Zu den wichtigsten Veränderungen, die mit
dieser Wendung zu einem „Aktivismus der
Werte" verbunden sind, gehört die völlig
neue Einstellung dem Philosophen gegenüber.
Hatte man bisher den entsagungsbereiten
Positivisten als vorbildlich empfunden, so
begeistert man sich jetzt für den
anspruchsvollen Erzieher oder nationalen
Streiter, den herrscherlichen, ja
königlichen Philosophen, der sich Gestalten
wie Fichte oder Nietzsche zum Vorbild nimmt.
Das geistige Leitbild dieser Generation war
daher nicht der Lehrer, sondern der Führer,
der Meister oder Selbstdenker, der im Sinne
der indischen Guru außerhalb der staatlichen
oder kirchlichen Beamtung steht und rein
durch das Faszinans seiner Persönlichkeit zu
wirken versucht. Auf Grund dieser
Vorstellung bildete sich das Motto vom
„Adel des Geistes", bei der das Wort
„geistig" weniger den Charakter des
Intellektuellen als des „charismatisch
Begnadeten" hat. Den feudalistischen
Junkerkreisen und der Hochfinanz wurde
deshalb ständig der vom Logos spermatikos
besessene „geistige Adelsmensch'
entgegengestellt, der sich von den
wilhelminischen Führungsschichten
schärf-stens distanziert und lediglich in
zarathustrischen Höhenregionen zu schweben
scheint. Auch hier finden sich die besten
Beispiele bei den „Tat"-Autoren. So schrieb
Ernst HornefTer in seinem Aufsatz „Der
Kaiser und die Nation" (1909): „Es geht ein
lebensdurstiger Zug durch die heutige
Philosophie. Sie ist des trockenen Tones
satt. ,Wenn nicht die Philosophen Könige
werden, oder die Könige sich aufrichtig der
Philosophie ergeben, dann wird des Elendes
im menschlichen Geschlecht kein Ende sein
— dies Wort Piatons liegt ihren
anspruchsvolleren Jüngern wieder in den
Ohren" (I, 48). An anderer Stelle
behauptete er mit einem Hinweis auf
Nietzsche: „,Werte schaffen!' gab er als
Losung und Aufgabe der künftigen Philosophie
aus. Für uns Nachfahren versteht sich diese
Auffassung der Philosophie von selbst. Wir
können sie uns gar nicht mehr anders denken
als wirksam, als richtunggebend, als
erziehend" (S. 48). Ähnliche Worte fallen in
dem Aufsatz „Das alte Königtum und der neue
Adel" (1909) von Paul Schulze-Berghof, in
dem die „bürgerliche Intelligenz
Jung-Deutschlands", die „neuzeitlichen
Edelmenschen", weit höher eingestuft werden
als die Vertreter der aristokratischen
Tradition (I, 121). Nicht der feudale
„Schwertadel", sondern die „Hüter und
Pfleger des Weistums" müßten nach seiner
Meinung die tonangebenden Schichten im
Staate sein (S. 121). Dieselbe Zielsetzung
findet sich in dem Aufsatz
„Sozialaristokratie" (1912) von Friedrich
Alafberg, der zu einer „Organisation der
Intelligenz" gegen die „organisierten Massen
und die kapitalistischen Trusts" aufruft
(IV, 174). Es heißt dort: „Nicht die Reichen
und nicht die Vielen sollten das Wohl der
Gesamtheit in den Händen haben, sondern die
sich aus eigener Kraft zu den Ersten im
Reiche des Geistes gemacht" (S. 173). Man
liest daher überall von Vorschlägen, ein
erlesenes Philosophengremium mit der
Führung des Staates zu beauftragen, eine
philosophische Akademie oder einen „Rat der
Dreißig" zu gründen, um Deutschland aus den
Klauen des „liberalen" Parlamentarismus zu
reißen. So veröffentlichte Hans Blüher eine
Schrift über die „Wiedergeburt der
platonischen Akademie" (1920), um allen
wahrhaft „Geistigen", die auf den
bürgerlich-philisterhaften Universitäten
notwendig verkümmerten, einen neuen
Wirkungsraum zu schaffen. Was er verlangte,
waren keine „geistigen Warenhäuser, in denen
man für gutes Geld eine entsprechend gute
Ware" kaufen könne (S. 22), sondern
Zuchtstätten des Geistes, beherrscht von
Philosophen mit angeborener Überlegenheit
und aristokratischem Führungsanspruch. Aus
diesem Grunde lobte er Erziehergestalten wie
Gustav Wyneken, die sich in allen geistigen
Dingen um „Entscheidungen von möglichster
Härte" bemühten, wie es in seinen
„Gesammelten Aufsätzen" (1919) heißt (S.
30). Noch deutlicher kommt dieser Gedanke in
Blühers Schrift „Die Intellektuellen und die
Geistigen" (1916) zum Ausdruck, wo er den
herrschenden Kathederphilosophen, die „die
aufregendsten Fragen des Menschentums kühl
und regungslos, ohne Berufsstörung und ohne
schädliche Nebenwirkungen" behandelten (S.
12), das Bild des „Geistigen"
entgegenstellte, der sich aus dem „Schutt
der Zivilisation" zu den Höhen der Ideenwelt
erhebt und dort einer visionären
„Bilderschau" huldigt. Ähnlich lapidar
äußerte
sich Hermann Burte in seinem „Wiltfeber"
(1912) zu diesem Problem: „Die Geistigen
müssen herrschen und das Volk muß gehorchen"
(S. 181), wobei ihm als Endziel eine „Partei
des deutschen Geistes" vorschwebte, die auf
einer idealistisch-gesetzten
Mittelstandsbasis beruht. Auf Grund dieser
Thesen kämpften alle diese
„Geistaristokraten" für Gemeinschaftsideale,
die von Anfang an einem diktatorischen
Subjektivismus unterworfen sind. Georges
Zeilen „Neuen adel den ihr suchet / Führt
nicht her von schild und kröne!" (VIII, 85)
wurden daher von diesen Schichten rein
führerhaft oder herrscherlich verstanden.
Das gleiche gilt für die berühmte Maxime im
„Teppich des Lebens" (1900): „Ich will! ihr
sollt!" (V, 22), worin dieser cäsarische
Führungsanspruch, der sich am Leitbild des
zur Herrschaft berufenen „Geistesmenschen"
orientiert, in die knappste Formel
zusammengefaßt wird.
Wohl die unmittelbarste Auswirkung dieser
„Sollensethik" ist das steigende Interesse
an pädagogischen Fragen, das um die
Jahrhundertwende zu einer Sturmflut von
annähernd 400 pädagogischen Zeitschriften
und Zeitungen führte. Der entscheidende
Impuls ging auch hier von der Frontstellung
gegen einen vulgär aufgefaßten
„Materialismus" aus. Anstatt weiterhin an
der Deter-miniertheit des Menschen durch
Masse und Milieu festzuhalten oder die
Verschiedenartigkeit der menschlichen
Verhaltensweisen psychologisch zu
relativieren, wie es im
positivistisch-machistischen Denken der
achtziger Jahre üblich war, glaubte man
wieder an die sittliche
Entscheidungsfreiheit und damit
Erziehbarkeit des Einzelmenschen. An die
Stelle der bloßen Belehrung oder
Wissensvermittlung trat daher auch auf
pädagogischem Gebiet ein Idealismus des
Sollens, der unter Erziehung lediglich die
Bindung an eine leitende Idee versteht. Wie
in allen Richtungen dieser idealistischen
Wertbewegung versuchte man sich selbst in
diesem Punkt über die gegebene Situation
einfach hinwegzusetzen und die auftretenden
Mißstände durch einen Appell an den „guten
Willen" zu überwinden. Die meisten gingen
dabei von dem verlockenden Zugeständnis aus,
den Vorzug der Bildung nicht mehr als
bürgerliches Klassenprivileg zu betrachten,
das bloß der persönlichen Vervollkommnung
der wohlhabenden Schichten dient, sondern
bemühten sich, auch die ungebildeten
Schichten wieder in den Rahmen eines
idealistischpostulierten „Wertgefüges" zu
stellen. Auf diese Weise entwickelte sich
eine „Sozialpädagogik", die gerade in ihren
Bemühungen um eine Vertiefung des nationalen
Empfindens zu einer weitgehenden
Verschleierung der gesellschaftlichen
Gegensätze führte. So gab es viele
„Volkserzieher", die sich mit bürgerlichem
Geltungsdrang gegen die Sonderstellung der
aristokratischen und großindustriellen
Kreise wandten und statt dessen eine
Nationalerziehung forderten, die das ganze
Volk als eine untrennbare Einheit umgreift
und so zu einer geistigen Gleichberechtigung
beiträgt. Doch in Wirklichkeit hat auch
diese Richtung trotz mancher noblen
Absichten einen leicht präfaschistischen
Akzent, da sie die Aufhebung der
Klassengegensätze meist in einem
„völkischen" und nicht in einem
freiheitlich-demokratischen Sinne versteht.
Das zeigt sich besonders in der Haltung den
Arbeitern gegenüber, wo man immer wieder der
demagogischen Phrase begegnet, daß sich auch
die „Werktätigen" in das Volksganze
einzuordnen hätten, was an die
gleisnerischen Worte Wilhelms II. erinnert:
„Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne
nur noch Deutsche!" Neben die
sozialdemokratischen
Arbeiterbildungsvereine, in denen eine
wichtige Aufklärungsarbeit geleistet wurde,
trat daher in verstärktem Maße eine
Volksbildung mit staatsbürgerlich-völkischer
Tendenz, die der innenpolitischen
Gespaltenheit durch die Erweckung eines
nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls
entgegenzuarbeiten versuchte. Besonders
aktiv in dieser Hinsicht war der Kreis um
die „Tat", der sich mit allen Mitteln dafür
einsetzte, dem Arbeiter völkische Ideale
einzuimpfen, um ihn aus dem politischen
Tageskampf zu ziehen. So schrieb Else
Hildebrandt in ihrem Aufsatz
„Arbeiterbildungsfragen im zukünftigen
Deutschland" (1916): „Wahre Bildung, die
wir vermitteln wollen, muß über der Politik
stehen. Besonders die Arbeiterbevölkerung
muß dies begreifen lernen. Sie ist es
gewöhnt, vom politischen Gesichtspunkt alle
Dinge zu betrachten, und muß lernen, den
Menschen über den Parteipolitiker zu
stellen" (S. 5). Das gleiche gilt für
Aufsätze wie „Der Arbeiter und die Antike"
(1914) von August Marx und „Nationale
staatsbürgerliche Erziehung" (1910) von Karl
Hesse oder Bücher wie „Die neue Erziehung"
(1902) von Heinrich Pudor und „Schule und
soziale Erziehung" (1912) von Karl
Muthesius, in denen unter Erziehung
lediglich eine Stärkung des nationalen
Selbstbewußtseins mit leicht „alldeutscher"
Akzentsetzung verstanden wird.
Neben dieser sozialpädagogischen Bewegung
entwickelte sich in denselben Jahren eine
„humanistische" Richtung, die zwar auch zum
Volkhaft-Irrationalen tendiert, sich jedoch
in ihrem Wortschatz mehr im Rahmen des
„Allgemein-Menschlichen" bewegt. Man denke
an Pädagogen wie Paul Natorp, Herman Nohl
oder Eduard Spranger, die sich in der Zeit
vor dem ersten Weltkrieg zu einer
„neudeutschen" Weiterentwicklung des
goethezeitlichen Idealismus bekannten. So
stellte Natorp bereits 1899 in seiner
„Sozialpädagogik" eine „Theorie der
Willenserziehung auf gemeinschaftlicher
Grundlage" auf, bei der die Bildung rein als
überpersönliches Sollen aufgefaßt wird. Er
berief sich dabei auf die
sozialphilosophische Grundlage der
Pestalozzischen Erziehungslehren, wonach
die Entfremdung der Menschen untereinander
nur in einem „Reich verwirklichter Ideen"
aufgehoben werden könne. Aus der Fülle
seiner Schriften seien hier lediglich
„Volkskultur und Persönlichkeitskultur"
(1911), „Philosophie und Pädagogik" (1909),
„Der Idealismus Pestalozzis" (1919) und
„Sozialidealismus" (1920) erwähnt, in denen
ein lebensstarker Idealismus gepredigt
wird, der die nationalen Erziehungsprobleme
im Sinne Fichtes „sozialidealistisch" zu
lösen versucht. Auch die „Pädagogischen und
politischen Aufsätze" (1919) von Herman Nohl
stehen ganz im
Zeichen Fichtes und Pestalozzis. Immer
wieder betonte er die Absicht, den zu
erziehenden Menschen zu einer geistigen
Autonomie anzuregen und ihn zugleich mit
einer überindividuellen Sollensethik
vertraut zu machen. Eduard Spranger
orientierte sich dagegen mehr an Wilhelm von
Humboldt. Doch auch bei ihm läßt sich mit
den Jahren eine Verschiebung ins
Nationalpädagogische beobachten. Während er
in seinem „Humboldt" (1909) noch für eine
ästhetische Vollendung im Sinne Schillers
und des hellenischen Ideals der Kalokagathie
eintrat, die er mit einem aristokratisch
gefärbten Persönlichkeitsgefühl verband,
zeigt sich in seinem Buch „Das humanistische
und politische Bildungsideal im heutigen
Deutschland" (1916) eine deutliche Wendung
ins Vaterländische. Hier wird nicht mehr
das „Ethos der Freiheit", sondern das „Ethos
der Kollektivverantwortlichkeit" als
höchster Wert proklamiert (S. 19), da sich
der „hellenische" Geist auch unter Waffen
bewähren müsse, was an die
„weltmissionarischen" Tendenzen in Büchern
wie „Deutschland als Welterzieher" (1915)
von Joseph August Lux gemahnt.
Zu den wichtigsten Konsequenzen dieser
pädagogischen Neubesinnung gehört der
Gedanke einer allgemeinen Schul- und
Universitätsreform, die sich den „stolzen"
Geist der Griechen zum Vorbild nimmt, wie es
in dem Buch „Das klassische Ideal" (1906)
von Ernst und August HornefTer heißt (S.
238). Überall sehnt man sich nach
„Geisteshelden", denen es mehr um das
Erziehen als um das Forschen geht. So
schrieb Eduard Wechßler in seinem Buch
„Esprit und Geist" (1927): „Der Professor
sollte wieder ein Bekenner werden", in
dessen Worten ein furor paedagogicus glüht
(S. IX). Ähnliche Äußerungen finden sich in
den „Tat"-Aufsätzen „Aufgaben der
Universitätsphilosophie" (1909) von Johannes
Maria Verweyen und „Universitätsreform"
(1914) von Ludwig Curtius, die dem
„individualistischen Eudämonismus" der
neunziger Jahre eine neue Gesinnungsethik
entgegenstellten (VI, 126). Um endlich den
Theoretiker durch den Praktiker, den
Kleinlichkeitskrämer durch den Erzieher zu
ersetzen, forderte man in diesen Kreisen
eine konsequente Abwendung vom historischen
Ballast der Vergangenheit. Hatte bisher das
Interpretieren als das Höchste gegolten, so
ist jetzt viel vom „Verändern" oder
„Umgestalten" die Rede. Doch auch dieses
Programm führte bloß zu einem theoretischen
Appell, der nicht nur an der massiven
Einheitsfront der Tradition, sondern auch
an der mangelnden Ausreifung und Unklarheit
dieses Idealismus scheiterte.
Fast noch wichtiger als der Gedanke der
Universitätsreform war die Idee einer
allgemeinen deutschen Einheitsschule. Dafür
sprechen der „Tat"-Aufsatz „Die
Einheitsschule" (1914) von Aloys Fischer
oder Bücher wie „Die nationale
Einheitsschule" (1913) von Wilhelm Rein und
„Ein Volk, eine Schule" (1919) von Johannes
Tews, die sich scharf gegen die bisherigen
Bildungsprivilegien richten und sich von
der gemeinsamen Erziehung aller Kinder eine
wesentliche Vertiefung des nationalen
Kulturbewußtseins erhoffen. Bereits ins
Völkische tendiert das Buch „Die deutsche
Schule der Zukunft" (1917) von Artur
Buchenau, wo unter Berufung auf Fichte und
Humboldt eine „Nationalhumanität"
beschworen wird, die auf einer planmäßigen
Durchorganisierung des gesamten Volkskörpers
beruht (S. 8). Wohl der bekannteste
Theoretiker dieser pädagogischen
Reformbewegung war Georg Kerschensteiner,
der in seinem Buch „Das einheitliche
deutsche Schulsystem" (1916) eine völlige
Umgestaltung des bestehenden Schulwesens
forderte. Auch er trat für den Fortfall
aller bisherigen Bildungsprivilegien in Form
von Sonderschulen oder Mädchenpensionaten
ein und propagierte eine nationale
Gemeinschaftserziehung, deren Ziel nicht
das bürgerliche Individuum, sondern der
verantwortungsbewußte „Staatsbürger" ist.
Er schlug daher vor, alle Volks- und
Oberschulen aus „Stätten individuellen
Ehrgeizes" in „Stätten sozialer Hingabe" zu
verwandeln (2. Aufl., S. VIII), da sich ein
„nationaler Gemeingeist" bloß auf der Basis
der absoluten Gleichberechtigung erreichen
lasse (S. 123). Eine solche Umerziehung des
gesamten Volkes sei nur dann möglich, wenn
man die bisherige Buch- und Lernschule durch
eine Arbeitsschule ersetze, in der die
zukünftigen „Volksgenossen" auf dem Weg über
die „gemeinsame praktische Arbeit" zu einer
„ethisch-sozialen Gesinnung" erzogen werden
(S. 214). Wie alle Vertreter dieser
neuidealistischen Wertbewegung legte er
deshalb den Hauptnachdruck nicht auf das
bloße Sachwissen, die sogenannten Realien,
sondern auf bestimmte Wertvorstellungen, die
im sittlich Absoluten verankert sind.
Pädagogik war für ihn ein „Weckruf des
Sollens" (S. 193), dessen oberstes Ziel eine
fortschreitende Ethisierung der gesamten
Staatsgemeinschaft ist. Die ersten Hinweise
zu diesem Programm finden sich in seinem
Buch „Der Begriff der Arbeitsschule" (1912),
in dem er für eine „Selbsttätigkeitsschule"
eintritt, bei der weniger die Schulung des
Intellekts als das produktive
„Nutzbarmachen" im Vordergrund steht. Sein
pädagogisches Ideal waren daher
„Arbeitsgemeinschaften", bei denen sich
jeder einem „allgemein anerkannten Zweck"
unterordnen muß (4. Aufl., S. 9), um bereits
auf der Schule die sittliche Verpflichtung
seiner späteren Berufsarbeit zu erkennen.
Aus diesem Grunde setzte er sich wiederholt
für die Errichtung von Werkstätten, Gärten,
Schulküchen, Nähstuben und Laboratorien ein,
wo man mit einem „Minimum von Wissenschaft
ein Maximum von Fertigkeiten" im „Dienste
staatsbürgerlicher Gesinnung" erlernt (S.
94). Was man bisher unter Schule verstand,
wird so zu einer staatlich reglementierten
Erziehungsanstalt, bei der das Schlagwort
„Humanismus" nur noch eine ideologische
Verbrämung ist. Man findet daher in seinen
Schriften neben dem aktivistischen Elan, für
eine „Idee" zu arbeiten (S. 51), auch ein
„Einheitsstreben", das mehr an die
faschistische Parole „Gemeinnutz geht vor
Eigennutz" erinnert und später von den
Nationalsozialisten in diesem Sinne
ausgenutzt wurde. Während Kerschensteiner
weitgehend Theoretiker blieb, versuchte
Hermann Lietz, ein Sohn niedersächsischer
Bauern und zugleich begeisterter
Fichte-Schwärmer, wenigstens einen Teil
dieser Ideen in die Praxis zu übertragen.
Nachdem er in Jena bei Eucken promoviert
hatte, gründete er 1898 mit idealistischem
Enthusiasmus, aber kärglichen Mitteln auf
dem Gutshof Ilsenburg im Harz das erste
deutsche „Landerziehungsheim", dem 1901 der
Gutshof Haubinda im Thüringer Wald für die
Mittelstufe und 1904 als Krönung des Ganzen
die Burg Bieberstein in der Rhön für die
Oberstufe folgten. Wie bei Natorp und
Kerschensteiner stand auch bei ihm der
Gedanke der „Nationalpädagogik" im
Vordergrund. Statt Kenntnisse zu vermitteln,
wollte er seine Schüler zu einem
sozial-ethischen Verhalten anleiten, dem
eine verantwortungsbewußte
„staatsbürgerliche" Gesinnung zugrunde
liegt. Er schrieb daher in seinem Buch „Die
deutsche Nationalschule" (1911): „Der
Hauptzweck der Schule ist Charakterbildung,
Erziehung und Entwicklung der
religiössittlichen Anlagen, der
körperlichen und geistigen Kräfte,
Vorbereitung auf den Beruf eines deutschen
Staatsbürgers, Arbeit an der
Weiterentwicklung wertvoller nationaler
Kultur, nicht aber Einprägung von
Kenntnissen und Beibringung von
Fertigkeiten" (2. Aufl., S. 88). Aus diesem
Grunde versuchte er, das „erschlaffende"
Buchwissen der städtischen Gymriasien durch
eine leibseelische „Ertüchtigung" zu
ersetzen, die auch das Sportliche und
Bäuerliche nicht verschmäht. Als
pädagogisches Fernziel schwebte ihm dabei
eine Verbindung von Goethes „pädagogischer
Provinz" und Fichtes „geschlossenem
Handelsstaat" vor, wie er in seiner Schrift
„Deutsche Landerziehungsheime" (1910)
behauptet. Doch wie viele dieser
„Geistidealisten" geriet auch Lietz im Laufe
der Jahre immer stärker ins Fahrwasser der
„Völkischen", wodurch sein pädagogisches
Einheitsstreben in steigendem Maße
präfaschistische Züge bekam. So heißt es in
seinen „Lebenserinnerungen" (1920), daß er
wie sein Vorbild Lagarde stets danach
gestrebt habe, „die Arbeitermassen im Sinn
des freien Christentums, im Geist des
ethischen Idealismus eines Fichte zu
beeinflussen, sie aus der
atheistisch-materialistischen sowie
antinationalen Richtung herauszureißen" (S.
85), um sie als sinnvollen, aber dienenden
Bestandteil in die „völkische" Pyramide
einzugliedern.
Fast noch wichtiger für den pädagogischen
„Idealismus" dieser Jahre war die „Freie
Schulgemeinde" in Wickersdorf unter Gustav
Wyneken. Was man hier im Auge hatte, war die
Herausbildung einer neuen Elite geistiger
Adelsmenschen, um dem menschlichen Dasein
wieder einen Zug ins Große, einen echten
„Stil" zu geben, wie Wyneken 1914 in der
„Tat" behauptete (V, 1233). Wickersdorf
sollte kein kräftesteigerndes Landschulheim,
keine bäuerlichnationale Erziehungsanstalt,
sondern eine „Stätte der
Menschheitsverjüngung" sein, wo die Führer
und Heroen der Zukunft ihre ersten Weihen
empfangen (S. 1233). Im Mittelpunkt stand
daher das Philosophieren, und zwar im Sinne
einer forciert aktivistischen Durchdringung
der Welt mit einem Wert. Der
empirisch-gegebenen Welt wurde hier ganz
entschieden das Seinsollende
entgegengestellt, um so den
relativistischen Individualismus der
spätbürgerlichliberalen Ära durch einen
Dienst am „objektiven Geist" zu überwinden.
Alles hatte nur einen Aspekt: Weltanschauung
zu erzeugen, das heißt, das gesamte Dasein
überindividuellen Werten unterzuordnen und
damit dem subjektiven Wollen eine ethische
Ausrichtung zu geben. Wohl ihre klarste
Ausprägung erfuhren diese Gedanken in seinem
Buch „Schule und Jugendkultur" (1913), in
dem sich Wyneken zu einem „Kulturstaat"
bekennt, der eine rein „geistige" Ausprägung
hat (2. Aufl., S. 12). Um dieses Ziel zu
erreichen, forderte er eine Aufhebung der
bisherigen Familienerziehung, die ihm viel
zu gemüthaft-privat erschien, und trat
energisch für eine Verstärkung objektiver
Normen ein, was sich nur in „herber
Frische", in ländlich-karger Umgebung und
unter Leitung charaktervoller Pädagogen
verwirklichen lasse (S. 15). Diese
„Vergeistigung" der Erziehung ist
selbstverständlich rein aristokratisch
gemeint, und zwar im Sinne von „Herrschaft
und Dienst", wobei der Akt der Unterwerfung
wie bei Blüher und George als „freie Hingabe
an selbstgewählte Führer" verschleiert wird
(S. 27), um auch dem „Gehorchen und Zuhören"
einen „edlen" Zug zu geben. Selbst Wyneken
verfiel darum im Laufe der Jahre einem
idealistisch gemeinten, aber völkisch
mißzuverstehenden Führerkult, der die
unbarmherzige Mechanisierung, wie sie sich
im Zeitalter des industriellen Liberalismus
entwickelt hatte, durch einen Appell an das
ethische Gemeinschaftsbewußtsein zu
überwinden hofft. Wohl kaum ein Pädagoge hat
dabei so enthusiastisch auf den „Idealismus"
der heranwachsenden Generation vertraut wie
er, der sich zeitweilig zum Sprecher der
gesamten deutschen Jugend berufen fühlte.
Immer wieder träumte er von einer
„Jugendkultur", deren Ziel weniger ein
glückliches als ein erhabenes Dasein sei,
das sich an Werten wie Volk, Heldentum und
Menschheit orientiere, anstatt Luxus und
Dividenden nachzujagen und dabei in den
Brackwässern des modernen Materialismus zu
versinken. Aus diesem Grunde sah er wie
Kerschensteiner die einzige richtige
Erziehung in der „sinnvollen Eingliederung
des Einzelwillens in den Sozialwillen" (S.
57). Da diese Formel sowohl progressive als
auch reaktionäre Züge enthält, sprach er
einmal von geistigen „Arbeitern" (S. 127),
die sich dem Fortschritt der gesamten
Menschheit widmen, ein anderes Mal von einem
„adligen Geschlecht von Rittern des Geistes"
(S. 64), das mehr an einen religiösen Orden
erinnert, wodurch die „wertesetzende"
Komponente dieses „pädagogischen furor
teutonicus" einen höchst zwiespältigen
Eindruck hinterläßt.
Derselbe „idealistische" Impuls äußerte sich
im Bereich des wissenschaftlichen Denkens.
Auch hier spürt man seit der
Jahrhundertwende einen zunehmenden Affekt
gegen die positivistische Verengung und
Systematisierung des
geisteswissenschaftlichen Denkens, das
heißt gegen alle soziologischen,
milieubedingten oder statistischen
Verfahrensweisen, die auf Grund ihrer
„materialistischen" Grundstruktur als etwas
Inferiores abgetan werden. Anstatt sich
weiterhin mit einer mühseligen
„Kleinforschung" abzuplagen, die in ihrer
lexigraphischen
Detailliertheit ins Uferlose zu verschwimmen
droht, bemühte man sich jetzt, zum
„Wesenhaften" der jeweiligen Phänomene
vorzudringen. Nicht „Vollständigkeit des
Stoffs", sondern „Vollständigkeit der Ideen"
ist es, was wir erstreben, schrieb Eduard
Wechßler in seinem Buch „Esprit und Geist"
(1927), das trotz seines späten
Erscheinungsdatums noch ganz in den Geist
dieser Jahre gehört (S. VI). Mit derselben
Verachtung blickte man auf die
impressionistische „Kategorie der
Gegebenheit" herab, die man für den
allgemeinen Relativismus verantwortlich
machte. Man liest daher immer wieder
energische Angriffe gegen das bloße
„Verlebendigen", das Raffinierte,
Genießerische und Farbige im Stil der
impressionistischen Causeure wie Bie,
Muther, Joel oder Simmel, deren
wissenschaftliche Methodik sich weitgehend
auf geistreiche Paradoxien oder
feuilletonistische Extravaganzen stützt. So
schrieb Richard Hamann in seinem Buch
„Impressionismus in Leben und Kunst" (1907),
das sich gegen das lebensphilosophische
Allesverstehen und laxe Sichhineinversetzen
wendet: „Heute, wo man überall spürt, daß
wir einer neuen philosophischen Epoche
entgegengehen, atmet man auf in dem Gefühl,
eine gänzlich unphilosophische Zeit hinter
sich zu haben, eine Zeit des Stoffsammelns
und der Einzel Wissenschaft, der überlegenen
Skepsis und der mystischen Schwärmerei, nur
nicht des Denkens" (S. 111).
Die interessanten Feuilletons und
unterhaltsamen Abhandlungen der neunziger
Jahre wurden daher durch philosophisch
formulierte Bekenntnisse verdrängt, die sich
mit idealtypischen Lebensformen,
stilistischen Gemeinsamkeiten oder
gesetzmäßig wiederkehrenden Kulturstadien
befassen. Auf diese Weise entstand eine
wissenschaftliche Gesinnung, die mehr und
mehr ins „geistig Produktive" tendiert, sich
jedoch in ihrer idealistischen Abstraktheit
meist ins phänomenologisch Wesenlose
überschlägt. Wie sehr man diese Wendung ins
Aktivistische begrüßte, kommt in einem Brief
von Morgenstern an Karl Scheffler zum
Ausdruck, wo es unter anderem heißt: „Sie
sind nicht nur Kunsthistoriker, Ästhetiker
usw., sondern auch ein Stück Ethiker, das
heißt ein Mensch, der neben dem, daß er sehr
viel weiß und versteht, auch etwas will"
(24. August 1905). Im selben Sinne nannte
Georg Lukäcs in seinem Buch „Die Seele und
die Formen" (1911) jeden Kunstbetrachtenden
einen „Pla-toniker", dessen höchstes Ziel
die geistige Erkenntnis ideeller Grundformen
sein müßte (S. 46). Die impressionistische
Nonchalance mit ihrer scheinbar unbegrenzten
Aufnahme- und Wiedergabefähigkeit wich daher
zusehends einem angestrengten Bemühen, auch
in der Wissenschaft „neue Tafeln"
aufzustellen, zu erziehen, an der Gesamtheit
des völkischen Lebens mit-zugestalten, um
dem forscherlichen Drang wieder einen
lebenzeugenden Charakter zu verleihen. Aus
diesem Grunde distanzierte man sich sowohl
vom Leitbild des unermüdlichen Spezialisten,
der nur den Turmbau der eigenen Disziplin
vor Augen hat, als auch vom amüsanten
Unterhalter, für den Wahrheit bloß eine
Kußhand ist, und bekannte sich zum Ideal des
Weltanschauungssuchers, für den lediglich
das Allgemeinmenschliche den Ausschlag gibt.
Hinter den vielfältig aufgesplitterten
Disziplinen und ihrer emsigen
Fächerbetriebsamkeit tauchte daher in
steigendem Maße ein philosophisches
Einheitsstreben auf, das sich weniger um
das Individuelle und historisch Einmalige
als um das Grundsätzliche und
Weltanschauliche bemüht, wobei man in echt
„idealistischer" Vermessenheit die eigenen
Wertvorstellungen zu seinsollenden Idealen
erhob. Derselbe Aktivismus kommt in der
Sprache dieser Bücher zum Ausdruck. Statt
farbig schmückender Adjektive, ausgefallener
Fremdwörter oder skeptischer Gedankenblitze
findet man weitgehend kurze, einprägsame
Sätze, die in ihren zielbewußten
Formulierungen einen männlich-apodiktischen
Charakter verraten sollen. Während die
impressionistischen Autoren ihre
Behauptungen meist in die Form eigener
Erlebnisse eingekleidet hatten, versuchte
man jetzt, den geäußerten Anschauungen eine
überindividuelle Bedeutsamkeit oder
typologische Gesetzmäßigkeit zu geben. Die
Frage nach dem Wert bestimmter menschlicher
Leistungen verschob sich dadurch immer
stärker aus dem Psychologisch-Biographischen
ins Philosophisch-Kategoriale, um von
vornherein auf das „Zeitlose" innerhalb der
geschichtlich bedingten Besonderheiten
hinzuweisen.
Richard Hamann / Jost Hermand: Stilkunst um
1900, Epochen Deutscher Kultur von 1870 bis
zur Gegenwart, Band 4, München 1973, S.
84 - 93
Zum
Teil 1
Zum
Teil 3
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