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Kurz in lang
Die Moderne im Koordinatenkreuz von Wert, Fetisch und Krise

von Kolja Lindner

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Als vor rund drei Jahren in Frankreich und später auch in anderen europäischen Ländern das Schwarzbuch des Kommunismus erschien, war die Versuchung für Linke groß, eine Gegenrechnung aufzumachen und der westlichen Welt die Opfer ihrer eigenen Geschichte vorzuhalten. Nun ist ein Schwarzbuch, eben ein Schwarzbuch Kapitalismus verfaßt von Robert Kurz, erschienen - der Versuchung eines Aufrechnens gibt es sich aber nicht hin.

Ein solches lehnt der Autor ohnehin kategorisch ab. Es geht ihm vielmehr darum, die negativen, identischen Momente verschiedener kapitalistischer Modernisierungsvarianten heraus zu arbeiten. So sieht er Westen und Osten zu Zeiten der sogenannten Systemkonkurrenz als "die verfeindeten Lager in der kapitalistischen Modernisierungsgeschichte" (S. 187), die beide nur zwei mögliche Ausformungen des warenproduzierenden Systems darstellten und "letztlich immer auf dem gemeinsamen Boden der 'abstrakten Arbeit' und ihrer Institutionen" (S. 187) standen. Die systemischen Unterschiede resultieren für Kurz aus "einer historischen Ungleichzeitigkeit des kapitalistischen Entwicklungsprozesses in den verschiedenen Weltmarktregionen" (S. 446). Es erübrigt sich wohl jetzt noch zu erwähnen, daß der Autor mit der klassischen linken Identität und dem Arbeiterbewegungs-Marxismus, dem er vorwirft im kategorialen Gefängnis der Wertvergesellschaftung gefangen zu sein, brechen will - ein Ansatz, der eine spannende Lektüre verspricht. Das Schwarzbuch Kapitalismus ist jedoch mehr als eine Kritik an den Verfehlungen linker Analysen der herrschenden Produktionsweise. War das "Manifest gegen die Arbeit" der Gruppe Krisis, welcher der Autor angehört, noch ein kleines Heftchen, so hat Robert Kurz nun, wie Diedrich Diederichsen in der Jungle World urteilte, "800 Seiten monokausales Monomanentum" mit dem Ziel der Popularisierung der Wert- und Fetischkritik vorgelegt. Gleichzeitig kann dieses anspruchsvolle Unternehmen auch als "ideologiekritische Studie zum Liberalismus", wie Stephan Grigat ebenfalls in der Jungle World anmerkte, gelesen werden. Dabei ist es selbst jedoch nicht vor analytischen Verfehlungen gefeit.

Zuerst einmal zeigt sich dies bei Kurzī Totalitätsbegriff. Mit recht kritisiert er die rein staatlich-politische Begriffsbestimmung des Totalitarismus, welche die Totalität kapitalistischer Vergesellschaftung und Krise nicht zu fassen vermag: "Es fällt auf, daß in dieser [bürgerlichen, K.L.] 'Totalitarismustheorie' von beiden Polen kapitalistischer Vergesellschaftung nur der staatlich-politische benannt wird, während der ökonomische völlig ausgeblendet bleibt. Danach kann es einen totalitären Staat geben, aber anscheinend keinen totalitären Markt, keine totalitäre Ökonomie, keine totalitäre Produktionsweise - ein Denken, dessen Axiom darin besteht, daß eigentlich nur Staat und Politik in den Bereich des Gesellschaftlichen fallen, während die Ökonomie in guter liberaler Tradition der 'Natur' angehört und insofern aus der Gesellschaftstheorie im strengen Sinne herausfällt" (S. 525f). Diesen Prozeß der "Naturalisierung" und Objektivierung der Markwirtschaft, der die herrschende Produktionsweise fortan zum "unbegriffenen Systemhorizont" (S. 242) macht, weißt Kurz mit erstaunlicher Akribie bei vielen Theoretikern der Modernisierungsgeschichte, u.a. Hobbes, Kant, Leibniz - um nur die bekanntesten zu nennen - nach. Die Schwächen des von Kurz verwendeten Totalitarismusbegriffs ironisiert Diedrich Diederichsen in seiner Rezension: "Dass überall die Kapitalverwertung am Werke ist, wie Kurz meint: 'total', heißt nicht, dass egal ist, ob man im Zuge dessen ermordet oder zum RTL2-Gucken gezwungen wird, gefoltert wird oder bei Aldi einkauft. Diese Differenzen ums Ganze werden zwar nicht geleugnet, aber stets in den Bereich des Vernachlässigbaren abgedrängt."

Doch auch der Schwarzbuch-Autor selbst muß eingestehen, daß die Marktwirtschaft keine "wirkliche Totalität im Sinne eines Absolutums" (S. 518) sein kann. Als ein solches wäre sie nämlich schlicht und ergreifend "nicht lebensfähig" (S. 518), da sie die weitgehend an die Frauen delegierte Sphäre der psychischen und materiellen Reproduktion nicht einschließt. Kapitalistische und patriarchale Ausbeutung unterscheiden sich nämlich dahingehend, daß letztere die Aneignung von Ressourcen ohne eine Entschädigungsleistung vollzieht: "Die Strukturen des Geschlechterverhältnisses sind die einer feudalen Ordnung. Die sexuelle Position von Ehefrauen gleicht der ökonomischen von Bauern im Feudalismus" (Michael Meuser: "Geschlecht und Männlichkeit", S. 94, Opladen 1998).

Der unzureichende Totalitarismusbegriff von Kurz offenbart sich besonders durch den Vergleich von drei völlig unterschiedlichen politischen Systemen der Moderne, dem Nationalsozialismus, der stalinistischen Sowjetunion und der fordistischen USA. Durch diesen Vergleich betreibt Kurz ungewollt einen historischen Relativismus. So greift er in dem Kapitel "Die negative Fabrik Auschwitz" einerseits auf den wert- und fetischkritischen Erklärungsversuch der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik Moishe Postones zurück, begreift Auschwitz aber auch als Durchgangsstadium der Geschichte zur Durchsetzung des Werts. Hinzu kommt, daß für Kurz Auschwitz "als singuläre Tat [...] spezifisch deutsch" (S. 488) war. Dies ist nicht nur widersprüchlich sondern bagatellisierend und so ist es nur folgerichtig, wenn Kurz eine "negative Historisierung von Auschwitz" (S. 479) vorschlägt. "Die Rede von der Singularität von Auschwitz bleibt solange ein Lippenbekenntnis, wie versäumt wird, die erkenntniskritischen Konsequenzen zu ziehen, die die nationalsozialistischen Verbrechen dem Denken auferlegen - Konsequenzen, die dazu führen sollten, eine Historisierung von Auschwitz, sei es eine negative wie bei Kurz oder eine positive wie bei Nolte, als unzulässige Relativierung kategorisch abzulehnen" (Martin Janz in Bahamas Nr. 31).Bereits an anderer Stelle wurde auf die Gefahr hingewiesen Auschwitz lediglich als "Durchgangsstadium der Durchsetzungsgeschichte des Werts" zu deuten: "Insofern die selbstdestruktiven Tendenzen der Wertvergesellschaftung im Nationalsozialismus gesellschaftliche Gestalt annehmen, sich ganz handfest in die Struktur der Gesellschaft eingravieren, ist er aber kein 'Übergangsstadium', sondern selbst tranzendentale Bedingung und Vorbild dessen, was auf ihn folgt" (Clemens Nachtmann in Bahamas Nr. 21).

Nun ließe sich über Erkenntnistheorie und Geschichtsmetaphysik ja diskutieren, wenn Kurz den diskutieren wollte. Statt dessen tritt die Gruppe Krisis mit einem völlig arrogantem Alleinvertretungsanspruch auf Wert- und Fetischkritik, sowie Krisentheorie an. Dies erklärt sich vielleicht aus dem Bild von der politischen Linken, das auch im Schwarzbuch durchscheint: "Auf der einen Seite hat der 'Demokratisierungs'-Diskurs folgerichtig jene Armani-Linke hervorgebracht, die heute die kapitalistische Krise und die soziale Repression verantwortlich mitverwaltet" (S. 768), siehe Fischer, Trittin und Co., "auf der anderen Seite ist ein Teil der Linken von 1968 mit positiven Bezug auf die 'Nation' direkt zum Schrittmacher eines neuen völkischen Herrschafts- und Ausgrenzungs-Diskurses geworden" (S. 769), so z.B. Mahler, Rabehl, Walser etc. Und der Rest? Die Blindheit für eben diesen scheint der Krisis eine Immunisierungsstrategie gegen Kritik aus der antikapitalistischen Linken. Kurz hat anscheinend einen Schutz vor Kritik auch nötig, denn peinlich wird das Schwarzbuch an den Stellen, wo es als konsequente Marx-Ableitung, wider den "nichtmarxistischen Marx", daherkommt - und seinen Anspruch nicht einlöst. So z.B. beim Krisenbegriff. Immer wieder wird im Schwarzbuch dem Kapitalismus Versagen in Anbetracht der menschlichen Bedürfnisse vorgeworfen. Michael Heinrich kritisierte diese Auffassung in der März-Ausgabe von Konkret: "Der Vorwurf der Kapitalismus 'versage', wenn er Massenarbeitslosigkeit und Elend produziert, unterstellt, daß ein funktionierender Kapitalismus dies eigentlich nicht tun würde." Kapitalakkumulation, Produktivkraftentwicklung, Arbeitslosigkeit und Verelendung gehören jedoch zum Wesen der herrschenden Wirtschaftsweise. Marx prägte z.B. im Zusammenhang mit der Arbeitslosigkeit den Begriff der "industriellen Reservearmee". Aus der Durchsetzung der Produktivkräfte in der dritten industriellen Revolution leitet Kurz nun aber die finale Krise des Kapitalismus ab. Sie wird durch den "immergleiche(n) Widerspruch zwischen dem Selbstzweck der Anhäufung abstrakter 'Arbeitsquanta' einerseits und dem von der Konkurrenz erzwungenen Drang 'Arbeit' überflüssig zu machen, andererseits" (S. 415f) erzeugt. Verrückt mutet Kurzī Krisentheorie auch an, da sie aus dem Auseinanderdriften von Arbeit (produktives Kapital) und Geld (spekulatives Kapital) eine weitere Ursache für den endgültigen Zusammenbruch sieht. An den Gedanken, das sich das Verhältnis von Wert in Form von lebendiger Arbeit (Marx: "Gebrauchswert des Kapitals") einerseits und Wert in Form von Geld andererseits mit jeder Krise ständig neu reguliert, verschwendet Kurz keine Zeit. Er wird da zum Nicht-Marxisten, wo er Wert und Krise nicht zusammen denkt und letztere nicht als Selbstreinigungmittel des Kapitalismus auffaßt.

Nach knapp 800 Seiten akribischer Untersuchungen, die, wie Kurz selber einräumt, z.T. "ermüdend" (S. 217) sind, steht für den Autor nur eines fest: Der Kapitalismus wird sich auflösen - wie es das Lesebändchen schon nach 400 Seiten getan hat.

  • Robert Kurz: Schwarzbuch Kapitalismus, Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft, Eichborn, Frankfurt/Main 1999, 816 Seiten, 68 DM.