Markttag in Varvarin
Über eine Schadensersatzklage gegen die Bundesregierung wegen der Bombardierung eines jugoslawischen Ortes im Kosovo-Krieg.

von Hans-Detlev v. Kirchbach

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"Wir dachten, hier wäre ein ruhiger Ort, denn hier gibt es keine militärischen Objekte." 

Marina Jovanovic, seinerzeit 14 Jahre alt, fühlte sich geborgen in ihrem Heimatort Varvarin. 200 km südlich von Belgrad und 200 km entfernt vom Kosovo gelegen, schien das 4000 Einwohner zählende Städtchen eine friedliche Enklave weitab des Kosovo-Krieges zu sein. Doch am 30. Mai 1999 erwies sich dieses Sicherheitsgefühl als grausame Illusion- für Marina Jovanovic, die im April dieses Jahres dem Berliner Rechtsanwalt Ulrich Dost über jenen Schreckenstag berichtete, vor allem aber für ihre Freundinnen Marijana und Sanja. 
Es war Markttag in Varvarin, wie jeden Sonntag. Gleichzeitig wurde auf dem Kirchengelände das "Fest der heiligen Dreifaltigkeit" begangen. Der Markt lag etwa 200 Meter, das Kirchengelände 150 Meter von der Brücke entfernt, die den Fluß Morava überspannt. Mittags um 13 Uhr befanden sich etwa 3.500 Menschen in der Nähe dieser Brücke.

"Wir, meine beiden Freundinnen Sanja, Marina und ich, wollten zum Festumzug in Varvarin", erzählt die 17-jährige Marijana Stojanovic. 
"Auf dem Heimweg bummelten wir über die Brücke, als wir ein lautes Dröhnen von Flugzeugen hörten. Nach 5-6 Sekunden erfolgte ein Einschlag, die Brücke brach in der Mitte zusammen und wir stürzten mit der Brücke ein. Es war sehr stickig, die Augen brannten und ich hatte den Eindruck, daß wir verbrennen."

25 Minuten dauerten die zwei Angriffswellen, den Bomberflugzeuge der NATO auf die kleine zivile Brücke flogen- ungeachtet der Zivilpersonen, die sich auf der Brücke oder in ihrer Nähe befanden. Als die Brücke bereits zerstört war, kehrten die Bombenflieger zurück und feuerten erneut - diesmal auf die Zivilisten, die unter Schock versuchten, den Verletzten Hilfe zu leisten. Am Ende des Bombardements hatten mindestens 10 Menschen ihr Leben verloren. Einem Priester, der von der Kirche herbeieilte, wurde der Kopf abgerissen. Über 30 Personen waren schwer verletzt, davon 17 mit lebenslangen Dauerschäden. Unter den Todesopfern: die 15jährige Sanja.

Der Berliner Anwalt Ulrich Dost, letztes Jahr Mitglied eines internationalen "Tribunals" gegen den NATO-Bombenkrieg, übernahm es, im Auftrag der Eltern der getöteten Sanja Milenkovic und 25 weiterer Geschädigter des Bombenangriffs Schadensersatz von der für die Luftangriffe mitverantwortlichen Bundesregierung einzuklagen. Im Juni erhielt das Bundeskanzleramt Post des Berliner Anwalts mit der Bekanntgabe der Schadensersatzforderungen. Zuständigkeitshalber, so erfuhr der Anwalt dieser Tage, sei das Schriftstück an das "Verteidigungsministerium" weitergeleitet worden.
Dort hüllt man sich, des "schwebenden Verfahrens" wegen, noch in Schweigen. Die offizielle NATO-Linie zum Bombardement auf Varvarin verkündete freilich schon seinerzeit der damalige Pressesprecher der NATO, Jamie Shea: Es habe sich um ein "legitimes militärisches Ziel" gehandelt. Vorsorglich stellt Anwalt Dost deshalb in seinem Schreiben an die Bundesregierung fest:

"Diese Behauptung des Pressesprechers ist eine Lüge zur Verschleierung eines Kriegsverbrechens. Der Angriff richtete sich nicht gegen militärische Ziele, war nicht legitim und ist durch nichts zu rechtfertigen."

Die Brücke war nämlich, so Dost, ohne jede militärische Bedeutung, sie diente nur dem dörflichen Zivilverkehr. 
Zivilisten aber dürfen kein eigentliches Ziel militärischer Angriffe sein, verlangt die Genfer Konvention in ihrem Zusatzprotokoll. 
Das "Kriegsvölkerrecht" hat zwar Kriege noch nie verhindert; aber selbst diese humanitären Minimalstandards habe die NATO in ihrem "humanitären" Bombenkrieg gegen die Republik Jugoslawien mißachtet - zumindest im Falle Varvarin, meint Dost. 

"Die verantwortliche Partei ist daher gemäß Art. 3 der IV. Haager Konvention (von 1907) sowie Art. 91 des Zusatzprotokolls I zur Leistung von Schadenersatz verpflichtet.", 

konstatiert Dost in seiner Klageankündigung. Denn 

"den Verantwortlichen mußte schon vor dem ersten Angriff auf die Brücke klar sein, daß der Beschuß des ausgewählten Objekts aufgrund seines Standorts, der Lage, des Zeitpunkts und zivilen Nutzung zwangsläufig zu Toten und Verletzten unter der Zivilbevölkerung führen würde. Gilt das bereits für den ersten Angriff auf die Brücke, gilt dies erst recht für den zweiten Angriff, bei dem die unbedingte, vorsätzliche und kriminelle Tötungsabsicht nicht zu übersehen ist."
schrieb Dost der Bundesregierung. Insofern sei 

"auch der Verdacht feiner Straftat nach § 211 StGB (Mord) bzw. 212 StGB (Totschlag) gerechtfertigt",

so der Anwalt.

Bis Oktober hat Berlin Zeit, sich zu den Schadensersatzforderungen zu äußern. Danach wird die Sache auf den zivilrechtlichen Klageweg gebracht. Auch eine Strafanzeige will der Anwalt erstatten. Doch, da "Recht" stets Auslegungssache ist, bleibt der Ausgang abzuwarten. Strafrechtlich gesehen, weigert sich die Karlsruher Bundesanwaltschaft bislang "kategorisch", gegen die verantwortlichen deutschen Politiker wegen "Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskrieges" zu ermitteln. Würde die in Deutschland seit je militär-und staatsraison-orientierte Justiz unter der offiziellen Sprachregelung von den "Kollateralschäden" den von Jamie Shea vorgegebenen Rechtfertigungen folgen, würden die Opfer von Varvarin leer ausgehen - wie einst ja auch die Opfer von Guernica.

Um zumindest die erheblichen Kostenrisiken für die Kläger abzufangen, hat sich mittlerweile ein Komitee aus Kultur-und Politprominenten gebildet, um für die Klageerhebung Spenden zu sammeln, darunter Schriftsteller Gerhard Zwerenz Ex-Admiral Elmar Schmähling und ehemalige deutsche Botschafter in Jugoslawien, Ralph Hartmann. 

"Der Sieg über das Böse hat immer einen Preis", meinte NATO-Sprecher Jamie Shea seinerzeit angesichts der zivilen Bombenopfer. Doch für die 15jährige Sanja war dieser "Preis" zu hoch. Er kostete sie das Leben.

Editoriale Anmerkung:  Der Text wurde am 30. 07. 2001 im "Kritischen Tagebuch" des WDR 3, unter der Redaktion von Judith Heitkamp gesendet. Der Autor stellte ihn dem trend zur Internetverbreitung zur Verfügung.