Solidarität mit "Florida-Rolf"!
1. Fluchschrift des AK Sportlicher Kommunismus

von AK Sportlicher Kommunismus 

09/03
 
 
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Über Sozialneid in Deutschland und das repressive Instrumentarium des Sozialstaats handelt die erste Fluchschrift des Arbeitskreises (AK) Sportlicher Kommunismus, welche dieser Indymedia zur Erstveröffentlichung anbieten möchte. Der AK Sportlicher Kommunismus ist dem Sozialreferat des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der FU Berlin nahestehend und bei dessen ?Aktuellen Analysen? zur Hochschulpolitik beratend tätig.

Ein Leben unter Palmen? Auf Kosten des deutschen Staates? Als wir das hörten, haben wir die Koffer gepackt und dachten „Auf nach Florida! Möge die Sonne mit uns sein!“. Nun hat uns die doofe Sozialministerin Ulla Schmidt einen Strich durch die Rechnung gemacht und wir bleiben vorerst hier. Aber nicht ohne ein paar Worte zur Ideologie des Sozialneids und dem Sozialstaat deutscher Prägung zu verlieren.

„Deutschland ist ein so schönes Land, dass man lieber außerhalb seiner Grenzen lebt“
Der Exilant Karl Marx zu seiner Cousine Antoinette Philips, als diese ihn zu Patriotismus befragte

Die Geschichte ist schnell erzählt. Rolf John, deutscher Staatsbürger, ist Sozialhilfeempfänger und hat Glück im Unglück: „Per Gerichtsurteil ist das niedersächsische Landessozialamt zur Wohngeldzahlung nach Florida verpflichtet worden. Allerdings mit Einschränkungen und unter Rücksicht auf eine Notlage des Empfängers. Das niedersächsische Landessozialamt muss einem in Florida lebenden psychisch kranken [euphemistische Formulierung für nichtverwertbares Menschenmaterial; Anm. AK] Deutschen vorerst 875 Dollar Miete für dessen Wohnung in Miami zahlen. [...] Dem Rentner, dem unstreitig Hilfe zum Lebensunterhalt zustehe, sei wegen seiner unheilbaren Depression nicht zuzumuten, zurück nach Deutschland zu ziehen.“ (Netzeitung 15.8.03) Dem nationalen Arbeitswahn entrinnen und unter Palmen statt schlechter deutscher Anti-Depressiva einzuwerfen, den einen oder anderen Cocktail (so viel Raum lässt die Stütze ja nun dummerweise auch nicht) zu schlürfen, können wir einiges abgewinnen! So aber nicht der gemeine Nationalist, die BILD-Zeitung, auch nicht die Wochen-BILD für Abiturienten und aufwärts: Der Spiegel und selbstverständlich darf die politische Demokraten-Elite in der Diskussion nicht fehlen. Sie blasen vereint zur Hetzjagd gegen diejenigen, die sich den wichtigsten drei nationalen Vorgaben, „Schnall den Gürtel enger - für die Nation! Verzichte und gehorche - für die Nation! Hasse die, die davon abweichen und an einem schönen Leben festhalten!“ widersetzen.

Sozialneid - Exekution nationaler Befindlichkeiten an Volksschädlingen

Und auf geht's: "Sozialhilfe unter Palmen wird es künftig nicht mehr geben." (Ulla Schmidt), "Er lacht uns alle aus." (BILD), „Schmarotzer“ (Guido Westerwelle), Edmund Stoiber meint, es müsse Schluss sein, „mit dem süßen Leben unter Palmen auf Kosten des Steuerzahlers“, „wirklich schlimmes Beispiel von Sozialmissbrauch“ (Gerhard Schröder), „Exakt 1055 Deutsche lassen es sich, wie Rolf J., auf Kosten des Sozialamts im Ausland gut [sic!] gehen. Sie leben in Argentinien (199), Brasilien (140) oder Uruguay (84). Allein das Berliner Sozialamt unterstützt 160 Auswanderer, die Hälfte davon in der Schweiz. Dort sind die Hilfen, die ein Bedürftiger mit deutschem Pass bekommt, besonders üppig [sic!] ...“(Süddeutsche Zeitung) Weiterhin dürfen brave Deutsche in der BILD-Zeitung zeigen, wie hart sie für ihre 1900 Euro, die dem Betrag für Rolf John entsprechen, arbeiten müssen.

Denen, die keine Befehlsgewalt haben, soll es ebenso schlecht gehen wie dem Volk. Vom deutschen Beamten bis zu den Negern in Harlem haben die gierigen Nachläufer im Grunde immer gewußt, sie würden am Ende selber nichts davon haben, als die Freude, daß die andern auch nicht mehr haben. [...] Der eigentliche Gewinn, auf den der Volksgenosse rechnet, ist die Sanktionierung seiner Wut durch das Kollektiv.
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer „Dialektik der Aufklärung“

Theo und Max haben hier Sozialneid als ein Element des Antisemitismus bestimmt unter dem Motto: „Wenn es mir scheiße geht, dann sollen die anderen erst recht beschissen dran sein!“ Die „anderen“ waren im Falle von Theo und Max die von den Nazis und anderen Antisemiten verfolgten Juden. Aber die Logik hinter diesem Schluss funktioniert ganz ohne Juden, weil sowohl der oben angedeutete wie der antisemitisch motivierte Sozialneid, also anderen kein schönes Leben zu gönnen, eine gemeinsame Grundlage haben: Nationalismus.

Dabei identifiziert der einer Nation unterworfene sein individuelles materielles Lebensinteresse komischerweise mit dem Interesse des Staates, meint, sein Interesse wäre im „Allgemeinwohl“ gut aufgehoben. Der Untertan streicht sich selbst einmal komplett durch und ordnet sich blind den Verhältnissen unter, auch wenn sie ihm unmittelbar schaden. Denn das „Allgemeinwohl“, das so erstrebenswerte, ist nichts weiter als das Interesse der Nation, die meisten Untertanen der prozessierenden Ökonomie, dem nationalen Kapital, verfüg- und verwertbar zu machen. Damit sind neben dem gewaltmäßigen Schutz von Freiheit und Eigentum und der Einrichtung eines ordentlich ausgestatteten Militärs, also weiterer Verfügbarmachung von Menschenmaterial zum Verheizen für´s Vaterland, die grundlegenden Bedingungen gelegt, um im Konzert der Nationen den Ton anzugeben. Der Einzelne ist dem ganzen Prozess nur das Material, das Mittel zum Zweck, aber nicht Zweck selbst.1

Ist der Einzelne erst einmal so weit, diesen unmittelbaren Schaden durch die Herrschaft gar nicht mehr wahrzunehmen, sondern bedingungslos zu affirmieren, seine eigenen Interessen mit denen des nationalen Kollektivs zu identifizieren, dann liegt der nächste Schluss nahe: Diejenigen, die sich dem ganzen nationalen Taumel verweigern, sind Volksschädlinge und müssen sanktioniert werden. Wie Theo und Max richtig schrieben, richtet sich der Sozialneid an diejenigen, „die keine Befehlsgewalt haben“. Wahrscheinlich – wir wissen es nicht genau, aber darauf kommt es nicht an – ahnt der eine oder andere Untertan durchaus, dass Staat und Kapital für den eigenen Schaden verantwortlich sind. Die Angst – die nichts entschuldigt! - vor der unmittelbaren Gewalt, also der Kündigung oder dem Knast/dem Knüppel/der Psychiatrie und der Fehlschluss, gegen diese Verhältnisse nicht opponieren zu können, lässt den sozialneidischen Deppen zu dem oben beschriebenen Ergebnis kommen, sich an wehrlosen Personen abzuarbeiten. Die tun einem ja nichts, haben „keine Befehlsgewalt“. Der Witz dabei – und wieder der Rekurs auf Max und Theo: Sie haben nix davon, außer der perfiden Freude, „daß die andern auch nicht mehr haben“. Die Verhältnisse, die die Sozialneider täglich schädigen, sind die gleichen und der Schaden wird nicht weichen, wird der ganze Schlamassel nicht einmal zugunsten einer Gesellschaft, die an Bedürfnisbefriedigung und nicht an Verwertung orientiert ist, umgekrempelt.

Die herrschenden Demokraten nehmen solche Einstellungen ihrer Untertanen natürlich mit Freude auf, reproduzieren sie gar, falls sie nicht sowieso schon so weit waren. Sie haben es zwar nicht nötig, sich solch plumpem Ressentiment hinzugeben, denn sie haben genug, um in diesen Verhältnissen klarzukommen. Andererseits sind sie es ja gerade, denen das Wohl der Nation so am Herzen liegt, also muss an Beispielen wie dem von Rolf John aufgezeigt werden, dass so ein Verhalten nicht erwünscht ist und Nachmachen schädlich ist.2 „Wo kämen wir denn hin, wenn alle so...!“ hört man regelmäßig aus deren Munde. Dafür haben sie auch ein nettes repressives Instrumentarium:

Der Sozialstaat – unangenehme Zwangsverwaltung und Überwachung der sozial Depravierten3

Egal, wie man den Sozialstaat bestimmt, ob historisch oder logisch, eines kann festgestellt werden: Ein schönes Leben für die „Begünstigten“ sollte er nie gewährleisten. Er hatte immer repressiven Charakter. In Deutschland bedeutete seine Einführung durch Bismarck beispielsweise ein Zuckerbrot gegen die Verelendung der Arbeiter, die in ihrer erstarkenden Bewegung anfingen, zu revoltieren. Das Zuckerbrot ging allerdings einher mit der Peitsche der Sozialistengesetze, dem Verbot sozialdemokratischer Umtriebe. Summa summarum war die Einführung von Arbeitslosenversicherung usw. also die Gewinnung der Kontrolle des beherrschten ausgebeuteten Menschenmaterials.

Daran hat sich heute nichts geändert. Ein Mensch hält´s Maul, wenn er es gestopft kriegt, und wenn es der konservierungsstoffverseuchte Mist aus´m Lidl ist, den man für Lebensmittelgutscheine bekommt. Wer nicht arbeitet, soll zwar essen, aber eben nur das für die Neger bestimmte. Dafür muss man sich allerdings einiges an Überwachung und Drangsale gefallen lassen. Man muss sich abmelden, wenn man Deutschland verlässt, regelmäßig beim Amt antanzen, scheiß Jobs annehmen oder eine bestimmte Anzahl (abgelehnter) Bewerbungen vorweisen. Klappt das alles nicht, kann es schon einmal vorkommen, dass man keine „Zuwendungen“ mehr erhält und auf der Straße verreckt.4

Zudem hat der Sozialstaat noch einen anderen Vorteil für die Nation: Menschliche Arbeitskraft, die brach liegt, könnte durchaus wieder später gebraucht werden, und wenn es nur zum Verheizen im nächsten Krieg reicht. Sicher ist es in dieser unvernünftigen Produktionsweise zwar nie, dass wieder Arbeit gebraucht würde. Es wäre allerdings eine dumme Sache, würden in einer solchen Situation nur Gerippe und Kranke zur Verfügung stehen. Um erstens also sozialem Protest vorzubeugen, zweitens die sozial Depravierten unter Kontrolle zu halten und drittens das kontrollierte Menschenmaterial verwertbar zu erhalten, ist es – so ein Staat über die notwendigen Ressourcen verfügt – sinnvoll, gewisse sozialstaatliche Existenzminima zu schaffen. Der Sozialstaat ist also ein Korrektiv zu den Auswirkungen kapitalistischer Vergesellschaftung.

Der Fabrikant hat seine Schuldner, die Arbeiter, in der Fabrik unter den Augen und kontrolliert ihre Gegenleistung, ehe er noch das Geld vorstreckt. Was in Wirklichkeit vorging, bekommen sie erst zu spüren, wenn sie sehen, was sie dafür kaufen können: der kleinste Magnat kann über ein Quantum von Diensten und Gütern verfügen wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minimum. Nicht genug daran, dass sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, preist der Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten können. Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird.
Theodor W. Adorno / Max Horkheimer aaO

Was offenbar fast niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlockt, ist die Tatsache, dass so ein Sozialstaat überhaupt existiert. Die Frage anders gestellt: Was ist das eigentlich für eine komische Gesellschaft, in der Menschen täglich gucken müssen, dass sie nicht unter die Räder kommen? Theo und Max haben das in dem Zitat deutlich gesagt: In einer Gesellschaft, deren ökonomisches Verhältnis der Menschen zueinander die Ausbeutung und Verwertung von Arbeitskraft einschließt, deren zentrales Moment also die Verwertung von angeeigneter Mehrarbeit und nicht Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen ist, wird es Verarmung immer geben, eben weil die Menschen nur Mittel und nicht Zweck der Veranstaltung sind.

Dann eben nur Ostsee und Dünen...

...statt Palmen und dem Strand von Miami. denn die Ulla Schmidt will mit ihrer vorgestellten Reform der Sozialhilfe im Ausland solche Situationen wie die von Rolf John zukünftig unterbinden. Und so wird es wohl noch eine Weile dauern, bis wir die Palmen von Miami begutachten können. Stattdessen bleibt ein Äquivalent z.B. im Nordosten Deutschlands, wo es zwar nicht immer schönes Wetter gibt, neonazistische Kahlköpfe den einen oder anderen Strand unsicher machen und die Cocktails zu teuer sind. Immerhin können wir vielleicht beim Wellenrauschen der Ostsee von dem Ende des oben beschriebenen Wahnsinns träumen.

Arbeitskreis (AK) Sportlicher Kommunismus 11.9.2003

1Man möge uns die etwas verkürzte Darstellung dieses Gegenstandes an dieser Stelle verzeihen. In der letzten Analyse des Sozialreferats des AStA FU „Über Nation, Gewalt und was Studierende damit zu tun haben“ wurde ausführlich dazu Stellung genommen. Vgl. http://www.astafu.de/inhalte/artikel/a_2003/analyse1 oder die Ausgabe des „Out Of Dahlem“ im Oktober 2003

2Ob die StaatsführerInnen dabei selbst ressentimentgeladen handeln oder ihre Handlungen und Äußerungen hinsichtlich der Volksschädlinge dazu nutzen, um von ihrem eigenen schädigenden Tun dem Einzelnen gegenüber abzulenken, kann dahingestellt bleiben. Es macht für das Ergebnis keinen Unterschied.

3Wir lassen hier kein gutes Wort am Sozialstaat. Das heißt nicht, dass wir wie die Liberalen dessen Abschaffung fordern. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass der Sozialstaat den Menschen eine Verschnaufpause gewähren kann. Trotzdem halten wir es für wichtig, zu klären, was diese eigentlich bedeutet und wieso es überhaupt einer solchen Verschnaufpause bedarf.

4Und das sind nur die Bedingungen für Menschen, die der deutschen Hoheit direkt unterworfen sind. Nicht-Deutsche haben hier noch viel größere Probleme, inkl. der ständigen Angst, auf die „Begünstigungen“ verzichten zu müssen und abgeschoben zu werden.

Editorische Anmerkungen

Trend-LeserInnen schrieben uns, dass wir diesen Text verbreiten sollten. Danke für diesen Hinweis - von dieser Stelle aus.

Der Text wurde am 14.09.2003 23:09 bei Indymedia verbreitet, wo er auch diskutiert werden kann http://www.de.indymedia.org/2003/09/61689.shtml 

Der AK Sportlicher Kommunismus ist dem Sozialreferat des Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) der FU Berlin nahestehend und bei dessen „Aktuellen Analysen“ zur Hochschulpolitik beratend aktiv. Weitere Fluchschriften und Projekte sind in Planung. Der AK ist unter akspoko@x-berg.de für Kritik, Fragen, Anregungen zu erreichen.