Krieg 2000
Vorläufige Thesen

von Franz Schandl
09/02
 

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1.
Mit der Relativierung staatlicher Gewaltmonopole im Zeitalter der Globalisierung und dem Aufkommen dezentrierter Gewaltpole (Mafiotisierung), verliert die Kriegführung ihren zwingend nationalstaatlichen und politischen Charakter, auch wenn sie sich nationalistisch auflädt und politisch zu gerieren versucht. Sie wird poststaatlich, postnational, postpolitisch. Der postmoderne Krieg zeichnet sich dadurch aus, daß nicht eine bestimmte Form die andere ablöst, sondern daß allen bisherigen Formen neue zugesetzt werden. Nicht eine Bestimmtheit ist sein Charakteristikum, sondern seine Unbestimmtheit. Alles ist möglich. Keine Wahrscheinlichkeit, die a priori auszuschließen wäre. Kreuzzug nennen wir ihn deshalb, weil er sich stets ideologisch, freedom and democracy-mäßig aufladen muß, um als legitim zu erscheinen. Der Krieg wird zur Strafe.

2.
Politik an ihrem Ende wird umso öfter in gewalttätige Konfrontationen umkippen, je weniger jene mehr wissen kann, was sie tun soll. Krieg meint immer mehr die Kapitulation der diplomatischen oder „friedlichen“ Mittel der Politik, nicht deren Fortsetzung. Der postmoderne Krieg ist der Zersetzung der politischen Form geschuldet. Politik war die sympathischere Variante des Krieges gewesen, weil die Subordination der Objekte doch einem berechenbaren Modus folgte, Angst und Schrecken nicht primären Mittel und Kriterien der Durchsetzung gewesen sind.

3.
Krieg ist dazu da, den alten Frieden durch einen neuen Frieden zu ersetzen. Ob die Kontrahenten mit dem erreichten Frieden zufrieden sind oder nicht, darüber entscheiden in erster Linie Sieg und Niederlage. Krieg ist nichts anderes als die extremste Form des Friedens. In ihm kommt er zu sich über uns. Im konkreten Krieg preßt der jeweilige Frieden sein abstraktes Substrat aus. So unplausibel es auf den ersten Blick erscheinen mag: Nicht die empirische Gegenüberstellung ist hervorzuheben, sondern die eherne Zusammengehörigkeit. Seit der Kalte Krieg vorbei ist, tritt dieser Konnex auch ungeniert zutage. Es gilt auch und nachdrücklich gegen diesen Frieden zu sein.

4.
Krieg und Frieden betonen Aspekte der bisherigen Vorgeschichte, die in dieser allgegenwärtig sind. Das eine ist ohne dem anderen nicht denkbar, was aber auch bedeutet, daß mit der Aufhebung des Krieges auch der Frieden als eigenständige Größe verschwinden wird. Was kommen kann und kommen soll, ist also nicht der Kantsche ewige Frieden, sondern etwas, das jenseits der Achse Friede/Krieg angesiedelt ist. Postkapitalistische Auseinandersetzungen und Konflikte werden ihre Zuspitzungen und Gelassenheiten anders definieren, entwickeln und verwirklichen. Sie sind jenseits von „Schlagt sie tot!“ oder auch „Macht sie fertig!“

5.
Krieg als auch Frieden sind Zivilisation, nicht Natur, d.h. auch der Krieg ist nicht dem Frieden vorgelagert, sondern mit ihm gemeinsam in die Welt gekommen. Erst als die Menschheit sich Ordnungen gegeben hat, konnten überhaupt Krieg und Frieden als Unterscheidungen in Erscheinung treten. Krieg und Frieden sind frühe Ausdifferenzierungen der zweiten Natur. Der Krieg ist ein soziales Phänomen, kein natürlicher Rest oder gar ewiges Schicksal. Der Mensch ist nicht so, wie das der gesunde Menschenverstand immer wieder behauptet, um alle Grausamkeiten zu legitimieren, die geschehen, er ist höchstens so, wie er gerade sein muß, wie ihm seine Koordinaten in Raum und Zeit auferlegen.

6.
Menschenrechte gehen heute zweifellos vor Menschen! Daher liebt man es gar nicht von Krieg zu reden, in Orwellscher Manier spricht man von Strafaktion oder gar von Friedensmission. Denn es können nur Friedensbomben, Friedensgranaten, Friedensraketen sein, die da als zu Metall gewordene westliche Werte auf die Menschen niederkommen. Gerade die Menschenrechte gehören zu den schärfsten Waffen des Nordens und seiner NATO. Entsichert, entfalten sie ihre zivilisatorische Wirkung. In der Anbetung der Menschenrechte übertreffen sich Herrschaft und Opposition in ihrer jeweiligen Gläubigkeit.

7.
Kriegsverbrechen ist ein Terminus, der in perfider Manier den Krieg an sich vom Verbrechen freispricht. Menschen zu vertreiben, sie zu erschlagen, zu vergewaltigen und zu exekutieren, ist folglich ein Kriegsverbrechen; Soldaten in Panzern zu verbrennen, Zivilisten aus dem Schlaf zu bomben, Journalisten in TV-Gebäuden zu zerfetzen, ist hingegen ein legitimer Akt der Durchsetzung westlicher Werte.

8.
Die Beschwörung der Abstammung, einer gemeinsamen Geschichte, die sich als eherne Schicksals- und Charaktergemeinschaft konstruiert, ist die völkische Grundbedingung des Nationalismus. „Edel ist, was Herkunft hat“, sagt Martin Heidegger. Und merkt sogleich an: „Nicht nur sie hat, sondern in der Herkunft seines Wesens weilt.“ Die Nation als besondere Formation verschwindet hinter der Behauptung dieser oder jener Nation als dem sich selbst erhöhenden Spezifikum. Der Krieg ist eines der Lebenselixiere der Nation, nötig zu seiner Selbstbehauptung und Selbstvergewisserung. Nie sind die Nationen so in ihrem Element wie im Krieg. Da können sie sich aneinander reiben, und reiben doch nur die ihnen gehörigen Menschen tot. Zu sich kommend, geraten sie außer sich.

9.
Nationen sind vergänglich, gleiches gilt für die Abstraktion der Nation. Kritische Theorie und emanzipatorische Praxis haben dieser Vergänglichkeit nachzuhelfen. Die völkische Zuordnung muß überwunden werden. Das heißt nicht, daß Menschen in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort nicht bestimmte Eigenheiten haben werden. Aber diese sind dann rational einsichtig, nicht mythisch verklärt; sie bauen nicht auf Abgrenzung, Ausschluß und Vereinnahmung auf. Sie sind ein Kolorit. Die Teilnahme an Gemeinsamkeiten ist nicht staatlich verordnet und national überhöht, sie fordert nicht unbedingte Zugehörigkeit ein, ist keine Gehörigkeit und keine Hörigkeit, sondern eine bloß lose verdichtete Facette in sich überschneidenden Zeit-Raum-Achsen. Dabeisein und Nichtdabeisein ist keine bekennenswerte Eigenschaft, sondern eben einer unmittelbaren Situation geschuldet. Authentizität bedeutet variable Identität.

Editorische Anmerkung:

Die Streifzüge-Redaktion schickte und diesen Artikel im September 2002 zur weiteren Verbreitung.

STREIFZÜGE 1998-2002

3/1998:
Franz Schandl, Jagt die Spekulanten! Schlagt sie tot!
Peter Schuck, Überlegungen zum Verhältnis von Theorie und Praxis
Norbert Trenkle, Was ist der Wert? Was soll die Krise?
Karl Reitter, Die Abstraktion auf der Anklagebank? Zu Gruber
Gerold Wallner, Demokratie und Schöpfertum sind durchgesetzt Zu Lehner
Stephan Grigat, Antinationale Kritik und utopischer Positivismus. Zu Schlesiger
Franz Schandl, To give and to take. Thesen zur Metakritik des Tauschs

2/1999:
Gerhard Scheit, Albaner auf Schindlers Liste
Franz Schandl, Morden darf nur der Norden
Ernst Lohoff, Der Bock ist nicht der Gärtner
Roswitha Scholz, Wert und Geschlechterverhältnis
Franz Schandl, Was Wert ist. Zu Heinrich
Stephan Grigat, Nationalismus und Öcalan
Stephan Grigat, Was bleibt von Georg Lukacs?
Gerhard Scheit/Franz Schandl, Freiheitliche Sirenen. 1. Lieferung

3/1999:
Franz Schandl, Wir wählen, wen wir wollen
Ilse Bindseil, Weiblichkeit - Dialektik eines negativen Begriffs
Gerhard Scheit, Kapital ohne Zins - Die Utopie der Moderne
Robert Zöchling, Restöffentlichkeiten: Bitte sammeln!
Stephan Grigat, Materialien zum Nachschlagmarxismus
Gerhard Scheit/Franz Schandl, Freiheitliche Sirenen 2. Lieferung

4/1999
Robert Kurz, Die Enteignung der Zeit
Gerhard Scheit, Versuch über Musik und abstrakte Zeit
Stephan Grigat, Marx und die Volkswirtschaft
Franz Schandl, Populismus gleich Demokratismus
Franz Schandl/Gerhard Schattauer, Zur Typologie der Bürgerinitiative
Gerhard Scheit/Franz Schandl, Freiheitliche Sirenen 3. Lieferung

1/2000
Gerhard Scheit/Franz Schandl, Freiheitliche Sirenen 4. Lieferung
Franz Schandl, Appellatives zur Problematik emanzipatorischer Kommunikation
Stephan Grigat, Was bleibt von Johannes Agnoli?
Franz Schandl, Kurswechsel am sinkenden Schiff. Zum Staat
Alexander Gruber/Tobias Ofenbauer, Fun and Function?
Norbert Trenkle, Weil nicht sein kann, was nicht sein darf...Zu Heinrich
Stephan Grigat, Originalmarx und Einführungsmarx
Franz Schandl, Ihr und wir

2/2000
Stephan Grigat, Robert Kurz' "Schwarzbuch Kapitalismus"
Michael Heinrich, Neues vom Weltuntergang? Zu Trenkle
Franz Schandl, Bewegungsversuche auf Glatteis. Zu Theorie und Praxis
Gerhard Scheit, Poststrukturalismus und Kritische Theorie
Franz Schandl, Krieg 2000. Vorläufige Thesen
Ernst Lohoff, Deutschland ist überall. Zu den "Freiheitlichen Sirenen"

3/2000
Peter Pirker, Un-heimliche Verwandtschaft. Zur Zivilgesellschaft
Claus Peter Ortlieb, Gesellschaftskritik als Erkenntniskritik
Gerhard Scheit, Was zu beweisen ist
Stephan Grigat, Positive Postpolitik. Zu Schandl
ISF, Historisierung der Wertkritik: Normalisierung der Geschichte
Franz Schandl, Der Führer, die Show, das Publikum. Zu Ottomeyer
Norbert Trenkle, Im bürgerlichen Himmel der Zirkulation. Zu Heinrich
Stephan Grigat, Kritik statt Habermas, Marx statt Marxismus

4/2000
Gerhard Scheit, Totalität und Krise des Kapitals
Robert Kurz, Wer ist totalitär?
Franz Schandl, Präpotenz der Ohnmacht. Zu Grigat
Alex Gruber, Nichts als Verwertbarkeit
Cordula Behrens-Naddaf/Klaus Thörner, "Menschenrecht bricht Staatsrecht"

1/2001
Franz Schandl, Die Verunglückungen des Komparativs. Zum Stau
Christian Fuchs, Die IdiotInnen des Kapitals. „Freie“ Softwareproduktion...
Thomas König/Florian Markl, Totalität und Gesellschaftskritik
Gerhard Scheit, Der Hüter der Theorie
Karl Reitter, Das Elend der Zivilgesellschaft

2/2001
Stephan Grigat, Postfaschismus als Begriff der Kritik
Ulrich Enderwitz, der postfaschistische Sozialpakt
Uli Krug, Vom Korporatismus zum schlanken Faschismus
Heribert Schiedel, Gemeinschaftsbildung und Verfolgungswahn
Simone D. Hartmann, Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm
Alex Gruber/Tobias Ofenbauer, was bleibt von Eugen Paschukanis?
Stefan Meretz, Produktivkraftentwicklung und Aufhebung

3/2001
Franz Schandl, The road to nowhere
Robert Kurz, Der Todestrieb der kapitalistischen Vernunft
Lorenz Glatz, Paranoia gegen Paranoia
Ernst Lohoff, Allmacht und Ohnmacht
Anselm Jappe, Der Kampf der Barbarien
Karl Reitter, „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“
Karl-Heinz Wedel, Freiheit und Zerstörung
Gerold Wallner, Dieu reconnatra les siens
Robert Kurz, Mujahidin des Wert
Roswitha Scholz, Identitätslogik und Kapitalismuskritik
Amir Assadi, Wertkritik contra Wirtschaftsbarbarei
Robert Kurz, Fanta auf Lebenszeit
Ernst Lohoff, Alles auf Kursk
Anselm Jappe, Es gibt noch gute Deutsche
Holger Schatz, Angriff der Glücksritter
Erklärungen des Kritischen Kreises und des Cafe Critque zum Bruch
Franz Schandl, Manisch germanisch
Extra: Das kleine Adorare

1/2002
Lorenz Glatz, Afghanistan: „Kein krieg um Öl“
Gerold Wallner, Schmähohne! Zum Antisemitismus
Robert Kurz, Geld und Antisemitismus
Thomas Schmidinger, Islamischer Antisemitismus?
Bernhard Schmid, Schlagt den Moslem, wo ihr ihn trefft?
Ernst Lohoff, Von Auschwitz nach Bagdad (1991)
Ilse Bindseil, Auschwitz und Wahnwitz
Ilse Bindseil, Anmerkungen zu G.Scheit „Kosovo und Auschwitz“
Franz Schandl, Auf dem Minenfeld
Heinz Blaha, „Leben im Sterben“
Anselm Jappe, Wegbereiter der Wertkritik: Roman Rosdolsky
Christoph Hesse, Neue Medien, alte Scheiße
Sabine Nuss/Michael Heinrich, Freie Software und Kapitalismus

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