Imperialismus oder Empire?
Eine neue Weltordnung jenseits des Völkerrechts?

Von Norman Paech
09/02
 

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Drei Kriege des letzten Jahrzehnts haben der neuen Weltordnung nach dem Untergang der Sowjetunion eine Verfassung gegeben, in der der schon lange verdrängte Begriff des Imperialismus wieder auftaucht. Die Interventionen der USA am Golf 1991, in Jugoslawien 1999 und in Afghanistan 2001 sowie die kommende im Irak - alle mit mehr oder weniger deutlicher Unterstützung der NATO-Verbündeten - bestätigen die Befürchtung , dass die Beziehungen der mächtigsten Staaten in einer atavistischen Schleife in die alte imperialistische Schlachtordnung zurückfallen und die zwischenzeitlich entwickelten Methoden und Instrumente der Kriegshegung und Friedenswahrung überrollen und außer Kraft setzen. Zwar haben die Kriege dieser letzten Jahrhundertwende kaum mehr eine Ähnlichkeit mit denen der vorletzten, als John A. Hobson das erste theoretische Werk über den Imperialismus vorlegte.(1) Auch hat sich die internationale politische wie ökonomische Herrschaftsstruktur grundlegend geändert. Aber es gibt genauso grundlegende Elemente des Kapitalismus, die auf seinem Weg von der Internationalisierung durch Konzentration und Zentralisation zur heutigen Globalisierung nicht verloren gegangen sind und ihn immer noch als gesellschaftliches Grundverhältnis ausweisen.

1. Von Hobson zu Hardt/Negri.

Was aber bringt uns der Rückgriff auf eine historische Epochenbezeichnung mehr an Erkenntnis bringt, als die Wiederauflage der mit dem Begriff Imperialismus verbundenen Stigmatisierung und Denunziation internationaler Politik. Diese Überlegungen sollen hier auf die Instrumente des Krieges wie des Rechts beschränkt werden, die zwar nie aus der Geschichte des Kapitalismus hinweggedacht werden können, aber in der Epoche imperialistischer Expansion eine konstitutive Rolle übernehmen. Dabei sind Krieg und Recht nicht etwa sich ausschließende und negierende Antipoden gesellschaftlicher Regelung von Konflikten. Die Staaten haben zwar seit dem Briand-Kellog-Pakt von 1928 intensive Anstrengungen unternommen, den Angriffskrieg und die militärische Aggression zu illegalisieren und zu bannen. Gleichzeitig haben sie jedoch der kriegerischen Realität Tribut gezollt und versucht, den Krieg durch internationale Abkommen rechtlich zu "zivilisieren" und "humanisieren", wofür sich der Euphemismus des "humanitären Völkerrechts" seit den Haager Abkommen von 1899 und 1907 eingebürgert hat.

Obwohl Hobson sein Werk unmittelbar nach der ersten Haager Friedenskonferenz von 1899 geschrieben hat, geht er auf die Funktion und Bedeutung des Rechts im Imperialismus nicht ein. Anlass seiner Auseinandersetzung mit dem "wahren Verhältnis zwischen Wirtschaft und Politik" war der Burenkrieg, die endgültige Aufteilung der Kolonien vor allem in Afrika unter die europäischen Staaten. Der Übergang vom Handels- zum Kapitalexport ist der entscheidende Entwicklungsschritt des Kapitalismus und erzwingt die vollständige Eroberung und Unterwerfung der noch nicht von den kapitalistischen Großmächten beherrschten Gebiete - eine Dynamik, die nur mit kriegerischen Mitteln gegen den Widerstand der betroffenen Völker und gegen die Konkurrenz der rivalisierenden Mächte durchgesetzt werden kann. Die bürgerlichen Zeitgenossen haben Hobson kaum zur Kenntnis genommen. Lenin hingegen hat aus seinem Werk ausführlich exzerpiert und auf der Basis seiner Analyse der Produktionsverhältnisse Kapitalexport, die territoriale Aufteilung der Erde und die Rivalität der kapitalistischen Großmächte ebenfalls als zentrale Aspekte des Imperialismus hervorgehoben.(2) Auch er schenkt dem Recht keine Aufmerksamkeit, was vor dem Hintergrund des ersten Weltkrieges, der Oktoberrevolution und der revolutionären Ereignisse in Europa, die an der Wiege einer neuen gesellschaftlichen, also auch juristischen, Organisation der europäischen Staaten stehen sollten, allerdings erstaunlich ist.

Hobson sah in dem Imperialismus die Pervertierung des wahren Nationalismus, wie er im europäischen Nationalstaat verkörpert war. Denn der für ihn durchaus begrüßenswerte ökonomische Internationalismus und Kolonialismus wird durch seine militärische Aggressivität und expansive Gewalttätigkeit nicht nur zu einer Bedrohung des Friedens, sondern führt durch seine parasitären Profiteure in Industrie, Militär und Bürokratie zur moralischen Deformation der eigenen Gesellschaft. Im Gegensatz zu Lenin und zur marxistischen Imperialismustheorie meinte er allerdings, dass sich der Expansionszwang durch die Veränderung der Einkommensverhältnisse und die Ausweitung des Binnenmarktes auffangen lasse und somit die Gewalttätigkeit der Internationalisierung des Kapitals eindämmen lasse. [Lenins Randbemerkung: "haha!! Der Kern kleinbürgerlicher Kritik des Imperialismus"(3)]. Hundert Jahre später hat sich diese sozialreformerische Hoffnung ebenso wie die liberale Ideologie von der friedensstiftenden Kraft der Handelsbeziehungen im Weltmarkt als Illusion herausgestellt und es fragt sich, was diese Herrschaftsordnung des globalisierten Kapitalismus denn derart grundsätzlich vom imperialistischen Kapitalismus unterscheidet, dass diese alte Signatur nicht mehr angebracht ist.

Dies ist eine der Fragen, die jetzt Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch "Empire" aufgegriffen haben.(4) Obwohl in der Zeit zwischen dem Golf- und Jugoslawienkrieg entstanden, ist ihr Ausgangspunkt nicht die Rückkehr des Krieges in das Arsenal der Weltmächte, auch nicht in klassischer materialistischer Tradition die Analyse der Produktionsverhältnisse und die ungebrochene Entwicklungsdynamik des Kapitals - sie wird unterstellt. Ihre Überlegungen setzen in der Sphäre der Distribution, am Weltmarkt und seiner Rechtsstruktur an, den sie als politische Kategorie überhaupt erst mit dem Fall der Berliner Mauer als gegeben ansehen. Ohne eine Form rechtlicher Regulierung kann er ebenso wenig existieren wie die Rechtsordnung ohne eine Macht sich erhalten kann, die ihre Durchsetzung garantiert. Diese nicht sonderlich originelle These wird erst durch die zweite Überlegung interessant, nach der "die Rechtsordnung des globalisierten Markts (den wir "imperial" nennen) nicht nur eine neue höchste Form der Macht abbildet, die durch sie organisiert werden soll; in dieser Rechtsordnung schlagen sich auch neuartige Kräfte des Alltagslebens und des Widerstands, der Produktion und des Klassenkampfes nieder."(5) Da schließen sie sich zunächst der alten auch durch Hobson von J. St. Mill übernommenen und bereits von Marx bespöttelten Auffassung an, dass zwar die Produktionsverhältnisse unveränderlich seien, aber die Distribution (Markt und Rechtsordnung) der gesellschaftlichen Entscheidung unterliege und bei Aufrechterhaltung der Eigentumsverhältnisse revidiert werden könne. Die ebenfalls nicht neue aber von ihnen radikalisierte These lautet, dass der globalisierte Markt, die ihn zusammenhaltende Rechtsordnung und die sie wiederum garantierende Macht als neue "imperiale" Regierungsform zwar alle Attribute souveräner Gewalt wie militärische, polizeiliche, ökonomische, monetäre, kommunikative etc. Macht besitzt, diese aber jeglicher nationalstaatlicher Identität und Fixierung entbehrt. Dieses neue "Machtdispositiv" ist supranational, global und total und wird von den Autoren "Empire" genannt. Es hat den Nationalstaaten die drei wesentlichen Felder der Souveränität - Militär, Politik, Kultur - entwendet, die damit zwar nicht formell aber als souveräne Akteure aufgehört haben zu existieren. Der alte Imperialismus mit seiner die nationalen Grenzen überschreitenden Expansion, der Durchsetzung kolonialer Verhältnisse und der staatlichen Aggression starker gegen arme und schwache Staaten hat ausgedient: "Die Unterordnung der alten Kolonialländer unter die imperialistischen Nationalstaaten ist verschwunden oder im Verschwinden begriffen und mit ihr die imperialistische Hierarchisierung der Kontinente und Nationen. Alles reorganisiert sich und richtet sich auf den neuen und einheitlichen Horizont des Empire...Nein, das Empire ist schlicht kapitalistisch."(6)

2. Empire ohne Ort.

Es hat den Anschein, dass die reelle Subsumtion auch der entferntesten und unbedeutendsten Ökonomie unter das globalisierte Kapital und die Auflösung alternativer Produktionsverhältnisse der ehemals sozialistischen Staaten im Säurebad des kapitalistischen Weltmarktes die Autoren zu der Vision verführt haben, dass die lediglich noch auf dem Atlas und in der UNO identifizierbaren Staaten zu einer entsouveränisierten Agglomeration subjektloser Territorialgebilde unter dem supranationalen Dach einer universellen und ubiquitären kapitalistischen Herrschaftsstruktur mit Namen "Empire" mutiert sind. Den Autoren ist nicht der Vorwurf zu machen, dass sie mit dieser Wandlung vom Imperialismus zum Empire die aggressiven, kriegerischen, zerstörerischen, unterdrückenden, kolonisierenden und korrumpierenden Praktiken des "Empire-Kapitalismus" leugnen wollten. Sie behaupten nur, dass diese Machenschaften nicht mehr den Nationalstaaten alten Typs, etwa der USA oder den NATO-Staaten, zuzuordnen sind. Zwar kommen sie nicht an der Empirie US-amerikanischer Interventionen vorbei, dennoch sehen sie in ihnen lediglich den Ausdruck und das Instrument der sehr viel effektiveren Herrschaftsordnung des Empire. Diese ist nicht nur in den großen multinationalen Finanz-, Dienstleistungs- und Industrieunternehmen konzentriert, sondern muss auch den Druck aus den armen Ländern und durch gewerkschaftliche Organisationen berücksichtigen und wird damit sogar mit dem Prädikat der "demokratischen Republik" ausgezeichnet: "Empire lässt sich nur als universelle Republik begreifen, als ein Netzwerk aus Mächten und Gegenmächten in Form einer unbegrenzten und einschließenden Architektur", die nichts mehr mit dem Imperialismus, seinen Eroberungen, Plünderungen, Völkermord, Kolonisierung und Sklaverei zu tun hat, sondern auf der "Vorstellung von einem Empire, das zugleich eine demokratische Republik ist" und dessen "Entwicklung und Expansion ... auf einer Vorstellung von Frieden" beruht. (S. 178, 179)

Darin liegt vielleicht der Charme dieses Entwurfs, welcher ihm so breite Zustimmung in der bürgerlichen Öffentlichkeit zuträgt: die Verlagerung der eindeutigen und zurechenbaren Verantwortung für Krieg und Aggression weg vom intervenierenden Staat auf die imperiale Herrschaft des Empire. Ja, ihr wird eine viel intensivere und durchdringendere Kontrollgewalt als die Disziplinargewalt der alten Nationalstaaten zuerkannt, "was auf eine totalitäre Manipulation aller Aktivitäten, der Umwelt, der sozialen und kulturellen Verhältnisse usw. hinausläuft." Dass diese Aussage nicht gut zusammenpasst mit der "demokratischen Republik" ist nicht der einzige Widerspruch dieses an postmoderner Dialektik und Paradoxa so reichhaltigen Entwurfes - und wahrscheinlich ein weiterer Grund seiner Anziehungskraft.

Nicht genug damit, dass dieses subjektlose Ungeheuer trotz oder gerade wegen seiner Allgegenwärtigkeit für alle Formen des klassischen Widerstandes nur schwer auszumachen ist - "Den Gegner zu bestimmen ist keine geringe Aufgabe wenn man bedenkt, dass die Ausbeutung über keinen spezifischen Ort mehr verfügt" - es ist nach Hardt und Negri gerade durch die Kämpfe der Arbeiterklasse, des Proletariats und der Befreiungsbewegungen der zweiten und dritten Welt hervorgebracht worden. "Die Globalisierung der Märkte war, weit entfernt davon, bloß bittere Frucht kapitalistischen Unternehmertums zu sein, tatsächlich Ergebnis des Begehrens und der Forderungen taylorisierter, fordistischer und disziplinierter Arbeitskraft." (S. 267) In gut marxistischer Manier werden die Kämpfe zum Motor der Entwicklung erklärt, in denen einst das Proletariat, nun erweitert zur Menge, zur Multitude, als "absolut positive Kraft" Geschichte macht und das System über sich hinaus zur Apoplexie treibt. Auf die zentrale Frage schließlich, die sich die Autoren stellen, wie der Bürgerkrieg der Massen innerhalb des Empire gegen das weltweite Kapital zum Ausbruch kommen kann, antwortet Negri: durch Volksbewegungen, die von Individuen und Gruppen geführt werden und die den nationalstaatlichen Rahmen hinter sich lassen und auf universelle Bürgerrechte und die Abschaffung der Grenzen zielen. Eine nicht unbekannte Vorstellung, dass alles was das System an Widersprüchen, Krisen, Katastrophen aber auch neuen Subjekten aus sich hervortreibt - von den Migrationsströmen, den Hungerrevolten und Aufständen bis zu den globalen Konzernen, Menschenrechtsaktivisten und NGO's - zur Selbstzerstörung des Empires führt, mit einer vagen Eschatologie zum Kommunismus. Dass die Autoren dabei keinen Heller mehr auf die alten Strategien des Sozialismus und der nationalen Gewerkschaftsbewegungen sowie den sozialen Reformismus geben, ist nicht überraschend und ein allgemeiner Zug des postmodernen Diskurses. Dass sie dann aber mehr auf die "Göttlichkeit der Menge der Armen", die die "Proletarier aufgefressen und verdaut" haben, auf die engel- oder dämongleichen "Vogelfreien" bauen und zu ihrer Errettung in der sicheren Verheißung des Kommunismus auf der letzten Seite 420 ihres opus beim heiligen Franz von Assisi landen, sichert den Autoren zweifellos Kultstatus, den Armen aber kaum eine politische Perspektive.

3. Terrorismus und die neue rule of law.

Lassen wir einmal all den zu Recht mit Spott quittierten anarchistische Befreiungsmystizismus und die aus allen Epochen zusammen gesammelten Theoriebausteine, die das Werk nicht nur schmücken, beiseite und machen wir die Probe auf den analytischen Kern. Danach müsste der Terroranschlag vom 11. September 2001 jener staatenlose Angriff auf das Empire aus der Multitude heraus sein, dieser zwischen "Biomacht" und "Liebe" oszillierenden "Menge" des Widerstandes. Dieser Widerstand ist ebenso global und total wie die Herrschaftsstruktur des Empires selbst, der Auftakt zum Bürgerkrieg aus dem Herzen und mit den Mitteln des Empires und damit die adäquate Form zur Destabilisierung und Destruktion der komplexen Ordnung des Empires. Es ist unklar, ob Hardt und Negri soweit gehen würden. Allerdings fänden sie in der US-Administration einen prominenten Vertreter der Auffassung, dass es sich nicht so sehr um einen Angriff gegen die USA und die Institutionen ihrer unabweislichen Souveränität handelte (der verhinderte dritte Flugzeugangriff galt offensichtlich dem Weißen Haus in Washington), sondern um den unerklärten Krieg gegen das westliche Wertesystem von Freiheit und Demokratie, gegen die Zivilisation - das "Empire" - schlechthin. Passen würden dazu die Art und Modalitäten des Verteidigungskrieges, den die USA am 7. Oktober 2001 gegen den internationalen Terrorismus ausgerufen und dem sie zunächst den Namen "infinite justice", dann aber "enduring freedom" gegeben haben, und der immer noch anhält.

Beide Euphemismen bezeichnen wie alle Propagandabegriffe so ziemlich das Gegenteil dessen, was sie im Namen führen. Sie weisen allerdings auf wesentliche Charakteristika dieses und zukünftiger Kriege hin, die zunächst wie eine Bestätigung des globalen Konzepts des Empire aussehen, aber doch vorwiegend die Züge des alten Imperialismus im Kampf um die immer wieder notwendige Neuaufteilung der Welt tragen. Dieser Krieg ist nicht nur unendlich und andauernd sondern auch grenzenlos. Er ist zeitlich wie auch territorial unbegrenzt, er wird nicht mehr durch Sieg und Niederlage begrenzt, da der Feind nicht mehr örtlich und zeitlich eindeutig fixierbar ist, eine Hydra, der permanent und überall neue Häupter nachwachsen. Diese andauernde Bedrohung ist nicht mehr an die Grenzen des klassischen Nationalstaates gebunden, weswegen deren Souveränität als klassischer Schutz vor Intervention für die neue Art des Verteidigungskrieges keine Rolle mehr spielt. Der permanente Krieg wechselt die Staaten seines Angriffs und interveniert überall dort, wo er Strukturen des Terrors, nachweisbar oder nicht, behauptet. Er stellt somit ganze Regionen - die "Achse des Bösen", die ehemaligen "Schurkenstaaten" - unter die permanente Drohung eines jederzeit realisierbaren Angriffs, um die gewünschten ökonomischen und politischen Konzessionen zu erhalten. Das ist nichts anderes als eine neue Form der Rekolonisierung, die besonders deutlich an den Protektoraten wird, die nach "erfolgreichen" Kriegen wie in Jugoslawien, Makedonien, Afghanistan oder demnächst im Irak eingerichtet werden.

Mit dem Krieg gegen Jugoslawien beginnt sich ein weiteres Charakteristikum des neuen Krieges durchzusetzen, welches an die alten Legitimationsformen des gerechten Krieges anknüpft und bewusst die Erosion der modernen Völkerrechtsordnung betreibt. Welchen Namen auch immer eine militärische Intervention bekommt, der Nachweis ihrer völkerrechtlichen Legitimation als Ausnahme vom absoluten Gewaltverbot des Art. 2 Ziffer 4 UNO-Charta gehört seit der Gründung der Vereinten Nationen zu den Grundbedingungen der internationalen Beziehungen. So fehlt in keiner der außenpolitischen Grundsatzreden die Berufung auf die "rule of law", die internationale Rechtsstaatlichkeit oder das Völkerrecht. Sie findet sich ebenso in der Neuen NATO-Strategie, die dem Nordatlantikpakt im April 1999 definitiv einen neuen offensiven Interventionsauftrag gegeben hat, wie in dem Antrag der deutschen Bundesregierung vom November 2001 auf Entsendung von Kontingenten der Bundeswehr nach Afghanistan zur Einlösung von Schröders "uneingeschränkter Solidarität". Die Anrufung des Völkerrechts gleicht allerdings zunehmend einem Ritual, das versucht, dem militärischen Interventionismus die fehlende Rechtsbasis durch ihre Beschwörung nachzureichen. Die neuen Begründungen entziehen sich wieder den erst seit 1945 mit der UNO-Charta gezogenen engen Grenzen für militärische Gewalt, indem sie die herkömmliche Legalität durch neue Begründungen der Legitimität durchlöchern. Nicht mehr das Gewaltmonopol der UNO (Art. 39/42 UNO-Charta) oder das Verteidigungsrecht (Art. 51 UNO-Charta) definieren die Ausnahmen für militärische Gewalt, sondern die Verhütung "humanitärer Katastrophen" (Jugoslawien), der Schutz vor "internationalem Terrorismus" (Afghanistan etc., NATO-Strategie 1999, Ziffer 21), die Sicherung "lebenswichtiger Ressourcen" (Nato-Strategie 1999, Ziffer 24) oder "präventive Selbstverteidigung" gegenüber der Produktion von Massenvernichtungsmitteln" (US-Verteidigungsminister Rumsfeld: Irak). Die Gefahren sind global, d.h. grenzenlos hinsichtlich ihrer Entstehung und Wirkung, sie bedrohen nicht mehr nur einzelne Staaten, sondern die westliche Wertegemeinschaft. Deshalb darf auch die Reaktion nicht mehr an die herkömmlichen Grenzen der Souveränität nationaler Staaten gebunden werden, sie lösen sich auf unter dem Druck der neuen Krisenszenarien. Ultima ratio der Legitimation ist die Effektivität der Anwendung von Gewalt. Wer gewinnt hat Recht.

Das wiederum ist ganz im Sinne von Hardt und Negri. Nach ihnen intervenieren die "Einsätze der imperialen Maschine ... nicht in unabhängig verfasste Territorien, sondern es sind Maßnahmen einer herrschenden Ordnung der Produktion und Kommunikation innerhalb einer vereinheitlichten Welt" (S. 49). "Der >gerechte Krieg< ist tatsächlich begleitet von >Polizeimoral<; die Geltung des imperialen Rechts und die Legitimität seines Einsatzes hängen ab von der notwendigen und unentwegten Anwendung der Polizeimacht." "Armee und Polizei nehmen Gerichtsentscheidungen vorweg; sie konstituieren Gerechtigkeitsgrundsätze im voraus, die von Gerichten dann anzuwenden sind." "Gegebenenfalls wird eine neue Gerichtsbarkeit zu bilden sein, die der Konstitution des Empire entspricht. Gerichte werden dabei schrittweise verändert: von Organen, die nur Urteile gegen Delinquenten sprechen, zu Körperschaften der Gerichtsbarkeit, die das Verhältnis zwischen moralischer Ordnung, Ausübung von Polizeimaßnahmen und Legitimation imperialer Souveränität diktieren." (S. 52) Welche Sätze könnten den Weg der NATO von der ersten Bombardierung Jugoslawiens bis zum Haager Tribunal oder den Weg der USA von Afghanistan über Guantanamo zu ihren neuen Militärgerichten besser paraphrasieren? Und auch die US-amerikanische Perspektive des "langen Krieges" gegen den Terrorismus spiegelt sich durchaus zutreffend in dem anschließenden Satz: "Diese Art der andauernden Intervention, sowohl auf moralischer wie militärischer Ebene, entspricht einer Logik der Anwendung legitimer Gewalt unter den Bedingungen einer Legitimität, die auf dem Ausnahmezustand und der Polizeimaßnahme in Permanenz beruht. ... In diesem Sinn erweist sich die Intervention mittels Polizeieinsätzen als wirkungsvolles Instrument, das direkt zur Herausbildung der moralischen, normativen und institutionellen Ordnung des Empire beiträgt." (S. 52) Allerdings sollte nicht übersehen werden, dass diese "Polizeieinsätze" wiederum nur ein Euphemismus für Kriege sind, deren Zerstörungen jeder Anspielung auf polizeiliche Ordnungsaufgaben Hohn sprechen.

4. Völkerrecht oder postmoderne Prozeduren?

Wer die Welt als sein Eigentum betrachtet und die Länder zu seinem Vorhof macht, in dem er durch Militär und Regierungszöglinge für Ordnung und Demokratie sorgt, neigt in der Tat dazu, den Ausnahmezustand nach den eigenen Interessen zum Normalzustand zu erklären und die normative Ordnung seines Imperiums an den Erfordernissen der notwendigen "Polizeimaßnahmen" auszurichten. Das ist für Hardt und Negri die unvermeidbare Konsequenz des Empires: "von den Menschenrechten bis zu den Normen des internationalen öffentlichen Rechts - all das verflüchtigt sich mit dem Übergang zum Empire. Das Empire diktiert seine Gesetze und erhält den Frieden gemäß einem Modell postmodernen Rechts und Gesetzes, mit Hilfe beweglicher, fließender und lokalisierter Prozeduren." (S. 362) Wie immer diese postmodernen Prozeduren auch aussehen mögen (Typ Guantanamo oder Jugoslawientribunal?), das Empire ist für die beiden Autoren auf jeden Fall "ein Schritt nach vorn" - hat aber für die Zukunft entgegen ihrer Behauptung fatale Wirkungen. Denn es kehrt den disziplinierenden und begrenzenden Einfluss, den das Völkerrecht auf die ungezügelte Gewalt der internationalen Konflikte haben soll, um und richtet ihn gegen das Recht selbst, welches nun durch die Imperative der Machtpolitik neu definiert werden soll. Der Ruf nach der Reform der UNO und der "Fortentwicklung" des Völkerrechts wird gerade von den Staaten am lautesten vorgetragen, deren globale Ordnungsinteressen sich am stärksten durch die Institutionen der UNO und ihrer Charta eingeengt fühlen. Sie schwanken zwischen der Alternative der vorsätzlichen Missachtung des Völkerrechts und der Alternative seiner exzessiven Interpretation und Deformation - was in den Augen etlicher Beobachter nicht nur die Erosion des Völkerrechts, sondern sogar sein Ende bedeutet.

Es scheint also einiges für die These vom Ende des Völkerrechts, auf jeden Fall aber von der Instrumentalisierung des Völkerrechts durch die USA zu sprechen: "Wie kann man eine Reihe von Techniken Recht nennen (und besonders imperiales Recht), die auf einem permanenten Ausnahmezustand und auf der Polizeimacht gründen, Techniken, die Recht und Gesetz auf Fragen reiner Effektivität reduzieren?" fragen Hardt und Negri (S. 33), um mit Michael Walzer zur alten Lehre des bellum iustum (gerechter Krieg), der seine "Rechtfertigung in sich selbst trägt", zurückzukehren. Die Autoren finden diese neuerliche Rückwendung zur mittelalterlichen Tradition zwar beunruhigend aber mit diesem "Paradigmenwechsel" sei schließlich "anzuerkennen, dass nur eine etablierte Macht, die im Verhältnis zu den Nationalstaaten überdeterminiert und relativ autonom agiert, in der Lage ist, als Mittelpunkt der neuen Weltordnung zu fungieren, sie wirksam zu regulieren und wenn nötig, Zwang anzuwenden." (S. 30). Das postulieren die Intellektuellen des "Institute for American Values" um Huntington, Fukuyama und Etzioni ebenso.(7)

Imperiale Mächte stehen nicht nur mit ihren Rivalen sondern mit der ganzen internationalen Rechtsordnung auf Kriegsfuß. Hegemoniale Herrschaft ist unvereinbar mit dem antihegemonialen Völkerrecht - und die Position der USA wird oft mit der Roms verglichen.(8) Doch hat das römische Reich kaum etwas mit der hegemonialen Stellung der USA gemeinsam. So gefährlich und zerstörerisch imperiale Reiche für die unterworfenen Völker und die internationale Rechtsordnung auch immer waren, der Untergang dieser Reiche war zugleich der Ausgangspunkt zur Fortentwicklung antihegemonialer und antiimperialistischer Rechtsprinzipien in den internationalen Beziehungen. Der aktuelle hegemoniale Völkerrechtsnihilismus der US-Administration trifft daher auf eine ganz andere Völkerrechtsordnung als Rom - die Dialektik von Macht und Recht hat unter den Vorzeichen der UNO und ihrer Charta für den hegemonialen Herrschaftsanspruch weit gefährlichere Züge als in den Epochen zuvor.

Kehren wir zu unserer Ausgangsfrage zurück: Imperialismus oder Empire? Das ist nicht nur ein begrifflicher Dissens, sondern ein Unterschied analytischer Schärfe und politischer Perspektive zugleich. Wenn die Autoren ihre Einschätzung der Rolle der USA im Golfkrieg zu der Behauptung verallgemeinern, dass sie "als Weltpolizist ... nicht im Interesse des Imperialismus, sondern im Interesse des Empire (handeln)" und "dass die USA die einzige Macht waren, die für internationale Gerechtigkeit sorgen konnte, und zwar nicht aus eigenen nationalen Interessen heraus, sondern im Namen des globalen Rechts," (S. 192) so senken sie ihren analytischen Anspruch auf das Niveau regierungsamtlicher Verlautbarungen und verstärken das immer wieder unterdrückte Unbehagen bei der Lektüre zu einer dauernden Grundstimmung. Der Vietnamkrieg lasse sich "als letzter Moment der imperialistischen Tendenz betrachten und damit als Übergangspunkt hin zu einem neuen Verfassungsregime". (S. 190) Heute seien die USA der "Friedenspolizist", von allen "internationalen Organisationen (UNO, internationale Finanzorganisationen, aber auch humanitäre Organisationen)" gebeten, "die zentrale Rolle in einer neuen Weltordnung zu übernehmen." (S. 193). Um zu diesem Ergebnis zu kommen, empfehle ich lieber die Lektüre von Zbigniew Brzezinskis "Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft", der ohne verquaste Postmodernismen und Politiklyrik klar und konkret die Blaupause imperialistischer Geostrategie liefert, deren sich die Bush-Administration jetzt offener als je zuvor bedient.

Fußnoten
  1. John A. Hobson, Imperialism, A Study, London 1902, deutsch: Der Imperialismus, Köln, Berlin, 1970.
  2. W. I. Lenin, Hefte zum Imperialismus. Vorarbeiten zu dem Werk "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus", Berlin (DDR), 1957.
  3. W. I. Lenin, a.a.O., S. 397.
  4. Antonio Negri, Michael Hardt, Empire, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, deutsch: Empire. Die neue Weltordnung, Campus Verlag, Frankfurt a.M., 2001.
  5. Toni Negri, Empire-das höchste Stadium des Kapitalismus, in: Le Monde diplomatique, Januar 2001, deutsche Fassung S. 23.
  6. Toni Negri, a.a.O.
  7. Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. VIII 2002, S. 1.
  8. Vgl. etwa Peter Bender, Das Amerikanische und das Römische Imperium. Ein Vergleich. In: Europa oder Amerika? Zur Zukunft des Westens, Sonderheft Merkur 2002, S. 890 ff.

Editorische Anmerkungen

Der Artikel erschien unter dem Titel "Empire: Postmodernes Recht oder Totengräber des Völkerrechts?" im Septemberheft 2002 der Zeitschrift "Sozialismus" erschienen (S. 45-29). und ist eine Spiegelung von
http://www.uni-kassel.de/fb10/frieden/themen/Voelkerrecht/empire.htm