PRAG 1968
Das Manifest der Zweitausend Worte

Von Ludvik Vaculik (27.6. 1968) 

9/03
 
 
trend
onlinezeitung

Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin
Ursprünglich hat der Krieg das Leben unseres Volkes bedroht. Dann kamen weitere schlechte Zeiten mit Ereignissen, die die seelische Gesundheit unseres Volkes und seinen Charakter bedrohten. Mit Hoffnung hatte die Mehrheit des Volkes das Programm des Sozialismus aufgenommen. Dessen Leitung ist indessen in die Hände der falschen Leute geraten. Nicht so sehr hätte es geschadet, daß es diesen Leuten an genügender staatsmännischer Erfahrung mangelte, an sachlicher Kenntnis und philosophischer Bildung, wenn sie diese Mängel durch ein wenig mehr an einfachem Verstand und Anstand ausgeglichen hätten, wenn sie somit imstande gewesen wären, die Meinung anderer anzuhören, und wenn sie sich einer allmählichen Auslese der Besseren unterworfen hätten. Der tschechische Schriftsteller Ludvik Vaculik, Jg. 1926, verfasste im Auftrag besorgter Intellektueller seines Landes das »Manifest der Zweitausend Worte«. Obwohl er bereit 1966 mit seinem Roman »Das Beil« große Aufmerksamkeit erlangte hatte, war es das Dokument vom Juni 1968, das ihm Weltruhm – und in seiner Heimat Publikationsverbot – einbrachte. Vaculik war später Mitbegründer der oppositionellen Gruppe »Charta 77«.

Die Kommunistische Partei, die nach dem Kriege in weitem Umfang das Vertrauen des Volkes genossen hatte, hat dies Vertrauen sukzessive gegen Ämter eingetauscht, bis sie endlich alle diese Ämter bekommen hatte und nichts anderes mehr besaß. Wir müssen es so ausdrücken, und das wissen auch jene Kommunisten unter uns, die von den Ergebnissen ebenso enttäuscht sind wie die Außenstehenden. Die fehlerhafte Linie der Führung hat diese Partei aus einer politischen Partei und einem idealistischen Verband in eine Machtorganisation verwandelt, die eine gewaltige Anziehungskraft auf herrschsüchtige Egoisten ausübte, auf skrupellose Feiglinge und Leute mit schlechtem Gewissen. Ihr Einfluß wirkte auf den Charakter und das Verhalten der Partei, die im Inneren keineswegs darauf organisiert war, daß in ihr ohne beschämende Kompromisse anständige Menschen Einfluß hatten gewinnen können, um sie so zu verwandeln, daß sie in eine moderne Welt passen würde. Viele Kommunisten haben versucht, gegen diesen Verfall anzukämpfen, aber es ist ihnen nicht gelungen, auch nur ein wenig davon zu verhindern, was dann Wirklichkeit geworden ist.

Die Zustände in der Kommunistischen Partei waren Vorbild und Ursache für die gleichen Zustände im Staat. Die Verflechtung der Partei mit dem Staat hat dazu geführt, daß sie den Vorteil des Abstandes von der verfassungsmäßigen Macht verloren hatte. Die Tätigkeit des Staates und der wirtschaftlichen Organisationen durfte nicht kritisiert werden. Das Parlament verlernte zu tagen, die Regierung zu regieren und die Direktoren zu dirigieren. Die Wahlen verloren ihren Sinn, die Gesetze verloren an Achtung. Wir konnten unseren Abgeordneten in keinem Ausschuß mehr vertrauen, und wenn wir es gekonnt hätten, hätten wir von ihnen nichts verlangen können, weil sie nichts hätten erreichen können.

Noch schlimmer aber war, daß wir einander, einer dem anderen, so gut wie gar nicht mehr vertrauen konnten. Die persönliche und die gemeinsame Ehre ging verloren. Mit Anständigkeit kam man nicht voran, und von der geringsten Wertung der Menschen nach ihren Fähigkeiten zu reden, wäre müßig gewesen. Daher hat die Mehrheit der Menschen das Interesse an der öffentlichen Sache verloren, sie kümmerten sich nur mehr um sich selbst und um Geld, wobei zur Schlechtigkeit der Verhältnisse auch der Umstand gehört, daß man nicht einmal auf dieses Geld sich heute noch verlassen kann. Die Beziehungen zwischen den Menschen verdarben, die Freude an der Arbeit ging verloren, kurz, für das Volk sind Zeiten angebrochen, die die seelische Gesundheit des Volkes und seinen Charakter bedrohen.

Für den heutigen Zustand sind wir alle verantwortlich, mehr freilich aber die Kommunisten unter uns; die Hauptverantwortung jedoch tragen die, welche Teilhaber an der unkontrollierten Macht oder deren Instrumente waren. Es war das die Macht einer eigenwilligen Gruppe, die mit Hilfe des Parteiapparates von Prag aus in jeden Bezirk und in jede Gemeinde hineinwirkte. Dieser Apparat bestimmte, wer was tun durfte oder nicht, er befand über die Genossenschaften für die Genossenschaftler, über die Fabriken für die Arbeiter, für die Staatsbürger über die Nationalausschüsse. Keine Organisation, auch keine kommunistische, gehörte in Wirklichkeit ihren Mitgliedern. Die Hauptschuld und der allergrößte Betrug dieser Herrschaft ist es, daß sie ihren Willen für den Willen der Arbeiterschaft ausgegeben haben. Wenn wir diesen Betrug akzeptieren wollten, dann müßten wir heute den Arbeitern den Ruin unserer Wirtschaft vorwerfen, die Verbrechen an unschuldigen Menschen, die Einführung der Zensur, die verhinderte, daß über all dies geschrieben werden konnte; die Arbeiter wären schuld an den fehlerhaften Investitionen, an der Zerrüttung des Marktes, am Fehlen der Wohnungen. Kein vernünftiger Mensch wird allerdings an solche Schuld der Arbeiterschaft glauben. Wir wissen alle, und vor allem weiß das jeder Arbeiter, daß die Arbeiterschaft über nichts zu entscheiden hatte. Die Auswahl der Arbeiterfunktionäre wurde von anderswoher besorgt. Während viele Arbeiter sich einbildeten, sie regierten, regierte in ihrem Namen eine besonders herangebildete Clique von Funktionären des Partei- und Regierungsapparates. Diese usurpierte in Wirklichkeit den Platz der entrechteten Klasse und installierte sich selbst zu einer neuen herrschenden Schicht.

Der Gerechtigkeit halber müssen wir allerdings sagen, daß einige unter ihnen sich dieses falschen Spieles seit langem bewußt waren. Wir erkennen sie heute daran, daß sie das Unrecht wiedergutzumachen versuchen, die Fehler ausgleichen, den Parteimitgliedern und den Bürgern die Entscheidungsbefugnisse zurückgeben und die Vollmacht und die Allgewalt des Beamtenapparates einschränken. Ein großer Teil der Funktionäre stemmt sich aber gegen alle Änderungen, hat bis jetzt Einfluß. Er vereinigt immer noch einen Teil der Gewalt in seinen Händen, vor allem in der Provinz, in den Bezirken und Gemeinden, wo er sie geheim ausübt und ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden.

Es hat in der Kommunistischen Partei begonnen. Wir müssen das anerkennen, und das wissen auch die Nichtkommunisten unter uns, die von dorther schon nichts Gutes mehr erwartet haben. Allerdings muß man hinzufügen, daß dieser Prozeß auch nirgends sonst hätte beginnen können. Denn nur die Kommunisten hatten durch ganze zwanzig Jahre ein politisches Leben führen können, nur die kommunistische Kritik war nahe an der Sache, die jeweils verhandelt wurde, nur die Opposition innerhalb der Kommunistischen Partei besaß das Privileg, in Fühlung mit dem Gegner zu sein. Die Initiative und die Anstrengungen der demokratischen Kommunisten sind nur die Ratenabzahlung auf die Schuld, die die ganze Partei bei den Nichtkommunisten hat, die sie im Zustande der Nichtgleichberechtigung gehalten hat. Den Kommunisten gebührt daher keinerlei Dank, es muß aber anerkannt werden, daß sie sich ehrlich bemühen, die letzte Gelegenheit wahrzunehmen, die eigene Ehre und die Ehre der Nation zu retten.

Der Erneuerungsprozeß tritt mit nichts Neuem auf den Plan. Er steuert Gedanken und Einwände bei, von denen viele älter sind als die Irrtümer des Sozialismus und andere unter der Oberfläche entstandene Gedanken, die seit langem hätten ausgesprochen werden sollen, die aber unterdrückt worden sind. Wir sollten keine Illusionen darüber hegen, daß jetzt diese Gedanken durch die Kraft der Wahrheit notwendig siegen müssen. Über ihren Sieg hat allein die Schwäche des alten Systems entschieden, das sich natürlicherweise abnutzen mußte im Laufe der zwanzigjährigen Herrschaft, in der es niemand anfechten konnte. Selbstverständlich mußten alle die fehlerhaften Grundelemente dieses Systems sich zur vollen Reife entwickeln, die schon in seinen ideologischen Grundlagen verborgen lagen. Über ihren Sieg hat allein die Schwäche des alten Systems entschieden, das sich natürlicherweise abnutzen mußte im Laufe der zwanzigjährigen Herrschaft, in der es niemand anfechten konnte. Selbstverständlich mußten alle die fehlerhaften Grundelemente dieses Systems sich zur vollen Reife entwickeln, die schon in seinen ideologischen Grundlagen verborgen lagen. Wir sollten daher die Bedeutung der Kritik aus den Reihen der Schriftsteller und Studenten nicht überschätzen. Die Quelle der gesellschaftlichen Veränderungen ist die Wirtschaft. Ein richtiges Wort hat nur dann Wirksamkeit, wenn es unter Bedingungen ausgesprochen wird, die richtig vorbereitet sind. Richtig vorbereitete Bedingungen – damit muß man bei uns leider unsere ganz Armut bezeichnen, den totalen Zusammenbruch des alten Systems der zentralen Leitung, in dem in Frieden und Ruhe und auf unsere Kosten die Politiker eines besonderen Schlages sich miteinander kompromittierten. Die Wahrheit nämlich siegt bei uns nicht von alleine – die Wahrheit bleibt einfach übrig, wenn alles andere vertan ist! Es gibt daher hier keinen Anlaß zu nationalen Siegesfeiern, es ist lediglich ein Grund zur Hoffnung.
Wir wenden uns an Euch im Augenblick dieser Hoffnung, die dennoch weiterhin bedroht ist. Es hat einige Monate gebraucht, bis viele von uns daran zu glauben begannen, daß sie nun ungestraft ihre Meinung aussprechen konnten, viele allerdings glauben es bis heute noch nicht. Aber wir haben schon so viel ausgesprochen, und so viele haben sich bloßgestellt, daß wir diesmal unseren Entschluß, das alte Regime zu vermenschlichen, unbedingt verwirklichen müssen. Sonst fiele die Rache der alten Gewalten grausam aus. Wenden wir uns hauptsächlich jenen zu, die bisher nur abgewartet haben. Die Zeit, die jetzt anbricht, wird für viele Jahre entscheidend sein.

Die Zeit, die jetzt anbricht, ist ein Sommer, mit Urlaub und Ferien, in denen wir nach altem Brauch uns wünschen werden, alles liegen- und stehenzulassen. Wir müssen uns aber bewußt sein, daß unsere lieben Gegner sich dieser sommerlichen Entspannung nicht hingeben werden, sie werden ihre Anhängerschaft mobilisieren, und sie werden schon jetzt versuchen, sich geruhsamer Weihnachtsfeiertage zu versichern. Geben wir daher acht, was geschehen wird, und bemühen wir uns, es zu verstehen und dementsprechend zu handeln. Begeben wir uns des möglichen Anspruchs, daß uns immer irgendein Höherer zur Sache die jeweils einzig mögliche Erklärung, die einzig richtige Schlußfolgerung vorsage. Jeder wird seine Schlüsse selber nach eigener Verantwortung ziehen müssen. Übereinstimmende gemeinsame Beschlüsse kann man nur in der Diskussion fassen, zu der jene Freiheit des Wortes die Voraussetzung ist, die womöglich unsere einzige demokratische Errungenschaft dieses Jahres bleiben wird.
In den kommenden Tagen müssen wir aber mit eigener Initiative und mit eigener Tatkraft vorangehen. Vor allem werden wir allen Ansichten widersprechen, falls sie auftreten sollten, daß es möglich wäre, irgendeine demokratische Erneuerung ohne die Kommunisten, eventuell sogar gegen sie durchzusetzen. Es wäre dies ebenso ungerecht und unvernünftig. Die Kommunisten besitzen eine wohlausgebaute Organisation, innerhalb derer es den fortschrittlichen Flügel zu unterstützen gilt. Sie besitzen erfahrene Funktionäre, sie haben nicht zuletzt die Ordnung in ihren Händen, die entscheidenden Hebel und Knöpfe. Vor der Öffentlichkeit steht ihr »Aktionsprogramm«, das nicht zuletzt auch das Programm der ersten Wiedergutmachung der gröbsten Ungerechtigkeiten ist, und niemand sonst kann ein ähnlich konkretes Programm vorweisen. Es muß aber verlangt werden, daß die Kommunisten mit eigenen lokalen Aktionsprogrammen in jedem Kreis und in jedem Bezirk sich der Öffentlichkeit stellen. Dann geht es plötzlich um sehr einfache und schon lange erwartete Angelegenheiten. Die KPC bereitet den Kongreß vor, der ein neues Zentralkomitee zu wählen haben wird. Wir müssen fordern, daß es besser wird als das jetzt amtierende. Wenn jetzt die Partei behauptet, daß sie ihre führende Rolle in Zukunft auf das Vertrauen der Bürger aufbauen will und nicht auf Gewalt, so können wir das nach dem Maß der Glaubwürdigkeit akzeptieren, die jene Leute besitzen, die die Partei schon jetzt auf die Bezirks- und Kreiskonferenzen delegiert.

In der letzten Zeit ist das Volk beunruhigt, weil der Fortschritt der Demokratisierung zum Stillstand gekommen ist. Dies Gefühl kommt teilweise von der Ermüdung nach dem aufregenden Geschehen der letzten Monate, teilweise entspricht es aber der Wirklichkeit: Die Saison der bestürzenden Offenbarungen, der Demissionen hochgestellter Personen und berauschenden Proklamationen von noch nie dagewesener Kühnheit ist jetzt vorbei. Der Kampf der Kräfte hat sich jedoch nur ein wenig verlagert, es wird jetzt um den Inhalt und um den Wortlauf der Gesetze gerungen, um das Ausmaß praktischer Maßnahmen. Darüber hinaus muß man den neuen Leuten den Ministern, Prokuratoren, Vorsitzenden und Sekretären Zeit lassen, um sich einzuarbeiten. Sie haben ein Anrecht auf diese Zeit, um sich entweder zu bewähren oder sich als unfähig zu erweisen. Zudem kann man von den zentralen politischen Organen heute nicht viel mehr erwarten. Ohnehin haben sie bemerkenswerte Tugenden nolens volens gezeigt.

Die eigentliche Qualität der zukünftigen Demokratie hängt jetzt davon ab, was mit den Fabriken und in den Fabriken geschehen wird. Bei allen unseren Diskussionen entscheiden zuletzt die Wirtschaftler. Es gilt jetzt, qualifizierte Ökonomen zu suchen und an die geeigneten Stellen zu setzen. Es ist zwar wahr, daß wir alle, verglichen mit den Bedingungen in entwickelten Ländern, schlecht bezahlt sind, und einige unter uns noch schlechter. Wir können jetzt mehr Geld verlangen – das sich beliebig drucken und damit entwerten läßt. Fordern wir daher lieber von den Herren Direktoren und Vorsitzenden, uns Zahlen vorzulegen, Rechenschaft zu legen darüber, was und zu welchem Preis sie zu produzieren gedenken, wem und für wieviel sie es zu verkaufen beabsichtigen, welcher Gewinn dabei herausgewirtschaftet werden soll, welcher Teil davon investiert werden soll in Modernisierung der Produktion und was davon aufgeteilt werden soll. Unter scheinbar langweiligen Überschriften ist jetzt in unseren Zeitungen der Widerhall eines harten Kampfes um Demokratie oder um Futtertröge zu verfolgen. Hier können die Arbeiter ebenso eingreifen wie die Unternehmer, indem sie wissen, wen sie in die Betriebsverwaltungen und in die Betriebsräte wählen. Als Arbeitnehmer können sie für sich selbst jetzt das Beste bewirken, wenn sie als ihre Delegierten in die Gewerkschaften die Vertreter ihrer Interessen wählen, fähige und anständige Menschen, ohne Rücksicht auf ihre Parteizugehörigkeit.
Wenn jetzt in dieser Zeit von den eigentlichen zentralen politischen Organisationen nicht mehr zu erwarten ist, so muß um so mehr in den Bezirken und Kreisen erreicht werden. Wir fordern den Rücktritt jener Leute, die ihre Macht mißbraucht haben, die das öffentliche Eigentum geschädigt haben, die ehrlos und grausam gehandelt haben. Es ist jetzt notwendig, Methoden zu entwickeln, um sie zum Rücktritt zu zwingen. Zum Beispiel: öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrative Arbeitseinsätze, Geldgeschenksammlungen für sie, um sie mit einer Rente abzufinden, Streik und Boykott. Es müssen aber Aktionen verhindert werden, die nach dem Gesetz nicht erlaubt, die unanständig und grob sind, sonst können sie zur Beeinflussung Alexander Dubceks mißbraucht werden. Unser Widerstand gegen das Schreiben vulgärer anonymer Briefe muß so allgemein werden, daß hinfort jeder solcher Brief, den diese Leuten noch bekommen, als einer gelten kann, den sie sich selbst geschickt haben.
Beleben wir die Tätigkeit der Nationalen Front. Verlangen wir öffentliche Sitzungen der Nationalausschüsse. Zu den offenstehenden Fragen, die niemand beantworten will, wollen wir eigene Bürgerausschüsse und Kommissionen bilden. Es ist das sehr einfach: Es treten einige Leute zusammen, sie wählen sich einen Vorsitzenden, sie führen ein Protokoll, sie veröffentlichen ihr Anliegen, verlangen dessen Lösung und lassen sich nicht niederschreien. Die Bezirks- und lokale Presse, die in ihrer Mehrheit zu einem amtlichen Lautsprecher degeneriert ist, müssen wir in eine Tribüne aller positiven politischen Kräfte verwandeln. Verlangen wir die Gründung von Redaktionsräten aus Vertretern der Nationalen Front. Oder gründen wir neue Zeitungen, gründen wir Ausschüsse zur Verteidigung der Freiheit des Wortes. Organisieren wir bei unseren Zusammenkünften einen eigenen Ordnungsdienst. Wenn uns anrüchige Nachrichten über bestimmt Personen zur Kenntnis gelangen, sollen wir sie auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen, dann eine Delegation an die zuständigen Stellen senden und deren Antwort dann veröffentlichen, wenn es nicht anders geht, indem wir diese an den Toren anschlagen.
Unterstützen wir die Organe der Polizei bei der Aufklärung wirklicher Straftaten; unsere Absicht ist es nicht, Anarchie oder den Zustand allgemeiner Unsicherheit zu bewirken. Hüten wir uns vor nachbarlichen Zänkereien, betrinken wir uns nicht bei politischen Zusammenkünften, aber entlarven wir die Spitzel!

Die belebte sommerliche Bewegung in der gesamten Republik entwickelt das Interesse auch für Neuordnung der staatsrechtlichen Beziehungen zwischen Böhmen und der Slowakei. Wir betrachten die Föderalisierung als eine Möglichkeit, die nationale Frage zu lösen, sonst ist das nur eine von den bedeutenderen Maßnahmen zur Demokratisierung der Verhältnisse. Diese Maßnahme für sich allein braucht aber der Slowakei keineswegs ein besseres Leben zu bringen. Getrennte Regierungen – für die Slowakei und die böhmischen Länder: damit wird noch nichts gelöst. Das Regime der parteistaatlichen Bürokratie könnte auch unter diesen Bedingungen an der Macht bleiben, in der Slowakei um so eher, als man dort »sich eine größere Freiheit erkämpft hätte«.

Außerordentliche Beunruhigung geht in der letzten Zeit von der Möglichkeit aus, daß sich ausländische Mächte in unsere Entwicklung einmischen könnten. Im Angesicht aller Übermächte bleibt uns lediglich übrig, ruhig auf unserem Standpunkt zu beharren und niemand herauszufordern. Unserer Regierung müssen wir zu verstehen geben, daß wir hinter ihr stehen, wenn nötig in Waffen, so lange sie das tun wird, wofür wir ihr unser Mandat gegeben haben. Und unseren Verbündeten können wir versichern, daß wir unsere vertraglichen, freundschaftlichen und wirtschaftlichen Abkommen einhalten werden. Gereizte Vorwürfe von anderer Seite, nicht begründete Verdächtigungen können nur den Stand unserer Regierung erschweren, ohne daß sie uns Hilfe bringen. Beziehungen auf der Grundlage der Gleichberechtigung können wir ohnehin erst dadurch erlangen, daß wir unsere inneren Zustände verbessern und unseren Reformprozeß so weit vorantreiben, daß wir dereinst bei den Wahlen uns Politiker wählen können, die soviel Standhaftigkeit, Ansehen und Weisheit besitzen, daß sie uns solche Beziehungen aushandeln und einhalten können. Das übrigens ist ein Problem der Regierungen aller kleineren Staaten der Welt.

In diesem Frühling ist uns von neuem, wie nach dem Kriege, eine große Chance geschenkt worden. Wir haben jetzt aufs neue die Möglichkeit, unsere gemeinschaftliche Sache, die den Arbeitstitel »Sozialismus« trägt, in unsere eigenen Hände zu nehmen und ihr ein Profil zu verleihen, das besser unserem einst vortrefflichen Ruf entspräche und der einigermaßen guten Meinung, die wir ursprünglich von uns selber hatten. Dieser Frühling ist soeben zu Ende gegangen und kehrt schon nimmer wieder. Im Winter werden wir wissen, woran wir sind.
Und damit endet dieser unser Aufruf an die Arbeiter, Landwirte, Beamten, Künstler, Wissenschaftler, Techniker und an alle. Geschrieben wurde er auf Anregung der Wissenschaftler.

Editorische Anmerkung: 
Quelle: Nachrichten aus der CSSR. Suhrkamp Verlag, Frankfurt (Main) 1968.