Der Fall der T‑Aktie – Ein lehrreiches Schelmenstück über den "kleinen Mann", das Aktienkapital und die große Politik

von Red. Gegenstandpunkt

09/02
 

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Die Bundesregierung hat vor ein paar Jahren über die Hälfte ihrer Deutschen Telekom verkauft; davon einen nicht unerheblichen Anteil ans einfache Volk der Arbeiter, Angestellten und Freiberufler, die bis dato ihre angesparten Rücklagen nicht an der Börse aufs Spiel setzten. Mit großem Werbeaufwand wurde dem gutgläubigen Volk weisgemacht, eine Aktie sei ungefähr das gleiche wie ein Sparbuch, bloß mit größerer Rendite. Seit einigen Monaten liegt dieser Schwindel nun auf dem Tisch – und womit tröstet die Regierung die um ihre Rücklagen gebrachten Bürger? – Mit einem Personalwechsel. Das passt vorzüglich in den Wahlkampf und gehorcht seinen Gesetzen: Andere Personen sollen für die Kontinuität der politischen Gewalt über das kapitalistische Geschäft sorgen. Allerdings hat die Kontinuität des Geschäfts die Eigenart, dass Zeiten hoher Gewinne von Zeiten der Krise abgelöst werden. Und dieses Auf und Ab der Konjunktur spiegelt sich im Auf und Ab der Aktienkurse. Aktien sorgen im Boom oder – wie die Börsianer sagen – in der Hausse für Riesengewinne und in der Baisse auch mal für einen totalen Verlust. Irgendwie ist das auch bei denen, die von Arbeitseinkommen leben, nicht unbekannt, weshalb sie bis vor wenigen Jahren meist die Finger von Aktien gelassen hatten. Wie konnte es nur dazu kommen, dass Millionen normaler Menschen ihr Misstrauen in die Börsenzockerei abgelegt haben und sie mit einer besonders gelungen Form von Altersvorsorge verwechselten?

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Der Bund wollte das Fernmeldewesen, das er bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts als Staatsunternehmen Bundespost betrieb, in ein kapitalistisches Unternehmen verwandeln. Über hundert Jahre lang praktizierte der Staat den Standpunkt, dass Telephonieren und Telegraphieren (ähnlich wie Post und Eisenbahn) Voraussetzungen dafür sind, dass überall im Land kapitalistische Geschäfte laufen. Unabhängig davon, ob sich diese Infrastrukturen landesweit profitabel betreiben ließen, sorgte er dafür, dass sie überall zur Verfügung standen. Ihren Auf- und Ausbau finanzierte er teils aus dem allgemeinen Steueraufkommen, teils aus staatlich verbürgten Anleihen. Die Betriebskosten deckte er mit Gebühren, deren Höhe er nach politischen, nicht nach geschäftlichen Kriterien festlegte. Sie waren daher auch nicht unbedingt darauf berechnet, die Infrastruktur-Investitionen nach geschäftsmäßigen Kriterien zu amortisieren.

Mit der Privatisierung wollte der Staat mit der Deutschen Post AG und der Deutschen Telekom AG seinen bisher unproduktiven Dienstleistungsbetrieb Deutsche Bundespost, deren Anleihen seine Staatsschuld vermehrten, zu schlagkräftigen kapitalistischen Unternehmen machen, die von deutschem Boden aus weltweit profitable Geschäfte betreiben und damit dem Standort Deutschland nutzen. Für diese Verwandlung musste er allerdings eine Vielzahl von Leuten dazu bringen, statt wie früher niedrig, aber fest verzinsliche Post- u.a. ‑Anleihen die Aktien der neuen Aktiengesellschaften zu kaufen. Und dafür entdeckte er neben der Kundschaft, die immer schon Geld übrig hatte, um es an der Börse unterzubringen, Leute, die bestenfalls vorübergehend Geld übrig haben.

Die Massen sollten Aktien kaufen, und damit sie das taten, machte man ihnen den Kauf derselben als eine Abwandlung des Umgangs mit Geld schmackhaft, den sie aus ihren Lebensumständen kennen: Sie sind dazu gezwungen und haben sich daran gewöhnt, für größere Anschaffungen und für unvorhergesehene, aber vorhersehbare Lebensrisiken einen Teil ihres Lohns zu sparen. Für die Zeit, in der diese Guthaben bei Banken und Sparkassen angelegt werden, bekommen sie fest vereinbarte, dafür allerdings ziemlich niedrige Zinsen. Die sind in der Regel nur wenig höher als die Inflationsrate, dafür aber sicher. Was solche Leute vorübergehend in Sparbüchern, Sparbriefen und sog. Rentenpapieren anlegen, ist für irgendeinen künftigen Verbrauchszweck bestimmt. Im Unterschied zu den Leuten, die ihr Einkommen überwiegend aus Kapitalanlagen beziehen und dafür ihr Geld dauerhaft in Unternehmen stecken oder an Unternehmen und Staaten ausleihen, müssen Sparbuchbesitzer ihr Geld früher oder später wieder abheben und für Konsumzwecke ausgeben.

Wie brachte man nun solche Leute dazu, sich Aktien zu kaufen, obwohl sie im Allgemeinen wissen, dass solche Papiere mal mehr mal weniger wert sind, mal höhere, mal niedrigere, manchmal sogar überhaupt keine Dividenden abwerfen? Man musste sie glauben machen, dass Telekom-Aktien ungefähr dasselbe sind wie Sparbriefe. Also genauso sicher, aber viel rentabler. 

Nun ist eine Aktie aber keine Sparsumme, die Zinsen abwirft. Das Geld, das für sie hinzulegen ist, kassiert die Aktiengesellschaft und sie zahlt es – im Unterschied zu einer Anleihe – nie wieder zurück. Der zweite Unterschied einer Aktie zum Sparbrief besteht darin, dass man für letzteren einen fest vereinbarten Zins bekommt unabhängig davon, ob der Schuldner – in diesem Fall eine Bank oder Sparkasse – gute oder schlechte Geschäfte macht. Mit dem Kauf einer Aktie dagegen bekommt man nur ein Anrecht auf einen Teil des Gewinns, sofern die Firma einen macht. Und selbst wenn die AG schwarze Zahlen schreibt, steht damit noch lange nicht fest, wie hoch der Teil der Gewinne ist, der als Dividenden ausgeschüttet wird. Fest steht nur eines: Sobald Dividenden gezahlt werden, fällt davon auf die einzelne Aktie der Anteil, der ihr im Verhältnis zur Gesamtzahl aller Aktien einer AG zusteht. Der dritte Unterschied der Aktie zu einem festverzinslichen Papier oder Sparbuch ist also: Was eine Aktie ihrem Besitzer als Ertrag einbringt, hängt davon ab, wie hoch die Gewinne der AG in der Zukunft sind. Das ist die Basis einer Spekulation, bei der es auf die Dividende nicht mehr als zu erzielenden Ertrag, sondern nur in ihrer Eigenschaft als Indikator der vermutlichen Kursentwicklung der Papiere ankommt. Wer an der Börse Aktien an- und verkauft, will nicht die vergleichsweise kleinen Zuwächse aus der Dividendenausschüttung kassieren, sondern an den Schwankungen der Kurse dieser Papiere verdienen. [Näheres dazu kann man nachlesen in GegenStandpunkt 2‑95, S. 24 ff.: ”Geschäfte mit Optionen und Futures – Spekulation auf die Spekulation. Für unseren Zweck hier genügt es festzuhalten:] Der Preis einer Aktie hängt also davon ab, wie die Käufer die künftige Ertragskraft eines Unternehmens einschätzen. Glauben sie, dass es seine Beschäftigten erfolgreich ausbeutet und auf dem Markt gute Geschäfte macht, dann wollen sie dessen Aktien haben und sind bereit, den Preis zu bezahlen, den der aktuelle Aktienbesitzer für den Verlust seines Dividendenrechts verlangt. Sieht die Geschäftslage – nicht nur der einzelnen AG, sondern der gesamten Wirtschaft – eher düster aus, dann wollen die Aktienbesitzer das Papier loshaben. Sein Preis sinkt auf ein Niveau, bei dem es anderen Geldbesitzer wieder lu­krativ scheint, in die billige Aktie einzusteigen.

Daraus folgt, dass Menschen, die ihr Geld früher oder später für eine Anschaffung oder für ihren Lebensunterhalt im Alter brauchen, mit Aktien schlecht beraten sind. Den Zeitpunkt, an dem sie ihre Reserven brauchen, z. B. den Eintritt des Rentenalters, können sie nämlich nicht davon abhängig machen, ob an der Börse gerade Hausse oder Baisse ist.

An dieser Aufklärung konnte einem Unternehmen freilich nicht gelegen sein, das ein Volk dazu stimulieren wollte, seine Spargroschen herzugeben, um Aktionär des eigenen Ladens zu werden. Dem präsentierte vielmehr Manfred Krug im Fernsehen eine marktwirtschaftliche Milchmädchenrechnung: Der Erwerb eines bloßen Rechtstitels auf einen möglichen Anteil an einem möglichen Geschäftserfolg wurde als ebenso raffinierte wie grundsolide Methode zur Geldvermehrung vorgestellt: Am Geschäftserfolg der Telekom sollte kein Zweifel bestehen können, weil sie sich in einer “Zukunftsbranche mit hohem Wachstumspotential” tummelt. Wachstum in Geldform, das ja gegen die Konkurrenz erst einmal erkämpft werden muss, wurde also als schon ganz sicher erkämpft vorgestellt. Damit stand das Mitverdienen eines jeden Aktionärs ganz außer Frage. Es wurde überhaupt kein Zweifel daran zugelassen, dass alles Geld, das die Telekom den Bürgern abnehmen würde, sich umgehend in ”Wachstum” verwandeln würde. Schließlich würde sie sich beim Kampf gegen ihre neuen Konkurrenten auf dem liberalisierten Telekommunikationsmarkt ganz auf den weiteren staatlichen Schutzdienst an ihrer Monopolstellung verlassen können – auch das kam als wirtschaftliche Erfolgsgarantie des Unternehmens daher, Dividende inklusive. Der Sache nach teilte sie ihren Kunden zwar nur mit, dass die mit ihren reichlichen Gebührenzahlungen wie bisher den Umsatz der Firma positiv saldieren sollten; eröffnet wurde ihnen aber die bestechende Perspektive, selbst ein wenig am Reibach teilzuhaben, den die Telekom mit ihnen macht. Die Aktie, die sie kaufen konnten und sollten, würde es möglich machen.

Skeptiker, ob der von der alten Bundespost ererbte ”untragbar hohe Personalstand” nicht als Wachstumsbremse wirken würde, wurden beruhigt: Er würde um ein Viertel reduziert, damit der verbleibende Rest ein höher gestecktes ”Wachstumsziel” erreiche – was in Sachen ”Innovationsfähigkeit”, die bekanntlich die Dividenden sichert, keine Wünsche mehr offen ließ. Zwar gehörten die derart Umworbenen zum größten Teil selbst zu denen, die als Quelle des Wachstums auch der Telekom namhaft gemacht wurden. Es waren auch dieselben, die die einschlägigen Maßnahmen zur Pflege des Personalstands ausschließlich als Betroffene kennen, als Verlust ihres Arbeitsplatzes und damit ihrer einzigen Verdienstquelle; aber als Aktionär der “Volksaktie” hieß es da eben umzudenken und der ”Rationalisierung” gutes Gelingen zu wünschen: Die Aktie fürs Volk würde es möglich machen, dass die von ”Rationalisierung” Betroffenen glatt noch an dem Geschäftserfolg partizipieren, der sich über ihre Außerdienststellung vermehrt einfindet ...

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Offenbar nicht wenige Leute, die bis vor wenigen Jahren mangels Überschuss an Geld glaubten, dass sie an der Börse nichts verloren hätten, hörten genau heraus, was sie hören sollten: Ihr für allfällige Notlagen Zusammengespartes in Aktien zu verwandeln, ist ziemlich einfach, eine sichere Sache und zahlt sich aus. Da macht man irgendwann der Bank eine Überweisung, und schon ist man ”hineingegangen”, in die Aktien; das bisschen Gebühren für die netten Banker spürt man kaum. Pünktlich zum Ende des Geschäftsjahres kommen die Dividenden aufs Konto; wenn der ”Kurs” günstig ist, und wenn man überhaupt schnell mal Bares braucht, geht man schon vorher wieder ”hinaus”, aus den Aktien, und landet prompt mit einem dicken Plus im alten Portfolio; falls man ausreichend eingekauft hat, weil sonst die Bankgebühren den ”Kursgewinn” doch merklich schmälern. Günstig, günstig, genau betrachtet geradezu ein Schnäppchen; ein kleines Risiko mag es geben, aber wenn der künftige Aktionär so schlau ist, wie er in der T‑Aktien-Werbung gebauchpinselt wurde, und sich daher nichts vormachen lässt, konnte doch einfach nichts passieren! – Ist aber im Frühsommer 2002 doch passiert: Der Kurs der T‑Aktie ist unter den Ausgabekurs gefallen. Der Notgroschen der Neuaktionäre hat sich somit zum Teil in Luft aufgelöst.

Betrug?

         Einerseits nein. Denn die Aktie ist eben kein Sparbuch mit garantierter Verzinsung, sondern nur ein Rechtstitel auf Teilhabe am künftigen Gewinn einer AG, und die Erwartung darauf spiegelt sich im Aktienkurs. Steht es mit der Aussicht auf Gewinne schlecht, dann werden Aktienbesitzer skeptisch und wollen ihre Papiere loswerden. Diejenigen, die das als erste tun, realisieren vielleicht noch einen Spekulationsgewinn. Wer aber seine Aktien behält, weil er auf Kurserholung hofft, kann jeden Tag dem Börsenzettel entnehmen, um wie viel Euro er ärmer geworden ist.

         Andererseits im Fall der T‑Aktie vielleicht doch ein bisschen. Schließlich war das Volk – einzeln betrachtet ewige Habenichtse, Telefongebührenzahler, zusammengenommen aber überraschend vermögend – in Sachen Aktien ziemlich ahnungslos, also für Vertrauenswerbung wie geschaffen. Und Banken, Schauspieler und Gaukler aus allen öffentlich-rechtlichen Abteilungen haben ja auch etliches getan, um den Unterschied zwischen dem guten alten Sparbuch mit gesetzlicher Kündigungsfrist und T‑Aktien zum Verschwinden zu bringen.

Auf jeden Fall ein Exempel für die Gemeinheit demokratischer Politiker in ihrem Dienst am Kapital: Als Ron Sommer beim Börsengang behauptete, "die T-Aktie wird so sicher wie eine vereinbarte Zusatzrente sein", fiel niemandem unter den Freunden des "Kleinen Mannes" in Regierung und Opposition auf, dass hier "auf dem Rücken des Kleinaktionärs" (Angela Merkel in der SZ) herumgetrampelt wurde.

Und was ändert sich durch Sommers Rücktritt für diejenigen, welche die Telekom-Aktie auf Grund der monatelangen Propaganda mit einem lukrativeren Sparbuch verwechselt haben? Selbst wenn sich der Kurs wieder ”erholt”, sind sie einen Teil ihrer Rücklagen los, wenn sie sie auf absehbare Zeit brauchen. Sie dürfen sich jetzt dafür eine neue Meinung zum Spekulieren bilden (lassen): Liegt der Kursverfall an Ron Sommers ”verfehlter” Expansionspolitik? Oder liegt es daran, dass der Staat noch zu viel mitredet? Hat der Kanzler ein schlechtes ”Krisenmanagement” hingelegt? Oder hätte er sich ganz heraushalten sollen? Hat sich Stoiber unglaubwürdig gemacht, weil er zuerst in der BILD-Debatte vom Kanzler verlangt hatte, in die Telekom-Querelen einzugreifen, und jetzt durch seinen Adlatus Glos und CDU-Generalsekretär verlauten lässt, die Politik hätte sich gefälligst aus wirtschaftlichen Entscheidungen herauszuhalten? Jedenfalls ist durch all diese Fragen gewährleistet, dass auch dieser Ärger der Menschen, die nur nebenberuflich über den Löffel balbierte Kleinaktionäre, im Hauptberuf aber Lohnempfänger sind, in die alles entscheidende Frage überführt ist: Nicht: Wie verdienen sie so viel, dass sie die Sorgen um den Lebensunterhalt los sind? Sondern: Wer verdient am 22. September ihre Stimme?

Editorische Anmerkungen:

Der Text wurde uns vom Gegenstandpunkt zwecks Veröffentlichung zugesandt.

Lesetipps:

Zur Privatisierung der Deutschen Telekom AG:
”Der Telekom-Volksaktionär”. Eine Posse in drei Aufzügen: Vorspiel: Der Staat gründet die Telekom AG / 1. Aufzug: ”Let’s go public!” — Die Entdeckung der Aktie als alternatives Volkssparmodell / 2. Aufzug: ”Eine breite Streuung des Aktienkapitals” — Die notwendige Pflege und Hege wildgewordener Schnäppchenjäger am Aktienmarkt / 3. Aufzug: Hokus, Pokus, Fidibus — ”28,50,-!” In: GegenStandpunkt 4‑96, S. 20 ff.

Telekom-Liberalisierung: Ein Beitrag zur Dienstleistungsgesellschaft – Vom Staatsmonopol zur Konkurrenz um die Monopolisierung des Weltmarkts. In: GegenStandpunkt 1-98, S. 56 ff.

Was ist Spekulation?
Geschäfte mit Optionen und Futures – Spekulation auf die Spekulation. In: GegenStandpunkt 2‑95, S. 24 ff.

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http://www.gegenstandpunkt.com/gs/98/1/gs981c56.html
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