Über Intoleranz und den alltäglichen Rassismus (TEIL II)

von Dietmar Kesten, Gelsenkirchen, September 2002.
09/02
 

trend
onlinezeitung
Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat 610610 Postfach 10937 Berlin

Schnell, allzu schnell sucht die Soziologie, die Psychologie oder die empirische Sozialforschung mit Erklärungsthesen über 'Gefühle’ der Verantwortlichkeit', Schutz vor ihrem eigenen Dilemma; denn wer eine 'kalte' Gesellschaft nicht als solche zu definieren vermag, der kann auch die 'bystander-Phänomene' nicht mehr erklären. Läuft alles tatsächlich nur auf 'situative', 'individuelle' oder 'gruppenpsychologische Faktoren' hinaus, die Menschen zum wegsehen oder helfen animiert?

Die Gesellschaft der Modeme stürzt sich in eine neuzeitliche Verrohung. Das Partikulare scheint über das Allgemeine zu siegen. Die Warner haben recht behalten: David Riesmann (5) mit seiner
'Einsamen Masse', Stanley Milgram (6) mit seinen Experimenten. Natürlich auch Konrad Lorenz (7)mit seinen Ergebnissen über 'Das sogenannte Böse'.  Verwiesen werden muss natürlich auch auf Erich Fromm (8) und seiner Warnung hinsichtlich des Bröckelns des 'sozialen Kitts', oder auf eben jenen Alexander Mitscherlich (9), der seine These der Gesellschaft der 'Einsiedlerkrebse' heute bestätigt sehen würde.

Das ist das tiefsitzende Unbehagen an unserer Zeit. Wir haben den öffentlichen Raum des Gedankenaustausches über unsere Wesensbestimmung längst preisgegeben. Wer sind wir vor diesem Hintergrund eigentlich noch? Der Zugang zum Bewusstseins über das Unrecht, Gefahren-
situationen vorauszusehen, hängt engstens mit dem Erinnern über Gewalt und Elend zusammen.
Ein Staat, der zur Zwangsgemeinschaft animiert, ruft täglich neue Spannungen hervor, die sich unter den Verlierern dieser Entwicklung niederschlagen?  Diese kulturelle Verunsicherung der gesellschaftlichen Umbrüche kulminiert in einem moralischen Grobdesign und  wird zum Verzehr für jedermann herangeschoben. Was kümmern uns andere Menschen, der Drogenabhängige,
der Asylant, der politisch Verfolgte, der Arbeitslose, solange  wir nicht selbst davon betroffen sind? Sie sind alle selbst Schuld an ihrem Elend. Ist es nicht so? Ist  es bereits wieder soweit, dass wir gegen diese Verlogenheit und schleichenden Werteverlust nicht ankämpfen wollen? Ist der Arbeitslose wirklich Schuld an seinem Elend?  Wenn das so wäre, dann müsste diese Gesellschaft nur noch aus ewigen Schuldigen bestehen. Wer sind dann die, die keine Schuld
auf sich geladen haben? Die Freudsche Wiederkehr des Verdrängten schwindelt sich  von Episode zu Episode, wobei die Fortsetzung bereits auf dem  Fusse folgt.  Heute braucht man nur ein kaltes Stück Realität zu nehmen, sogenannte 'schwierige' Verhältnisse, einen 'einmaligen' Ausrutscher und schon ist das Schubladendenken perfekt.  Es reicht bereits aus, in einer geselligen Runde 'Schwarzbraun ist ist die Haselnuss' zu singen, und schon kann man als rechtslastig denunziert werden. Drohgebärden und fadenscheinige Beschuldigungen nehmen kein Ende. Das hat auch viel mit der Zerstörung eigener Illusionen zu tun. Es sind jene 'geheimnisvollen' Elemente, die zwar nicht näher definiert werden, jedoch jegliches 'soziale Gefüge' zu zerstören scheinen. Es ist die Plötzlichkeit des Phänomens, die den Wiedereintritt in negatives geschichtliches Denken hervorrufen.

Die Authentizität eines jeden anderen Lebens wird umso mehr in Frage gestellt, wenn es um die eigene hohe Blendungskraft geht.Da verschwindet der zu verhandelbare Casus schnell, meist blitzschnell und hinterlässt bestenfalls eine vage Erinnerungsspur.  Der Nachbarschafts-Sheriff, die alten Museumswärter, die die Hinterlassenschaften des maroden und dekadenten Weltsystems verteidigen, sind schnell gefunden: Seilschaften ohne Ende. Da weiss auf einmal wieder jemand, was möglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen erscheint, welche Ansprüche erlaubt sind, welchen Erwartungen Einhalt geboten wer-den muss, wenn sie drohen, über das Ziel hinauszuschießen.

Es ist die Hierarchie der Unordnung, in die wir fast zwangsläufig geraten sind. Wir haben keine Zeit mehr für die Menschen und die Dinge, die uns mal wichtig waren, etwas neues gibt es nicht mehr. Wir improvisieren nur noch und schaffen uns eine neue Rangordnung, in der sich alle Vorurteile sammeln, von denen wir bisher meinten, wir hätten sie bereits ablegt und/oder durch unser tägliches Miteinander widerlegt. Um am Ende steht der ‚Deus ex machina’ wieder auf einem Berg und überblickt sein Land. Uns ist die individuelle Sittlichkeit abhanden gekommen. Die
gesellschaftliche Aufdringlichkeit ertragen wir routiniert und ohne  den Blick für die Leiden der Mitmenschen. Das ist die Kausalkette, die ein mitmenschliches Neben- und Miteinander ausschließt, innerhalb derer wir auch nicht mehr unter scheiden können, was schlechtes Benehmen und was Kriminalität ist.  Schlechtes Benehmen hat sehr viel mit Erziehung zu tun, allerdings Kriminalität auch. Vieles davon in unserem Denken und  Handeln ist Bequemlichkeit und Gleichgültigkeit geworden. Scheinbar gibt es für uns die 'good-will' Maßstäbe nicht mehr.
Da, wo jede Toleranz endet, ist auch die körperliche Integrität bedroht, die selbst an den entscheidenden Knackpunkten keinerlei Einsicht mehr hervorzubringen vermag.

Wo das Wertegefühl erodiert, die Menschen zum Wegschauen animiert werden, nicht ihre Blicke auf die gesellschaftlichen Skandale, auf den Vandalismus in den (U-)Bahnen, den Bussen, den
(mutwilligen) Zerstörungen bei ‚Chaostagen’ oder vermummter  ‚Autonomer’ bei gewalttätigen Demonstrationen gegen ‚Staat und Polizei’ lenken, auf pöbelnde und anspuckende Bierkonsumenten in den Fußgängerzonen, auf aufdringliche Bettler, nicht aufschauen, wenn vor aller Augen Kids anderen Kids wegen Nichtigkeiten Prügel androhen, sie berauben und  zusammenschlagen, wenn nicht zu ertragende Walkmann-Musik  in den S- Bahnen jede vernünftige Unterhaltung von vornherein unmöglich machen, wenn jede Hemmschwelle sinkt und die Unversehrtheit des eigenen Lebens zur Farce mutiert, dann ist  der Punkt erreicht, wo uns das Gefühl der Verantwortlichkeit verlässt und unser Eingreifen ein beschämendes Niveau erreicht.
Die alltägliche Intoleranz ist die der Passivität, des Ignorierens jeglicher Hilfsbereitschaft, dem verlassen sein von jeglichen Werten.

Davon kann z. B. jeder Mietbewohner eines Hauses berichten: überall Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, die minimale Regeln des Wohnens unter einem Dach ignorieren und/oder nicht bereit sind, Einsicht zu üben, wenn es darum geht, Gruppenzugehörigkeit zu demonstrieren, und gegen die Auswüchse der Kälte des Geistes und der Disharmonie im mitmenschlichen Miteinander anzukämpfen. Wollen wir nicht alle nur noch unsere Ruhe, Fun und die Glotze, Einkaufparks und Vergnügungszentren, in denen die Menschen einen Grossteil ihres Lebens zubringen, den besagten Frieden?  Wer ist bereit, dem Querulantentum ein Ende zu bereiten, der Intrige, der Unwahrheit? Der eine behauptet das, der andere jenes,  nur um Recht zu behalten und im alltäglichen Überlebenskampf die Nase vorn zu haben.  Und ist nicht oft ein sog. 'ehrenhaftes Haus' der Stolperstein für all die unsagbar psychischen Schmerzen, denen Mitbewohner ausge-setzt sind und die ihnen von uns zugefügt werden?  Die 'Verwilderung der Großstädte', Alexander Mitscherlich sprach von der 'Unwirtlichkeit der Städte', die Wesensart der Großstadt, Trabantenbauten, ihre Unübersichtlichkeit, ihre Anonymität, die Bevölkerungsdichte, hohe Arbeitslosigkeit, Wertgesellschaft und Globali sierung u. v. a. m., kann kein Grund dafür sein, dass wir dabeistehenund zu selbstsüchtigen Deppen werden.

Was haben wir verlernt?

Die kunterbunte Vielfalt in den Hautfarben, die Sprache, Kleidung und Haarschnitt, die Pluralisierung der Lebensstile nicht ertragen zu können? Setzt nicht gerade hier die moderne Form der Intoleranz an, die der allgemein zu beobachtenden Verunsicherung gegenüber all
dem, was uns fremd erscheint, nicht in unser Schubladendenken  passt? Entspricht der sogenannte ‚schlechte Geschmack’, den der Philosoph Günther Anders (10) als ‚Desorientiertheit und Verzweifelung des Individuums’ bezeichnet hat, nicht unserer  eigenen Lebensweise?
Die schrecklichste aller zu beobachtenden Intoleranzen ist die der gesellschaftlich Benachteiligten, der Armen, die leider die Opfer der Andersartigkeit geworden sind. Die gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse sind es, die genau an diesem Punkt
tausendfache Intoleranz hervorbringen. Intoleranz und Rassismus, Integralismus, Fundamentalismus, Nationalismus, Traditionalismus und Konservatismus gehören  daher aufs innigste zusammen. Letztlich auch deswegen, weil so Rassenlehren und damit auch alle anderen Formen der Boshaftigkeit, worunter auch die Intoleranz fällt, produziert werden.

Die schreckensvollste Seite, die der
Fanatismus jeder Art darbietet, ist die Intoleranz.’
(Friedrich v. Gentz)

Anmerkungen:

(5) David Riesmann, amerikanischer Soziologe. In seinem  Hauptwerk ‚Die Einsame Masse’ (1958) stellte er u. a. die These von dem ‚gleichgültigen Menschen’ auf, der sich allen jeweils herrschenden Meinungen anzupassen weiss.

(6) Stanley Milgram, amerikanischer Sozialpsychologe.  In seinem Buch ‚Das Milgram Experiment. Zur Gehorsamkeit gegenüber Autorität’ (Hamburg 1974) stellte er die These auf,
dass drei Viertel der Durchschnittsbevölkerung durch  pseudowissenschaftliche Autoritäten dazu gebracht werden können, in bedingungslosem Gehorsam einen ihnen völlig  unbekannten, unschuldigen Menschen zu quälen, zu foltern, ja zu liquidieren.

(7) Vgl. etwa Konrad Lorenz: ‚Das sogenannte Böse. Zur Naturgeschichte der Aggression’, Wien 1968. Lorenz behauptete u. a. dass der lebenserhaltende Instinkt des Menschen sein  Aggressionstrieb sei. Dieser würde in die Selbstvernichtung einmünden.

(8) Erich Fromm, deutscher Humanwissenschaftler (1900-1980). In  seinem Buch ‚Über die Anatomie der menschlichen Destruktivität’ (Frankfurt M.1973), charakterisierte er die Postmoderne als ‚Geistesgestört’ und den Menschen als ‚fremdgesteuert’.

(9) Alexander Mitscherlich (1908-1982), Psychoanalytiker und Sozialpsychologe. Mitscherlich schrieb u. a. ‚Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft’ (1963); ‚Die Unfähigkeit zu trauern’ (1967). In seinem Buch ‚Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft’, charakterisierte er die gesellschaftlichen Lebensverhältnisse der Menschen u. a. als vom ‚blinden Gehorsam’ getrieben, der die Individuen untereinander zu ‚asozialem Verhalten’ verzahnt.

(10) Günther Anders: Philosoph (1902-1992). Vgl. auch den Abriss über  Anders in ‚Streifzüge’ 2/2002 von Franz Schandl ‚Der Meldereiter: Über Günther Anders’.
 

Editorische Anmerkung:

Der Autor schickte uns den 2. Teil seines Artikel im August 2002 mit der Bitte um Veröffentlichung. In der letzten Ausgabe schrieb er über Hollywood und der Krieg.

Dietmar Kesten schrieb früher regelmäßig für den trend und Partisan.net. Hier eine Auswahl aus seinen bisherigen Veröffentlichungen:

ASPEKTE DER ENDZEITLICHEN KRISENPHILOSOPHIE

Das "Bündnis für Arbeit"
Eine auf dem Kopf stehende Pyramide

Kommentare & Exkurse zum Kosovo-Krieg 1999