Editorial
Metamorphosen 

(nachgereicht am 21.9.2003)

Von Karl Müller

09/03
 
 
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"Der Antisemitismus ist eine historische Dauererscheinung." Mit diesem Satz beginnt Ulrich Enderwitz seine Untersuchung "Antisemitismus und Volksstaat - zur Pathologie der kapitalistischen Krisenbewältigung". Darin zeigt er, wie der Antisemitismus in Europa - beginnend bei den den Judenverfolgungen des Mittelalters, diese fortsetzend in der zweiten Hälfte des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und schließlich sich bis zur systematischen Judenvernichtung durch den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert steigernd - eine Traditionslinie der bürgerlichen Gesellschaft bildet.

Die Wandlungen, denen der Antisemitismus dabei in seinen Erscheinungsweisen als vom Staat eingesetztes "planmäßiges Vehikel zur bewussten Steuerung des Verhaltens anderer" unterworfen ist, erklären sich nach Enderwitz in erster Linie durch Untersuchungen des historischen Kontexts. Der Strukturalismus, selbst ein linker, der sich wertkritisch geriert, ist nach Enderwitz ungeeignet, den Antisemitismus umfassend zu verstehen. 

"Bei geschichtlichen Erscheinungen das "Was" vom "Warum" abzulösen, den Gehalt vom Zweck zu abstrahieren, das Wesen von der Funktion getrennt aufzufassen, läuft, wie gesagt, darauf hinaus, die Erscheinungen um ihr gesellschaftliches Subjekt und ihre historische Orientierung zu bringen und sie als eine ziellose Epiphanie dieses ihres zur epochalen Substanz hypostasierten Wesens neu zu setzen.", wendet Enderwitz exemplarisch in seinem Aufsatz "Linker Strukturalismus" gegen Postones Antisemitismus-Thesen ein.

Der Berliner Teil der Trend-Redaktion diskutiert zur Zeit in ähnlicher Weise die Antisemitismusfrage. Auch wir haben starke Einwendungen gegen Postones "Antisemitismus-Aufsatz". Jedoch kritisieren wir ihn vornehmlich entlang seines verkürzten und daher falschen Wertbegriffs. 

Ähnlich wie bei den Wertkritischen Kommunisten ( Kommunismus ist machbar! )enthält Postones Wertbegriff nicht mehr die "Gallerte" Arbeitskraft, so dass sich auf diesem Wege der Mehrwert verflüchtigen kann und die leidige Klassenfrage außen vorbleibt. Damit sind die sozialen Träger des Antisemitismus nicht mehr zu erkennen bzw. zu benennen, womit der Kreis geschlossen ist: Mit der Erledigung der Klassenfrage wird gleichzeitig der historische Kontext entsorgt.

Die Metamorphosen der acht Jahrhunderte währenden Judenverfolgung in Europa werden damit eingeebnet zu einem scheinbar immergleichen antisemitischen Konglomerat aus reflexivem Denken und Handeln der vermeintlichen Opfer eines irgendwie aus der Beschäftigung mit der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie gewonnenen Begriffs von Geldfetisch. 

Derartig von Wirklichkeit ausgedünntes Theorie-Zeugs - ganz zu schweigen von der antideutschen Theorie-Homöopathie(-thologie) - macht Linke, die nicht nur an der Aufhebung der kapitalistisch-warenproduzierenden bürgerlichen Gesellschaft arbeiten, sondern denen die politische Emanzipation im Hier & Jetzt und die Bekämpfung des Antisemitismus in seinen unterschiedlichsten Erscheinungsformen nicht unwichtig sind, nahezu handlungsunfähig.

Zwar kann mensch flash-mobbenderweise von Aktion zu Aktion hechten. Das ist freilich kein Indiz für Handlungsfähigkeit, weil in solch einer Art von politischer Praxis die Ebene der Vermittlung als handlungsleitende Ebene fehlt. Und aus Vermittlungsfragen resultieren  Theoriefragen. Eben!