanos“, eine Auswahl der wichtigsten Texte Trotzkis zu Problemen Lateinamerikas, umfassen immerhin 335 Seiten.

Wie lehrreich die Artikel und Kommentare Trotzkis zu lateinamerikanischen Fragen noch heute sind, zeigt folgende Betrachtung zu den Verstaatlichungen in Mexiko (Juni 1938):

„In den industriell rückständigen Ländern spielt das ausländische Kapital eine entscheidende Rolle, Daher die relative Schwäche der nationalen Bourgeoisie im Verhältnis zum nationalen Proletariat. Das führt zu besonderen Bedingungen der Staatsmacht. Die Regierung laviert zwischen dem ausländischen und dem einheimischen Kapital, zwischen der schwachen nationalen Bourgeoisie und dem relativ mächtigen Proletariat. Das gibt der Regierung einen besonderen bonapartistischen Charakter sui generis. Er erhebt sich sozusagen über die Klassen In Wirklichkeit kann sie regieren, indem sie sich entweder zum Instrument des ausländischen Kapitals macht und das Proletariat in den Ketten einer Polizeidiktatur hält, oder aber, indem sie mit dem Proletariat manövriert und soweit geht, ihm bestimmte Konzessionen zu machen und damit jenen Spielraum erobert, der ihm eine gewisse Freiheit gegenüber dem ausländischen Kapital gibt. Die aktuelle Politiik der [mexikanischen] Regierung entspricht dem zweiten Stadium: Ihre größten Errungenschaften sind die Enteignungen der Eisenbahnen und der Ölindustrie.

Diese Maßnahmen sind vollständig Teil des Staatskapitalismus. Manchmal befindet sich der Staatskapitalismus in einem halbkolonialen Land unter so heftigem Druck des privaten ausländischen Kapitals und seiner Regierungen, dass er sich ohne die aktive Unterstützung der ArbeiterInnen nicht halten kann. Daher ist er gezwungen, ohne die wirkliche Macht aus den Händen zu geben, den ArbeiterInnenorganisationen einen wichtigen Teil der Verantwortung für das Funktionieren der Produktion in den verstaatlichten Zweigen der Industrie zu übertragen”.

Zwei Jahre später, kurz vor seinem Tod, kommt Trotzki auf die mexikanischen Nationalisierungen zurück:

„Die Nationalisierung der Eisenbahnen und Ölfelder in Mexiko hat natürlich nichts mit Sozialismus zu tun. Sie ist eine staatskapitalistische Maßnahme in einem rückständigen Lande, das sich auf diese Weise einerseits gegen den ausländischen Imperialismus, andererseits gegen das eigene Proletariat zu verteidigen sucht. Die Verwaltung von Eisenbahnen, Ölfeldern usw. durch Arbeiterorganisationen hat nichts gemein mit der Kontrolle der Arbeiter über die Industrie, denn im wesentlichen liegt die Verwaltung in den Händen der Arbeiterbürokratie, welche unabhängig von den Arbeitern, dagegen aber vollständig abhängig vom bürgerlichen Staate ist. Diese Maßnahme seitens der herrschenden Klasse verfolgt das Ziel, die Arbeiterklasse zu disziplinieren, sie im Dienste der allgemeinen Staatsinteressen, welche sich bei oberflächlicher Betrachtung mit den Interessen der Arbeiterklasse selbst zu vermischen scheinen, zu mehr Fleiß anzuspornen. Tatsächlich besteht die ganze Aufgabe der Bourgeoisie darin, die Gewerkschaften als Organe des Klassenkampfes zu liquidieren und durch eine Gewerkschaftsbürokratie als dem Organ des bürgerlichen Staates zur Führung der Arbeiterklasse zu ersetzen. Unter diesen Umständen besteht die Aufgabe der revolutionären Vorhut darin, den Kampf für die vollständige Unabhängigkeit der Gewerkschaften und die Kontrolle der Arbeiter über die augenblickliche Gewerkschaftsbürokratie zu führen, welche in eine Verwaltungsbehörde der Eisenbahnen, Ölfelder usw. umgewandelt worden ist.”

Am Beispiel des damaligen Mexiko zeigt Trotzki bestimmte historische Gesetzmäßigkeiten auf, die sich heute in Venezuela wiederholen. In der „Discusion sobre America Latina“ (Diskussion über Lateinamerika, 4. November 1938) erklärt er bezüglich der Probleme der mexikanischen Sektion der IV. Internationale und ihrer Schwierigkeiten:

„Wir sind in einer Periode, in der die nationale Bourgeoisie versucht, etwas mehr Unabhängigkeit von den ausländischen Imperialismen zu erreichen. Die nationale Bourgeoisie ist gezwungen, mit den ArbeiterInnen und BäuerInnen zu kokettieren, daher haben wir heute, wie in Mexiko, starke Männer, die sich nach links orientieren. Wenn die nationale Bourgeoisie gezwungen ist, den Kampf gegen die ausländischen KapitalistInnen einzustellen und unter ihrer direkten Kontrolle arbeiten muss, haben wir ein faschistisches Regime, wie beispielsweise in Brasilien. Aber hier [in Mexiko] ist die Bourgeoisie absolut unfähig, ihre demokratische Herrschaft zu errichten, weil sei einerseits unter dem Druck des imperialistischen Kapitals steht und andererseits Angst vor dem Proletariat hat, da hier [in Mexiko] die Geschichte eine Etappe übersprungen hat und sich das Proletariat in einen wichtigen Faktor verwandeln konnte, bevor die demokratische Organisation der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden konnte. In diese halbbonapartistischen demokratischen Regierungen eingebettet, benötigt der Staat die Unterstützung der BäuerInnen, und dank ihres Gewichts diszipliniert er die ArbeiterInnen. Mehr oder minder geschieht das so in Mexiko. Heute erkennt die IV. Internationale die demokratischen Aufgaben des Staates im Kampf für die nationale Unabhängigkeit an, die mexikanische Sektion der IV. befindet sich aber mit der nationalen Bourgeoisie im Wettstreit um die ArbeiterInnen und BäuerInnen. Wir befinden uns als einzige Führung, die im Stande ist, den Sieg der Massen im Kampf gegen die ausländischen ImperialistInnen zu garantieren, im ständigen Wettkampf mit der nationalen Bourgeosie. In der Agrarfrage unterstützen wir die Expropriationen. Das bedeutet wohlgemerkt nicht, dass wir die nationale Bourgeoisie unterstützen. In allen Fällen, wo diese direkt den ausländischen Imperialismus oder seine reaktionären faschistischen AgentInnen angreift, gewähren wir ihr unsere volle revolutionäre Unterstützung,, wobei wir die vollständige Unabhängigkeit unserer Organisation, unseres Programms, unserer Partei und unsere vollständige Freiheit der Kritik aufrecht erhalten. Die Guomindang in China, die PRM in Mexiko, die APRA in Peru – sind vollständig analoge Organisationen. Sie sind die Volksfront in Form einer Partei.“

 

Viele der von Trotzki beschriebenen Wesenszüge der Mexikanischen Wirklichkeit von 1938 treffen heute auch für Venezuela zu. Chávez versucht, sich an die Spitze der Massen zustellen und damit mehr Freiheiten gegenüber dem Imperialismus zu erreichen. Der Begriff Semibonapartismus trifft sehr gut das venezolanische System. Solange es ein relatives Kräftegleichgewicht zwischen den Kräften der Reaktion und der Bewegung der Massen gibt, ist es für kurze Zeit möglich, mit relativ geringen Kräften ein labiles Gleichgewicht herzustellen. Wenn es jedoch den ArbeiterInnen nicht gelingt, sich an die Spitzte der Bewegung zu stellen und diese auf sozialistische Ziele auszurichten, wird es der nationalen Reaktion mit imperialistischer Unterstützung letztlich gelingen, eine stabileres bürgerliches Regime wiederherzustellen.

Bonapartismus, Nationalismus und Populismus in Lateinamerika

Der bonapartistische Charakter des Chávez-Regimes, die Rhetorik des Präsidenten, scheinbare Basisorganisationen wie die „Circulos Bolivarianos“ führen viele gutmeinende Beobachter aus den Reihen der „Linken“ zur Überzeugung, dass Chávez ein völlig neues Phänomen darstellt – den Typus des redlichen Mestizen-Soldaten, der sich immer mehr dem Sozialismus annähert, weil ihn das Mitleid mit den „Armen der Erde“ treibt.

Eine solche Bewertung teilen wir nicht – wir finden sie aber verständlich für jemanden, der sich vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben in der Venezuela-Solidaritätsarbeit mit dem Phänomen des bonapartistischen Populismus in Lateinamerika auseinandersetzt und kein marxistisches Verständnis von der Funktion sozialer Klassen in der Gesellschaft, dem Charakter des Staates und der Theorie der permanenten Revolution besitzt. Ganz im Gegenteil – wir werden alles tun, um solche GenossInnen von der Richtigkeit unserer Positionen zu überzeugen.

Ganz anders muss aber unsere Auseinandersetzung mit erfahrenen Kadern politischer Organisationen aussehen, die sich auf den Trotzkismus berufen, und im Namen des Marxismus die linke Flankendeckung der „bolivarianischen Revolution“ übernehmen. Womit wir bei Univ.-Prof. Alan Woods angelangt wären, dem internationalen Repräsentanten des „Komitees für eine marxistische Internationale“ (CMI), das in Deutschland und Österreich durch den „Funke“, in Spanien durch „El Militante“ und in Venezuela durch die „Revolutionär-Marxistische Strömung“ (CMR) vertreten ist. Seine Analysen und Kommentare sind die Leitlinie für die Venezuela-Arbeit der CMI-Sektionen – das gemeinsame theoretische Organ der deutschsprachigen CMI-Gruppen ist nicht nur nach Woods philosophischem Hauptwerk „Aufstand der Vernunft“ benannt, die Venezuela-Nummer wurde weitgehend mit Artikeln aus der Feder des Meisters bestritten.

Einer davon ist Woods zentrale Arbeit „Die venezolanische Revolution und die Rolle der MarxistInnen“, ein Text, der in seinen Anfangsseiten all jene „Sekten“ abkanzelt, die Alan Woods Kriterien für Marxismus nicht entsprechen. Zitieren wir kurz eine seiner entsprechenden Ermahnungen:

„Das oberste Gesetz der Dialektik ist jedoch absolute Objektivität: wenn man/frau sich einem vorhandenen Phänomen nähert, darf man/frau sich diesem nicht mit vorgefassten Vorstellungen und Definitionen, sondern mit einer gründlichen Untersuchung der Fakten zuwenden – keine Beispiele, keine Abschweifungen, sondern die Sache selbst. Wenn wir demnach die Ereignisse in Venezuela und die Rolle von Bewegungen und Individuen in ihr verstehen wollen, ist es notwendig den Ausgangspunkt unserer Beschäftigung in den Ereignissen selbst zu suchen. Eine Definition im dialektischen Sinne muss aus einer gründlichen Untersuchung von Fakten und Prozessen gewonnen werden, sie darf aber nicht von außen auf die Realität über gestülpt werden“.

Leider weicht der Lehrer immer wieder von jenen Maximen ab, die er seinen SchülerInnen predigt. Nach Abschluss des Ersten Anti-Sekten-Kreuzzugs erklärt uns Prof. Woods das Besondere der „chavistischen Revolution“ und schlägt damit das Leitmotiv an, das sich durch seine gesamten Venezuela-Analysen zieht:

„Da eine revolutionäre marxistische Massenpartei fehlte, haben sich die Kräfte der Revolution eben rund um Chavez und die bolivarische Bewegung gesammelt. Hugo Chavez selbst steht im Zentrum des ganzen Geschehens. Was immer man von ihm halten mag, man muss ihm zugestehen, dass er den Damm gebrochen und die Flutschleusen geöffnet hat. Er hat es gewagt, sich der Macht der Oligarchie wie auch des amerikanischen Imperialismus entgegenzustellen und diese herauszufordern. Selbst seine eingefleischten Gegner und Kritiker gestehen ihm großen Mut zu. Und durch sein mutiges Auftreten hatte er enorme Beispielwirkung für jene Kräfte, die über Jahrzehnte in der venezolanischen Gesellschaft unter der Oberfläche dahinschlummern und nur darauf warten geweckt zu werden. Allein diese Tatsache ist bereits von großer Bedeutung.
Erstmals in der fast 200 Jahre alten Geschichte dieses Landes haben die Menschen das Gefühl, dass an der Spitze des Staates Menschen stehen, von denen ihre Interessen wirklich vertreten werden. Die Masse der armen SlumbewohnerInnen, der ArbeiterInnen, der Bauern und Bäuerinnen, der Indigenas, der Schwarzen wurden durch diese Entwicklung aus ihrer Apathie gerissen. Sie sehen plötzlich einen neuen Sinn im Leben, sie verstehen was Menschenwürde bedeutet, sie entwickeln eine neue Hoffnung.
Über Nacht wurden sie zu Chavistas, auch wenn sie nicht genau definieren können, was das heißt.

Diese Art von Geschichtsinterpretation allerdings hat mit historischem Materialismus wenig zu tun. Gewiss können in vorrevolutionären oder revolutionären Situationen in Ermangelung strukturierter Organisationen oder Parteien immer wieder Einzelne durch ihre Rolle einem Prozess diese oder jene Richtung geben – sie können den Prozess aber nicht willkürlich, also losgelöst von oder stellvertretend für die Massen, „machen“. Das Individuum bündelt in sich die Interessen von Klassen, Schichten, sozialen Gruppen.. Methodisch halten wir uns lieber an Trotzki als an Woods. In seinen „Notizbüchern“ schrieb Trotzki in den 30ern zu diesem Thema:

“Es ist keineswegs unser Anliegen, die Bedeutung des Persönlichen im Mechanismus des historischen Prozesses zu leugnen, auch nicht die Bedeutung des Zufälligen im Persönlichen. Wir verlangen nur, daß eine historische Persönlichkeit, mit all ihren Besonderheiten, nicht als nackte Liste von psychologischen Zügen betrachtet werden sollte, sondern als jene lebendige Wirklichkeit, die aus bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen hervorgegangen ist und auf sie zurückwirkt. Genauso wie eine Rose ihren Duft nicht verliert, bloß weil der Naturwissenschaftler uns auf die Nahrungsmittel im Boden und in der Luft aufmerksam macht, von denen sie gezehrt hat, genauso wenig wird auch eine Persönlichkeit durch die Aufdeckung ihrer sozialen Wurzeln ihres Aromas bzw. ihres faulen Geruchs beraubt.”

Gerade der Bonapartismus, der in Lateinamerika immer wieder in Gestalt diverser populistischer Regimes aufgetaucht ist, bedient sich oft genug eines „Führers“, eines „Caudillos“, als scheinbarem Kristallisationspunkt der Macht. Woods ist zu lange in der Politik, um drohendes Ungemacht nicht wittern zu können. Er weiß genau, dass er sich auf brüchigem Eis bewegt, wenn er den „bolivarianischen Prozess“ dermaßen personalisiert. Daher baut er in seine Texte immer eine Art Versicherungsklausel ein, etwa: „Die soziale Herkunft ihrer Führer bestimmt natürlich noch nicht den Klassencharakter einer Bewegung oder einer Partei. Dieser wird letztlich durch ihr Programm, ihre Politik und soziale Basis bestimmt. Im Großen und Ganzen können wir die Bolivarische Bewegung von ihrem Programm und ihrer Politik als eine Bewegung der kleinbürgerlichen revolutionären Demokratie bezeichnen. Das heißt sie geht nicht über das Ziel einer fortschrittlichen bürgerlichen Demokratie hinaus. Die Revolution hat eine Reihe von sozialen Reformen umgesetzt, aber sie hat die kapitalistischen Produktionsverhältnisse bislang unangetastet lassen. Darin liegt auch eine ihrer größten Schwächen, aus der für ihre weitere Zukunft noch große Gefahren erwachsen werden“.

Tatsächlich schafft es Woods, in seinem umfangreichen Text ohne die Kategorie des Bonapartismus oder Semibonapartismus auszukommen. Dabei ist diese für ganz Lateinamerika von zentraler Bedeutung.

Seinen Kritikern wirft Woods vor: „Sie möchten, dass wir Chávez zu einem bürgerlichen Bonapartisten denunzieren! Dieser Wunsch macht deutlich, wie weit diese Leute von der Realität abgedriftet sind. Ihn zu erfüllen würde uns sofort abtrennen von den Massen, die entschlossen hinter Chávez stehen sowie von den AktivistInnen, deren Großteil Chávez loyal gegenüberstehen, auch wenn sie wachsende Zweifel und Kritik hegen.“ (76) Statt sich an Trotzkis Prinzip „Sagen was ist!“ zu halten und die Massen über die Gefahren der chávistischen Bewegung aufzuklären, versucht sich „der Realist“ Woods mit Halbwahrheiten den Massen anzupassen und sich deren Führung anzubiedern.

Und genau diesen Vorwurf machen wir Alan Woods, der seit Jahrzehnten im Namen des „Trotzkismus“ Politik macht und, wie seine Zitate quer durch die Jahrhunderte demonstrieren, auch einiges gelesen hat: Obwohl er es besser wissen müsste, liefert er seinen AnhängerInnen Rechtfertigungsschriften für eine bonapartistische, bürgerlich-nationalistische Bewegung, stellt diese als völlig neues Phänomen dar und wirft im Zuge dieses Unterfangens die Grundlagen des Maxismus über Bord.

Alan Woods „freier Volksstaat“

Wenn wir oben kritisiert haben, dass Woods den Begriff Bonapartismus nicht verwendet, so taten wir dies nicht aus Gründen der Buchstabenorthodoxie, sondern wegen der unmittelbaren, praktischen Auswirkungen dieser Auslassung.

„In der Tat ist der Staatsapparat in Venezuela nicht mehr länger unter der Kontrolle der Bourgeoisie. Das ist auch der Grund, warum sich die Oligarchie gezwungen sieht, auf außerparlamentarische und ungesetzliche Mittel zurückzugreifen, um diese Kontrolle wieder zu erlangen. Die Mehrheit der bewaffneten Einheiten des Staates, einschließlich bedeutender Teile des Offizierskorps, unterstützt die Revolution. Dies erschwert die Ausgangsbedingungen für die Konterrevolution und erleichtert den Kampf jener, welche die Revolution vertiefen wollen.
Weiter oben haben wir bereits die Frage gestellt, was eine Revolution ausmacht. In diesem Zusammenhang müssen wir uns auch die Frage stellen, was der Staat darstellt. Die Antwort darauf hat schon vor langer Zeit Lenin gegeben, der an Engels anknüpfend, den Staat als „besondere Formationen bewaffneter Menschen“, d.h. die Armee, die Polizei usw., definiert hat. Für gewöhnlich wird der Staatsapparat von der herrschenden Klasse kontrolliert. Es gibt jedoch Ausnahmesituationen, wo sich der Staatsapparat aufgrund der Zuspitzung des Klassenkampfes über die Gesellschaft erhebt und eine viel unabhängigere Position einnimmt.
Genau das ist derzeit in Venezuela der Fall“.

Bevor wir uns der von Professor Woods geforderten „Beschäftigung mit der objektiven Realität“ zuwenden, einige Worte zur Staatstheorie des „máximo dirigente de la corriente marxista internacional“ (obersten Führers der internationalen marxistischen Strömung), wie sich Woods in Venezuela nennen lässt. Sie ist ein hervorragendes Beispiel für die Methode, derer sich Woods in Venezuela (und generell) befleißigt: Orthodoxe Formulierungen, Marx-, Lenin- und Trotzkizitate und Sätze, die fast wie aus marxistischen Grundlagentexten klingen, werden mit einer kräftigen Prise Polemik gegen die „linken Sekten“ abgeschmeckt und einer gehörigen Portion opportunistische Anpassung an die „wirkliche Bewegung“ verdünnt und gut durchgeschüttelt – fertig ist der zentristische Grant/Woods-Cocktail.

Bei Alan Woods geschieht eine fast wunderbare Wandlung: „Es gibt jedoch Ausnahmesituationen, wo sich der Staatsapparat aufgrund der Zuspitzung des Klassenkampfes über die Gesellschaft erhebt und eine viel unabhängigere Position einnimmt“. Was für TrotzkistInnen ein typisches Indiz Richtung Bonapartismus ist – die scheinbare Loslösung des Staatsapparates von den Klassen - , wird bei Woods zu einer neuen Qualität: „ In der Tat ist der Staatsapparat in Venezuela nicht mehr länger unter der Kontrolle der Bourgeoisie“.

Wir müssen daraus also schließen, dass in Venezuela ein neuer Typus von Staat existiert – weder bürgerlich. noch proletarisch, nicht unter Kontrolle der Bourgeoisie, sondern ... ja, von wem denn eigentlich?

Wir haben in der Doppelnummer 3/4 der „sozialistischen perspektive“ am Beispiel der spanischen Revolution und der Volksfront die grundlegende Haltung der MarxistInnen zum bürgerlichen Staat dargestellt und verzichten in diesem Artikel auf eine ausführliche Wiederholung unserer Argumente. Nur so viel: Marx, Engels und Lenin haben wiederholt gezeigt, dass auch der scheinbar demokratischste Staat immer ein Instrument zur Unterdrückung einer (oder mehrerer)Klassen durch eine andere ist. Der Staatsapparat - „eine besondere Formation bewaffneter Menschen und ihre materiellen Anhängsel wie Kasernen und Gefängnisse“ (Engels) – ist daher nie neutral und kann auch nicht bruchlos von einer Klassen auf die andere übergehen – jede Klasse schafft sich ihren eigenen Staatsapparat, der ihren Klasseninteressen am besten entspricht (wobei nur der proletarische Staat als höchste Stufe der Klassengesellschaft die Tendenz zum Absterben aufweist und den Weg zu einer klassenlosen Gesellschaft freimachen wird).

Wenn wir den venezolanischen Staat unter Chávez untersuchen – und zwar nicht nur seine Verfassung, sondern seine soziale Wirklichkeit: Der Frage nachgehen, wer die Regierung stellt; wer über das Gewaltmonopol verfügt; wer die Medien beherrscht; wer die Schulen kontrolliert; wer die Budgetmittel verteilt und woher diese kommen. Spätestens dann löst sich Woods These vom klassenübergreifenden „Volkssstat“ auf.

Denn in keine andere Richtung geht die theoretische Reise des „maximo dirigente“ - back to the roots des sozialdemokratischen Reformismus der II. Internationale und den Illusionen in einen „guten“ Staat, der „dem Volke“ dient und der auf friedlichem Wege entsteht.

Woods Seitenhieb gegen die verhassten „Sekten“ („Zu dem Phänomen der Massenunterstützung für Chavez fällt ihnen nicht viel mehr ein als die etwas abfällige Bezeichnung Populismus“) trifft einigermaßen ins Leere. Speziell in Lateinamerika haben einige WissenschafterInnen mit marxistischem Selbstverständnis (genannt seien hier stellvertretend Francisco Weffort, Gino Germani, Octavio Ianni, Ernesto Laclau) versucht, diese spezifische Ausdrucksform des Nationalismus zu untersuchen und zu systematisieren. Wir haben weiter oben einige Beispiele für den lateinamerikanischen Nationalismus im populistischen Kleid angeführt. Die gemeinsamen Merkmale dessen, was wir als „Linkspopulismus“ bezeichnen wollen, sind:

Der Linkspopulismus ist eine politische Bewegung, die sich auf breite arbeitende Schichten der Bevölkerung, insbesondere ArbeiterInnen und Mittelklassen, stützt, und unter zumeist kleinbürgerlicher Führung steht, wobei ein charismatischer „Caudillo“ in den Vordergrund geschoben wird. Nach Christian Suter („Gute und schlechte Regimes“, Frankfurt 1999) sind linkspopulistische Regimes ein Ausdruck der Klassendifferenzierung innerhalb der Bourgeoisie und/oder des Kleinbürgertums. Linkspopulistische Bewegungen können sich auf unterschiedliche politische Strukturen stützen – Parteien, Gewerkschaften, Verbände, Guerillaorganisationen, Komitees – wobei diese tendenziell in den Staat integriert werden und ihre unabhängige Rolle, so sie diese je gespielt haben, einbüßen. Der Linkspopulismus an der Macht setzt klassische bonapartistische Mittel ein, um seine Ziele durchzusetzen, wobei es zu teils heftigen Zusammenstößen mit Fraktionen der Bourgeoisie oder der „alten Eliten“ kommen kann.

Christian Suter hat in seiner erwähnten Studie drei Phasen linkspopulistischer Herrschaft herausgearbeitet: Mobilisierung, Inkorporierung und Demobilisierung. In der ersten Phase versucht das Regime, seine soziale Basis im „Volk“ durch Mobilisierungen zu aktivieren; um die Mobilisierungsfähigkeit aufrecht zu erhalten, die Massen aber ständig unter Kontrolle halten zu können, folgt eine Phase der Inkorporierung – beispielsweise durch die Schaffung staatlicher Interessensvertretungen etc.; hat der Linkspopulismus seine Ziele erreicht (in der Regel einen Modernisierungsschub der nationalen kapitalistischen Wirtschaft), beginnt die Demobilisierungsphase – die „kämpferischen Volksorganisationen“ werden in traditionelle Parteien oder Verbände umgewandelt, die offizielle Rhetorik wird gemäßigt...

Wohlgemerkt – diese Periodisierung populistischer Regimes ist das Produkt einer politologischen, akademischen Langzeituntersuchung und blendet daher bewusst Fragen wie mögliche geänderte Abläufe des historischen Prozesses (z. B. durch das Auftauchen einer revolutionären Führung) aus.

Bolivarianische Zirkel und UNT – unabhängige Organisationen?

Aber kehren wir zur venezolanischen Realität zurück. Die objektive Notwendigkeit für die herrschende Klasse Venezuelas, die Erstarrung des punto-fijistischen Systems zu überwinden und angesichts des Erwachens der Massen nach dem Caracazo einen politischen Ausweg zu finden, führte – nicht ohne Widerstände – zur chavezistischen Lösung.

Zwischen imperialistischem Druck und rebellierenden Ausgebeuteten blieben der venezolanischen Bourgeoisie keine wirklichen politischen Alternativen. Wie der Putsch vom April 2002 zeigte, sind die venezolanischen KapitalistInnen nicht im Stande, eine halbwegs stabile Regierung zu bilden, die sich den Massen wirksam entgegenstellen kann.

Und Chávez tut alles, um die Kontrolle seiner Bewegung über die Massen nicht nur zu halten, sondern auszuweiten. Ein Instrument dabei sind die „Circulos Bolivarianos“, die Bolivarianischen Zirkel, In ihrer Selbstdarstellung heißt es:

„Am 11. Juni 2001 schuf der Präsident Hugo Chávez offiziell die Bolivarianischen Zirkel. Sie werden vom Volk gebildet und umfassen zwischen sieben und elf Mitglieder, die sich treffen, um die Probleme ihrer Gemeinschaft zu diskutieren und in die Hände der kompetenten Organe zu legen, wie sie in der Verfassung festgeschrieben sind. Der oberste Führer (maximo dirigente) der Bolivarianischen Zirkel ist der Präsident der Bolivarianischen Republik von Venezuela. Der Sitz im nationalen wie im internationalen Rahmen ist der Miraflores-Palast (=der Präsidentenpalast in Caracas – sope)“.

Was auf den ersten Blick bestechend demokratisch klingt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als Instrument der Einbindung und Gängelung der aktivsten UnterstützerInnen des „Prozesses“. Das zentrale Durchgriffsrecht des „obersten Führers“ und die Tatsache, dass in zahlreichen Schlüsselbetrieben und in den Misiones ( den Programmen zur Alphabetisierung, zur Verbesserung des Gesundheitswesens, zur Nahrungsmittelversorgung der Bevölkerung etc.) Armeeangehörige den Ton angeben, lässt den Schluss zu, dass die Circulos Bolivarianos das politisch-organisatorische Rückgrat der chávistischen Bewegung sein sollen. Mit Hilfe der Circulos Bolivarianos soll wohl die Bewegung institutionalisiert werden, d.h. die Bewegung wird in einen vorgegebenen Rahmen gepresst und ihrer Unabhängigkeit beraubt.

Auch hier lassen sich Parallelen zu anderen links-populistischen bonapartistischen Bewegungen in Lateinamerika finden: Das Velasco-Regime in Peru etwa bildete 1968 das Oficina Nacional de Desarollo de los Pueblos Jóvenes (ONDEPJOV), das als Transmissionsriemen zwischen Regierung und der Bevölkerung der städtischen Elendsviertel dienen sollte und nach den Landbesetzungen 1971 in das Sistema Nacional de Apoyo a la Movilizacíon Social (SINAMOS / Nationales System zur Unterstützung der sozialen Mobilisierung) umgewandelt wurde. Über SINAMOS wurde versucht, Landlose und proletarische Schichten zu organisieren und zu kontrollieren. SINAMOS wurde später hierarchisch organisiert (auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene), wobei die Repräsentationsorgane auf den höheren Ebenen nie mehr als 50 Mitglieder umfassen durften, um von Haus aus das Einsickern kritischer Elemente von der Basis zu verhindern. An der Spitze der Regionalkomitees fanden sich übrigens auffallend viele Militärs. In älteren Armensiedlungen, in denen es traditionell von der Linken beeinflussten Widerstand gegeben hatte, konnte sich das System nie durchsetzen.

Die Versuch, die ohnehin diskreditierte CTV unter Kontrolle zu bringen, wurden weiter oben bereits beschrieben. Um ein organisatorisches Gegengewicht zur traditionellen Gewerkschaftsbewegung zu schaffen, wurde ab November 2000 die Fuerza Bolivariana de Trabajadores (FBT / Kraft der Bolivarianischen ArbeiterInnen, später Bolivarianische ArbeiterInnenfront) aufgebaut. Sie spielte eine treibende Rolle bei der Gründung der Uníon Nacional de Trabajadores (Nationale ArbeiterInnenunion), einer neuen Gewerkschaftsorganisation, die formal auf ihre Unabhängigkeit vom Staat pocht.

Die UNT wurde am 5. April 2003 gegründet – einerseits als Reaktion auf die gemeinsame Front aus ArbeiterInnenaristokratie und FEDECAMARAS während des „Streiks“ in der Ölindustrie, andererseits wegen der gescheiterten Versuche, die CTV-Führung via Referendum abzusetzen.

Die Gründung der neuen Gewerkschaftszentrale speiste sich aus mehreren Quellen: Die Mitglieder klassenkämpferischer Strömungen in der CTV – hauptsächlich MorenistInnen und linke AktivistInnen der Causa R - , die bis dahin eine Gewerkschaftsspaltung abgelehnt hatten, reagierten damit auf die Abwendung relevanter ArbeiterInnenschichten von ihrer traditionellen Organisation; allerdings wurde dieser Ablösungsprozess massiv von der FBT vorangetrieben; seltsam mutet an, dass eine christdemokratische Gewerkschaft im Öffentlichen Dienst federführend an der UNT-Gründung mitwirkte – offensichtlich wurde hier eine alte Rechnung mit der sozialdemokratischen AD beglichen. Schließlich machte sich auch der Führer der mächtigen Metallarbeitergewerkschaft von Ciudad Guyana, Machuca, für die Gründung einer neuen Gewerkschaftszentrale statt – als er seinen persönlichen Führungsanspruch nicht durchsetzen konnte, blieb er allerdings der Gründung der UNT fern.

Die Gründung der UNT war, wie Stalin Pérez Borges, Mitglied der nationalen Koordination der neuen Gewerkschaft und Mitglied des Bloque Sindical Clasista selbstkritisch erklärt, „eine bürokratische Übereinkunft“. Das Kräfteverhältnis zwischen FBT und „echten“ GewerkschafterInnen war etwa fifty fifty. Die Gremien der UNT wurden am Gründungskongress nicht gewählt, sondern nach „Representativität“ der TeilnehmerInnen ausgepackelt.

Für die linken GewerkschafterInnen begann also unmittelbar nach der Gründung der UNT der gleiche Kampf, den sie bereits seit Jahren in der CTV geführt hatten – der um eine halbwegs demokratische Vertretung in den Gewerkschaftsgremien. Zu allem Überdruss tauchten plötzlich auf allen Ebenen BürokratInnen der CTV auf, die sich plötzlich zum neuen bolivarianischen Syndikalismus bekehrt hatten und sofort in Spitzenpositionen gehievt wurden. Bis zum heutigen Tag haben keine Gewerkschaftswahlen stattgefunden.

Die UNT ist formal vom Staat unabhängig. Statuten sind aber die eine, die Realität eine andere Sache. Der zugrunde liegenden Mechanismus entspricht dem, was Trotzki kurz vor seinem Tod in seiner Schrift „Die Gewerkschaften in der Epoche des imperialistischen Niederganges“ dargestellt hat:

Insofern die Hauptrolle in zurückgebliebenen Ländern nicht von einheimischem, sondern von ausländischem Kapital gespielt wird, nimmt die nationale Bourgeoisie, vom Standpunkt ihrer gesellschaftlichen Lage gesehen, eine weit unbedeutendere Stellung ein, als ihr auf Grund der industriellen Entwicklung entsprechen würde. Insofern das ausländische Kapital nicht Arbeiter einführt, sondern die eingeborene Bevölkerung proletarisiert, beginnt das nationale Proletariat bald die wichtigste Rolle im Leben des Landes zu spielen. Unter diesen Umständen ist die Regierung, so weit sie dem ausländischen Kapitalismus Widerstand zu leisten versucht, gezwungen, sich mehr oder weniger auf das Proletariat zu stützen. Auf der anderen Seite werden von den Regierungen jener zurückgebliebenen Länder, die es für unvermeidlich oder gewinnbringender halten, Schulter an Schulter mit dem ausländischen Kapital zu marschieren, die Arbeiterorganisationen vernichtet, und es wird ein mehr oder weniger totalitäres Regime gebildet.

So entziehen die Schwäche der einheimischen Bourgeoisie, das Fehlen einer Tradition von Selbstverwaltung in den Gemeinden, der Druck des ausländischen Kapitalismus und das relativ schnelle Anwachsen des Proletariats einem beständigen demokratischen Regime jede Grundlage. Die Regierungen zurückgebliebener, d.h. kolonialer und halbkolonialer Länder nehmen früher oder später einen bonapartistischen Charakter an; sie unterscheiden sich voneinander dadurch, daß die einen versuchen, sich in demokratischer Richtung zu orientieren und ihre Stütze unter den Arbeitern und Bauern finden, während die anderen der Militär- und Polizeidiktatur sehr ähnliche Regime errichten. Dies bestimmt gleicherweise das Schicksal der Gewerkschaften. Sie stehen entweder unter dem besonderen Schutz des Staates, oder sie sind grausamen Verfolgungen ausgesetzt. Der Schutz von seiten des Staates wird durch zwei Aufgaben bestimmt, die ihm gestellt sind: die erste ist, die Arbeiter näher an sich heranzuziehen und so eine Unterstützung für den Widerstand gegen übermäßige Anmaßungen von seiten des Imperialismus zu gewinnen; zur gleichen Zeit sollen die Arbeiter selbst dadurch diszipliniert werden, daß sie unter die Kontrolle einer Bürokratie gestellt werden.

Im Auftrag des Canadian Labor Congress besuchten Daina Green und Barry Lipton im Frühjahr 2004 Venezuela, um eine Bestandsaufnahme der gewerkschaftlichen Situation des Landes vorzunehmen. Sie sprachen dabei mit dem regionalen IBFG Büro ebenso wie mit Vertretern der verschiedenen Gewerkschaftsföderationen. Ihr Bericht ist im Internet unter anderem auf der Seite von Labournet Deutschland zu finden. Sie kommen zum Schluss, dass es zwar keine faktuellen Beweise dafür gäbe, dass die UNT im Auftrag der Regierung gegründet worden sei, die Begleitumstände der UNT-Gründung jedoch in diese Richtung deuteten.

Bolivarische Revolution oder permanente Revolution?

Selbst unkritische Befürworter der Regierung Chávez geben – mitunter zwar nur widerwillig – zu, dass die „bolivarische Revolution“ nach wie vor die Grenzen des kapitalistischen Systems nicht gesprengt hat. Immer wieder aber lassen sie anklingen, dass Chávez selbst am besten Weg sei, den Weg des Sozialismus zu beschreiten – wenn er nur die richtigen Ratgeber zur Seite hätte, bzw. wenn auf ihn genügend Druck von „links“ ausgeübt werde. „Es gibt einen erbitterten Konflikt an der Spitze der bolivarischen Bewegung zwischen dem rechten Flügel, der reformistischen sozialdemokratischen Tendenz, die danach streben, die Revolution zu stoppen und einen Handel mit der Oligarchie und dem Imperialismus einzugehen, und dem linken Flügel, der die Revolution vollenden möchte. Hugo Chávez hat manchmal den Druck der Linken und dem der Massen widerspiegelt; aber andere Male hat er sich dem extremen Druck der Reformisten gebeugt.“ (83)

Diese Argumentation ist nicht neu – sie hat aber mit Marxismus nichts zu tun, sie ist die Argumentation der bürgerlichen Aufklärung. Sie stellt die Dinge in idealistischer Weise auf den Kopf: Nicht die Massen sind Träger, Motor und Subjekt des revolutionären Prozesses, es ist eine FührerInnenfigur, welche „die Revolution macht“.

Einer der wesentlichen Beiträge Leo Trotzkis zur Weiterentwicklung der marxistischen Theorie war die Ausformulierung der Theorie der permanenten Revolution. In einer prägnanten Zusammenfassung seiner Thesen schreibt er unter anderem:

2. In bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, daß die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.

3. Nicht nur die Agrarfrage, sondern auch die nationale Frage weist der Bauernschaft, die in den zurückgebliebenen Ländern die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung bildet, einen außerordentlichen Platz in der demokratischen Revolution an. Ohne ein Bündnis des Proletariats mit der Bauernschaft können die Aufgaben der demokratischen Revolution nicht nur nicht gelöst, sondern auch nicht ernstlich gestellt werden. Das Bündnis dieser zwei Klassen ist aber nicht anders zu verwirklichen als im unversöhnlichen Kampf gegen den Einfluß der national-liberalen Bourgeoisie.

4. Wie verschieden die ersten episodenhaften Etappen der Revolution in den einzelnen Ländern auch sein mögen, die Verwirklichung des revolutionären Bündnisses zwischen Proletariat und Bauernschaft ist nur denkbar unter der politischen Führung der proletarischen Avantgarde, die in der Kommunistischen Partei organisiert ist. Dies wiederum bedeutet, daß der Sieg der demokratischen Revolution nur durch die Diktatur des Proletariats denkbar ist, das sich auf das Bündnis mit der Bauernschaft stützt und in erster Linie die Aufgaben der demokratischen Revolution löst.”

Auch wenn die Bauernschaft in Venezuela heute nur mehr eine kleine Minderheit darstellt und viele ehemalige Kleinbauern als pauperisierte Schichte in den Slums der Städte anzutreffen sind, ist eine Bündnis der ArbeiterInnenklasse mit den noch vorhandenen Kleinbauern, aber auch den städtischen kleinbürgerlichen Schichten und den verelendeten HalbproletarierInnen, dem so genannten „Informellen Sektor“ eine unbedingte Notwendigkeit für eine siegreiche Revolution

Die Geschichte der Splitterprodukte der Krise der IV. Internationale, die Ende der 40er-Jahre/Anfang der 50er Jahre durch den Revisionismus zerstört wurde, ist eine Geschichte der Abkürzer und der Versuche von „TrotzkistInnen“, als RatgeberInnen diverser nationalistischer Führungen eine „Revolution von oben“ zu initiieren. Nahuel Morenos Anpassung an den Peronismus in Argentinien; Michel Pablos Beraterrolle für den algerischen nationalistischen Präsidenten Ben Bella; die Anpassung und letztlich vollständige Kapitulation der Führung der amerikanischen Socialist Workers Party vor dem Castrismus; der Versuch des Vereinigten Sekretariats der IV. Internationale, Anfang der 80er Jahre die nicaraguanische FSLN-Spitze durch Gipfelgespräche zu beeinflussen; die aktuelle Beteiligung eines Mitglieds des ehemaligen Vereinigten Sekretariats, das sich jetzt Internationales Komitee der IV. Internationale nennt, als Minister an der Regierung Lula in Brasilien – das sind nur Perlen in der Kette der Illusionen und des Verrats. Heute geht Alan Woods in Venzuela genau den gleichen Weg.

In allen angeführten Fällen haben die Splitter der IV. Internationale ihre Anpassung an nationalistische Führungen in halbkolonialen und kolonialen Ländern mit wahren Kaskaden revolutionärer Rhetorik bemäntelt. Um Lenin zu zitieren: „Am besten verrät man den Sozialismus im Namen des Sozialismus“.

Alan Woods sagt von allem ein bisschen was – dass die Revolution in Venezuela über die bürgerliche Etappe noch nicht hinausgekommen ist; dass eine ArbeiterInnenpartei notwendig ist; dass nur der Sozialismus eine Perspektive ist. Aber wirkliche Konsequenzen zieht er aus diesen Lippenbekenntnissen nicht – er und seine Anhänger in Venezuela vertrauen nach wie vor primär auf Hugo Chávez Lernfähigkeit . Die Massen sind bloß das Anhängsel, das ohne den Mann an der Spitze planlos und unbewusst herumirren würde.

Zahlreiche linksradikale Gruppierungen und Organisationen in Venezuela treten heute organisiert auf – die OIR, die CMR der Grant/Woods-Strömung, die SyndikalistInnen, die „clasistas“ in der UNT. Sie alle schrecken vor einer konkreten Aufgabe zurück: Der Propaganda für den Aufbau einer Revolutionären ArbeiterInnenpartei. Mit dem Argument, sich nicht vom realen Strom der Massen abschneiden zu wollen, versuchen sie, mit der Strömung des bolivarianischen Flusses mitzuschwimmen.

Für Alan Woods stellt sich die Frage des Parteiaufbaus in folgender Form:

„Die Arbeiterklasse muss zu jeder Zeit ihre eigenen Klassenorganisationen, die Gewerkschaften, Fabrikkomitees usw., erhalten und weiter aufbauen. Gleichzeitig wird sie am Aufbau einer starken Massenbewegung arbeiten, welche die größtmöglichen Teile der nicht-proletarischen oder semi-proletarischen Massen mit einschließt. Die marxistische Strömung der Bewegung wird ihre volle politische Unabhängigkeit aufrechterhalten, d.h. ihre eigenen Zeitungen, Bücher und Flugblätter herausgeben, und ihren Standpunkt verteidigen. Sie wird sich loyal am Aufbau der Bewegung beteiligen und sich bemühen, möglichst breite Schichten der Arbeiterklasse und der Jugend für die Bewegung zu gewinnen. Gleichzeitig wird sie versuchen, die fortgeschrittensten AktivistInnen der Bewegung für ihr Programm, ihre Politik und ihre Ideen zu gewinnen.
Wir werden der Bewegung unsere Ideen und Methoden nicht aufzwingen. Wir werden ihr keine Ultimaten stellen. Unser Ziel ist es, die Bewegung aufzubauen, zu stärken und sie vorwärts zu bringen. Gleichzeitig wollen wir ihre fortgeschrittensten Teile mit den notwendigen Ideen, Programmen und politischen Methoden zur Niederschlagung der Oligarchie und des Imperialismus und zur sozialistischen Umwälzung der Gesellschaft ausstatten.“

Woods vermengt in seinen Texten immer die Mobilisierungen der Massen mit den von oben kontrollierten „Bewegungen“ der „bolivarianischen Revolution“. Trotzdem stellt sich die Frage: Ist der Aufbau der revolutionären Partei, die den Sturz des Kapitalismus vorbereitet, tatsächlich die Summe aus „loyalem Aufbau“ einer Bewegung + der Herausgabe von sozialistischen Publikationen? Nein. Die Aufgabe von RevolutionärInnen ist zunächst vor allem die Erziehung der fortgeschrittensten Teile der Massen zur Unabhängigkeit von der Bourgeoisie, auch wenn diese noch so linke Phrasen drischt.

RevolutionärInnen müssen die Bewegungen der Massen für Enteignungen, für Landreform, für die Verteilung von Lebensmitteln unterstützen und sie mit entsprechenden Übergangslosungen verbinden, um in deren Bewusstsein eine Brücke von der unmittelbaren Forderung zur Notwendigkeit der Eroberung der Macht zu bauen.. Wie oben ausgeführt, sind Verstaatlichungen unter kapitalistischen Vorzeichen in halbkolonialen Ländern keine Maßnahme,n die das Proletariat notwendig stärken. Entscheidend sind entschädigungslose Enteignungen der KapitalistInnen unter ArbeiterInnenkontrolle, um die Macht der alten AusbeuterInnen zu brechen und die ArbeiterInnen auf die selbstständige und vollständige Lenkung der Wirtschaft und des Staats vorzubereiten.

Die Aufgabe der Revolutionäre kann es auch nicht sein, Organisationen des bonapartistischen Apparates zu halb-sowjetischen Strukturen umzuinterpretieren und in ihnen einen Ansatz einer Doppelmacht zu sehen. Was wir unterstützen, ist die Selbstorganisation der Massen, unabhängig von der Bourgeoisie, seinem Staat und seinen BürokratInnen. In Venezuela bedeutet das beispielsweise den Kampf für volle Gewerkschaftsdemokratie in beiden großen Gewerkschaftszentralen, also sowohl CTV als auch UNT. Das bedeutet auch, dass RevolutionärInnen nicht versuchen können, die Bolivarischen Zirkel, die von ihrer Struktur her fest auf dem Boden der bürgerlichen Verfassung stehen und klar in das Chavezistische Projekt eingebunden sind, als Ersatz für echte ArbeiterInnen- oder BäuerInnenkomitees zu nutzen.

Das bedeutet auch nicht, die platonischen Erklärungen von Chávez zur „Volksbewaffnung“ („Jeder Fischer, jeder Bauer, jeder Arbeiter muss lernen, mit einem Gewehr umzugehen“ - ein Zitat, das die Zeitung der CMR auf ihrer Titelseite abgedruckt hat) mit der Forderung nach Selbstverteidigungsorganen der Massen zu verwechseln. Nach wir vor ermorden Todesschwadronen der Latifundistas BäuerInnen, die nach Land rufen; schießen, wie bei den Demonstrationen gegen den Putsch 2002, Söldner der Bourgeoisie auf ArbeiterInnen, Arbeitslose und StudentInnen. Damit die Massen lernen, mit den Waffen umzugehen, brauchen sie Selbstverteidigungsorgane, die unter der Kontrolle der demokratisch organisierten Komitees (Räte) stehen. Der Putsch 2002 hat gezeigt, dass Teile des Polizeiapparates und der Armee keineswegs „mit dem Volks“ sind. Wer solche Illusionen schürt, hat die Lehren aus dem blutigen Militärputsch in Chile 1973 nicht gelernt, als die Volksfrontregierung Allende bis am Tag ihres Sturzes den Massen, die zu hunderttausenden in Demonstrationen nach Gewehren riefen einhämmertem, dass die „demokratischen Offiziere“ niemals auf das Volks schießen würden.

Natürlich müssen RevolutionärInnen im Falle eines reaktionären Putsches oder einer imperialistischen Intervention Seite an Seite mit den AnhängerInnen Chávez die bisherigen Errungenschaften verteidigen. Klarerweise werden sie dagegen kämpfen, dass Chávez von der Oligarchie im Bündnis mit den ImperialistInnen gestürzt wird. Notwendig ist jedoch, dass der Kampf über das Programm der „bolivarischen Revolution“ hinausgeht. Die revolutionären Massen müssen ihre politischen Handlungen jedoch unabhängig, von einem proletarischen Klassenstandpunkt aus setzen. Wenn sich Chávez auf Grund seiner Klassenlage der konsequenten Verteidigung der bisherigen Errungenschaft und dem weiteren Vorantreiben der Revolution in den Weg stellt, werden sie ihn stürzen müssen. Die Geschichte zeigt, dass bonapartistische Regimes nur vorübergehend ihre Funktion der Überbrückung der Klassengegensätze erfüllen können. Sollten sie nicht durch eine Revolution beseitigt werden, waren sie nur die interimistischen Platzhalter für einen anderen, brutaleren Typ von bürgerlicher Herrschaft.

Konkret müssten RevolutionärInnen heute den venezolanischen ArbeiterInnen, Arbeitslosen, BäuerInnen und der Jugend offen erklären, dass nur eine ArbeiterInnenregierung, die sich auf die Selbstorganisation der Massen stützt, eine wirkliche Verbesserung ihrer Lage bringen kann.

Diese zentralen Achsen können aber nicht diffus „loyal in der Bewegung“ propagiert werden. Sie setzen den Aufbau einer revolutionären ArbeiterInnenprogram auf dem Boden eines marxistischen Programms voraus. Es ist kein Zufall, dass die bolivarianische Führung die negativen Erfahrungen der venezolanischen ArbeiterInnen mit reformistischen und stalinistischen Parteien ausnützt, um das Misstrauen gegen Parteien allgemein zu säen und zu verstärken. RevolutionärInnen müssen hier geduldig aufklären, dass eine klar strukturierte Partei, deren Mitglieder auf dem Boden eines gemeinsam erarbeiteten Programms stehen, hundertmal demokratischer und wirksamer ist als eine scheinbar „partizipatorische“ Bewegung, deren Fäden alle im Miraflores-Palast zusammenlaufen.

In ganz Lateinamerika geraten die ArbeiterInnen und BäuerInnen in Bewegung. In Bolivien gibt es seit zwei Jahren ständige Massenmobilisierungen, an denen eine bürgerliche Regierung nach der anderen scheitert, ohne dass die Werktätigen selbst die Macht erobern könnten; in Brasilien verstärkt sich der Druck gegen die Regierung Lula, die sich immer deutlicher als linksgetünchte bürgerliche Austeritätsregierung entlarvt; in Argentinien halten die ArbeiterInnen nach wie vor hunderte Betriebe besetzt, mobilisieren die Piqueteros die Arbeitslosen, gärt es in den Armenvierteln der Großstädte.

Die revolutionären Kämpfe in einem Land befruchten gerade in Lateinamerika die Kämpfe der Unterdrückten in den anderen Ländern. Genau das aber wäre die historische Chance der venezolanischen Revolution: Wenn die ArbeiterInnen und BäuerInnen mit der Bourgeoisie brechen, den alten Staatsapparat zerschlagen und ihre eigene Diktatur errichten würden, könnte das zum Fanal der Revolution in anderen lateinamerikanischen Ländern werden. Dies entspräche ganz Trotzkis Theorie der permanenten Revolution, der folgende Strategie als notwendig erachtet:

„Der Abschluß einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, daß die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: sie findet ihren Abschluß nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.“

Wir wissen, dass Venezuela erst am Beginn dieser von uns skizzierten, angestrebten Entwicklung liegt. Um ans Ziel zu gelangen, bedarf es vor allem der Klarheit über den konkreten Weg. Natürlich halten wir eine aktive Solidarität für notwendig, um diesen Prozess - gegen den mächtigen Klassenfeind Imperialismus - zu stärken. Für eine kleine revolutionäre Gruppe, wie es die GRA heute ist, ist der Umfang der möglichen direkten Hilfe sehr gering. Unsere wertvollste Hilfe sehen wir darin, in der internationalen Diskussion einen realistischen revolutionären Weg zu finden. Unser Artikel ist für uns nicht der Weisheit letzter Schluss, sondern verstehen wir als ersten Diskussionsbeitrag. Deshalb würden wir uns freuen, unsere Position mit anderen revolutionären Strömungen/Gruppen und Interessierten zu diskutieren.

Mai 2005

Anmerkungen und Erläuterungen

Zitate:

Alle Zitate von Alan Woods wurden dem Artikel „Die venezolanische Revolution und die Rolle der MarxistInnen“ entnommen. Der Text findet sich im Internet unter http://www.derfunke.at oder, in gedruckter Form, im theoretischen Organ des „Funke“ („Aufstand der Vernunft“).

Die Zitate aus Schriften Trotzkis zu Mexiko und Lateinamerika wurden den „Writings of Leon Trotsky“ (Pathfinder Press, News York) entnommen und mit den spanischen und französischen Ausgaben verglichen und von uns übersetzt.

Parteien, Organisationen

AD: (Acción Democratica / Demokratische Aktion) – 1941 von Bétancourt gegründete bürgerliche Partei, die 1976 von der „Sozialistischen Internationale“ im Zuge einer großangelegten Offensive zur Verankerung in Lateinamerika „adoptiert“ wurde und trotz ihrer offen bürgerlichen Geschichte und Programmatik als sozialdemokratische Partei anerkannt wurde.

COPEI (Comité de Organización Política Electoral Independiente / Unabhängiges wahlpolitisches Organisationskomitee) – 1945 von Expräsident Caldera gegründete christdemokratische Partei der venezolanischen Oligarchie.

PCV (Partido Comunista de Venzuela / Kommunistische Partei) – 1931 als älteste politische Partei Venezuelas gegründet, war die PCV von Haus aus durchstalinisiert und verfolgte ab Mitte der 30er Jahre im Sinne einer Etappentheorie eine Linie der Klassenuzsammenarbeit mit der Bourgeoisie. Nach dem Punto-Fijo-Akommen von 1958, das ihr keinen Platz in der Verwaltung des bürgerlichen Staatsapparates gewährte, verfolgte die Partei eine Guerrilla-Orientierung. Es kam zu etlichen Abspaltungen.

MAS (Moviemiento al Socialismo / Bewegung für den Sozialismus) – 1969 aus einer der Guerrilla-Gruppen entstanden, die den bewaffneten Kampf einstellten. Driftete von links-sozialdemokratischen Positionen immer weiter nach rechts ab, steht heute in Opposition zum Chavezismus.. Ihr Führer Teodoro Petkoff war Minister unter Caldera.

PPT (Patria Para Todos / Vaterland für alle) – 1998 als pro-chávistische Abspaltung von Causa R entstanden

La Causa R[adical] (Radikale Sache / Sache R) – 1971 von aus der PCV kommenden Intellektuellen gegründete Organisation, die sich von einer links-sozialdemokratischen, arbeiterfreundlichen Plattform aus um die gewerkschaftliche Organisation vor allem in der Metall – und Erdölindustrie bemühte.

 

Parteien, Organisationen

 

Nahuel Moreno (1924 – 1987, wirklicher Name: Hugo Bressano), langjähriger Führer diverser sich auf den Trotzkismus berufender Organisationen in Argentinien. Passte sich in den 50er Jahren an den Peronismus an, verwarf später die Theorie der permanenten Revolution. Seine Anhänger spalteten sich in zahlreiche Organisationen und internationale Fraktionen, die hauptsächlich in Lateinamerika einen gewissen Einfluss haben.

Michel Pablo (1911 – 1996, wirklicher Name: Michel Raptis), seit den 30er Jahren in der griechischen und französischen trotzkistischen Bewegung aktiv; entwickelte in den 40er Jahren Positionen, die dem Stalinismus eine progressive Rolle zusprachen; maßgeblich an der Zerstörung der IV. Internationale 1951 – 1953 beteiligt; verfolgte einen Anpassungskurs an kleinbürgerlich-nationalistische Bewegungen, vor allem in Algerien, wurde 1960/61 Berater des algerischen Politikers Ben Bella und kurzfristig Minister in Algerien.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel wurde uns im August von LeserInnen zur Spiegelung empfohlen. Er stammt von der Gruppe für revolutionäre ArbeiterInnenpolitik (GRA)  Quelle: http://home.pages.at/zrap/venezuela.html