KRIMINELL IST HIER DIE SOZIALE LOGIK !

09/01 trdbook.gif (1270 Byte)  trend online zeitung Briefe oder Artikel info@trend.partisan.net ODER per Snail: trend c/o Anti-Quariat Oranienstr. 45

Am 6. Februar 2001 tötete Werner Braeuner, ein Arbeitsloser aus Verden (Region Bremen), Klaus Herzberg, den Direktor des örtlichen Arbeitsamtes, der ihm die Arbeitslosenhilfe gestrichen hatte, welche seine einzige Einkommensquelle war. Danach stellte er sich der Polizei.

Wer ist Werner Braeuner ?

Werner ist Ingenieur und seit 8 Jahren arbeitslos. Er trat für eine Verkürzung der Arbeitszeit ein, für ein existenzsicherndes Einkommen für alle, sowie für eine Gesellschaft freier Menschen, die nicht durch Arbeit abgestumpft sind. Oft übersetzte er Schriften aus Frankreich und leitete diese an deutsche Arbeitsloseninitiativen weiter. In Frankreich selbst war er vor allem den Abonnenten des Internetforums der französischen Arbeitslosenorganisation AC! bekannt. Dort beteiligte er sich mit Humor, Ironie und Freundlichkeit: Seinen Sinn für Widerstand brachte er in einem sehr bildreichen Französisch zum Ausdruck. Um Sympathie bei der regierenden Linken hat er sich nie bemüht : Den deutschen Grünen warf er ihre Verbindungen zur Öl-Lobby vor, die Sozialdemokratie kritisierte er wegen ihrer "Wachstum-Schafft-Arbeitsplätze"-Lüge. Das erklärt auch das Schweigen, das seinen Fall überall umfängt. Seine Ideen und Vorschläge mochten manchen als diskutabel erscheinen, sie wurden eben in der Arbeitslosenbewegung viel diskutiert. Allerdings regten siel zum Nachdenken an und liessen niemanden unberührt.
Von Anfang an ging die Presse von einer geplanten Aktion aus. Die lokalen Blätter und vor allem die Bild-Zeitung freuten sich, jemanden als Extremisten und ein Symbol der antikapitalistischen Kampfes darstellen zu können. Gleich wurde ihm unterstellt, er habe eine für den selben Tag angesetzte Pressekonferenz zur Bekanntgabe der neuesten regionalen Arbeitslosenzahl verhindern wollen. Entsprechend braucht der Staatsanwalt nun nur dem von der Presse vorgegebenen Weg zu folgen, wenn er seine Anklage vorträgt !
Etliche Zeugenaussagen gegen Werner sind willkürliche Erfindungen, z.B. dass er mit dem Vermieter befreundet gewesen sei, auf dessen Bauernhof er ein Zimmer mietete. Dieser behauptete, Werner hätte nicht nach Arbeit gesucht, sondern statt dessen viel Zeit vor dem Computer verbracht - es ist an uns hinzuzufügen: um mit Gleichgesinnten aus allen Ecken Europas zu diskutieren. Dabei hütet sich die Presse davor, ihre Leserschaft über die 76.000 arbeitslosen Ingenieure in Deutschland (deren Mehrheit Werners Altersgruppe angehört) zu berichten.. Erklärt wird auch nicht, warum ein Mensch die ganze Zeit verzweifelt nach einer Arbeit suchen sollte, die es nicht gibt.

Gründe und Hintergründe

Werner lebte in den letzten Jahren in einer besonders harten Situation, die ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Geldprobleme, beengte Wohnverhältnisse und zunehmende Spannungen mit seiner Lebensgefährtin haben dann die Auflösung der Beziehung erzwungen. Einige Monate vor der Geburt der Tochter musste Werner sich ein Zimmer im Nachbardorf suchen. Im Juli 2000 hat er sich um eine Weiterbildung bemüht, die ihm auch bewilligt wurde. Nach fünf Monaten, also Ende November, war er von dieser Weiterbildung völlig entnervt, da er dort die Hälfte der Zeit nur untätig herumsitzen musste. Er bricht die Weiterbildung ab. Den Abbruch begründet er mit 2 Schreiben an Klaus Herzberg, die er auch veröffentlicht. Von Herrn Herzberg hängt es nun ab, ob er weiter Arbeitslosenunterstützung erhält. Doch Herr Herzberg hat seine Vorschriften und scheint überzeugt zu sein, dass diese wohlbegründet sind. Er gibt auf Werners Gründe keine Acht mehr und gibt ihm bei einem Zusammentreffen im Arbeitsamt seine Absicht bekannt, ihm das Geld zu sperren. Werner ist psychisch immer weiter abgerutscht, er hat heftige Rückenschmerzen, sieht sich von den Behörden in die Enge getrieben.  Nun muss er ab Mitte Januar auch noch mit der Streichung seiner Unterstützung rechnen. Anfang Februar kommt der Bescheid über die Sperre. Wie viele Arbeitslose in vergleichbaren Situationen, kommen auch ihm Selbstmordgedanken. Doch er weht diese ab und geht am Morgen des 6. Februar auf  Klaus Herzberg los, auf jenen Mann, der in seinem konkreten Leben dieses unmenschliche System verkörpert. Unfähig sich zu beherrschen, von dem Gefühl des Unrechts überwältigt, schlägt er ihn tot. Er hat sich gegen einen Mechanismus gestellt, aber einen Menschen umgebracht. Noch steht er unter Schock, als er sich der Polizei stellt und später vor dem Richter seine Aussage macht. Danach wird er ins Gefängnis gebracht, wo er 2 ½ Monate lang mit einem zweiten Gefangenen eine Zelle von 7,5 m2 teilt. Nach und nach gewahrt er, von Schrecken ergriffen, das Desaster, das er angerichtet hat : Den Tod eines Menschen, den Schmerz der Familie Herzberg und der seinen, das Unglück, das über seine Frau und sein Kind hereinbricht.

Warum muss man ihn verteidigen

Die Geschichte Werners ähnelt der von vielen anderen Langzeitarbeitslosen. Mit dem Verlust des Arbeitsplatzes verschlechtern sich die Lebensbedingungen. Was zunächst nur Notlage ist, wird häufig zum Dauerzustand, die persönlichen Beziehungen gestalten sich schwierig - bis hin zum Bruch. Die Gesellschaft hat Euch ausrangiert, nun ist es an Euch allein, gegen das Gefühl des Verfalls und der Nutzlosigkeit anzugehen. Um dieser Situation zu begegnen hatte sich Werner für politische Aktion und kollektive Reflexion entschieden, eine Wahl, die viele Arbeitslose in Frankreich nur allzu gut nachvollziehen können. Doch die Regierungen mehrerer europäischer Länder behaupten nun, dass die Arbeitslosen an ihrer Lage selber schuld seien.  Ein vermeintlicher "Ausweg" wird durch Maßnahmen erzwungen, die oft noch schlimmer sind, als die von den Betroffenen selbst entwickelten Überlebenslösungen, mit denen sie sich mal besser, mal schlecht, eine minimale Stabilität schaffen konnten.  Die angebotenen Jobs sind zu prekär und schlecht bezahlt, um wenigstens einigermassen erträglich zu wohnen oder auch nur ein halbwegs normales Leben führen zu können. Dazu mehr oder weniger überflüssige, am Ende zu nichts führende Weiterbildungen, die das Gefühl der Nutz- und Sinnlosigkeit nur noch verstärken.
In Frankreich setzt sich diese Logik im Namen des "Kampfes gegen die Arbeitslosigkeit" durch: Massenhaft wird Arbeitslosen die Unterstützung gestrichen, dazu Massnahmen wie jetzt das sogenannte PARE (Projekt zur Hilfe zur Rückkehr an die Arbeit).  Auch in Deutschland fällt der Regierung nichts anderes als mehr Kontrolle und Druck für die Arbeitslosen ein, anstatt die Ursachen zu bekämpfen, wie einst vor der Wahl versprochen wurde. Unter diesen Umständen und ohne die Perspektive einer Revolte in Form kollektiver Aktion, ist es so verwunderlich, wenn Einzelnen "durchdrehen" und diejenigen direkt angreifen, welche unmittelbar die Vorgaben einer solchen Politik durchsetzen ? In den USA sind solche Ereignisse mittlerweile so häufig, dass sie zur sozialen Phänomen werden. Werden sie jetzt Europa gewinnen, wo die zunehmende soziale Polarisierung verschleiert wird, indem der Druck auf die Ärmsten so erhöht wird, dass sie bis zur Erschöpfung und in die Verzweiflung getrieben werden ? Die Gewalttätigkeit dieser Tat ist erschreckend, sie ist aber eine direkte Reaktion auf erlittene Gewalt und Ohnmacht. Werner ist das Thermometer einer steigenden Spannung. Leider wird die Justiz womöglich alles tun, um der sozialen Dimension dieses Falles auszuweichen. Es liegt an uns zu verdeutlichen, dass Handlungen solcher Art nicht einfach wie gewöhnliche Gerichtsfälle zu behandelt sind, an uns zu zeigen, dass kriminell ist jene soziale Logik, die Menschen wie Werner in die Verzweiflung treibt.
Werner hat bereits mit den 8 langen Jahren Arbeitslosigkeit und Marginalisierung, die seiner Tat vorausgingen, teuer bezahlt. Es wäre um so ungerechter, wenn man gegen ihn Rache üben würde, zumal Herr Herzberg damit nicht wieder ins Leben zurückgerufen werden kann.
Werners Fall geht uns alle an - Arbeitslose, Beschäftigte, Ausgebeutete und alle, die es als Skandal betrachten, wenn Mitglieder einer wohlhabenden Gesellschaft ins Elend geraten, nur weil sie arbeitslos geworden sind. Lassen wir Werner nicht fallen !

Freunde Werner Braueners

wbraeuner.support@free.fr

Erste Unterschriften : AC! Agir ensemble contre le chômage, Heike,  Jeanne Revel, Eric Ducoing, Sylvie Cerclier, Charles de Cock,  Dany Rétorré, Bruno Morin, Philippe Cahuzac, Laurent Guilloteau, Stephan Laurent Gatard, Joël Perdriau, Hèlène Dahan, Frank S.F., Gianni Carrozza, Nicole Thé, François Kergunteuil, Jean Philippe Petit, Christophe Souliè, Anne Pierre Nicolazo, Eric Laffleter, Laurent Berthelot, Remy Querbouet, Lilian Truchon, Joachim Grimm, Rudolf Stratmann, Mila Zoufall, Guillaume Paoli

Editoriale Anmerkung:   
Der Text wurde
von
http://werner.braeuner.freeservers.com/awbtext.htm gespiegelt.