Hackls Am Seil ...
Buchvorstellung von Richard Albrecht

08/2019

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Erich Hackl, der Autor dieses Bändchen, der Heldengeschichte genannten Dokumentarerzählung Am Seil, wurde 1954 in der oberösterreichischen Industrie- und Bezirksstadt Steyr geboren. Heute ist Hackl einer der bekanntesten österreichischen zeitgenössischen Autoren (und literarischen Übersetzer aus dem Spanischen). Allein im Diogenes Verlag erschienen bisher zwölf Bücher seiner meist auf Alltag und Geschichte[1] bezogenen authentischen Erzählungen, Geschichten, Begebenheiten. Am Seil ist das aktuellste seiner faction-Bücher. Und das erste, das ich las. Ein kulturell aktiver und gebildeter deutscher Altkommunist hatte es empfohlen.

Hackl erzählt nach einleitenden Kapiteln zur Entstehung und Entwicklung einer kleinen Gemeinschaft im Wien der 1920er Jahre um den Berliner Kunsthandwerker und Kleinstunternehmer Reinhold Duschka (1900-1993), dessen österreichischen Bergsteigerfreund Rudolf Kraus mit Frau Regina und beider 1929 geborener Tochter Lucia.

Nach nationalsozialistischer Machtübernahme in Östereich im März 1938 wird das Leben für Lucia und Regina als Jüdinnen schwer und mit Beginn der Massendeportationen aus Wien Ende 1941 existentiell bedohlich. Buchstäblich in letzter Minute vor dem Weg ins Gas in Auschwitz nimmt der vom Typus her zeitlebens wortkarge und verschlossene Reinhold Duschka Frau und Mädchen bei sich in seiner großflächigen Werkstatt in einem Wiener Handwerkerhof als nüchterne Fürsorge auf. Und organisiert dreiundhalb Jahre lang nicht nur sein eigenes, sondern auch das von Regina ("Gina") als reifer Frau und ihrer heranwachsenden Tochter Lucia. Sie bilden tagsüber eine symbiotische Arbeitsgemeinschaft in Duschkas Werkstatt, in der sie versteckt werden. Nachts lebt Duschka sein anderes bürgerliches Leben. Und beide Illegale leben ihrs in einem kleinen, von der Werkstatt abgeteilten Bretterverschlag, geräuschlos und unsichtbar.

Das ist der in dichter Beschreibung (hier nicht nacherzählte) Handlungskern. Verdeutlicht werden sowohl die gefährlichen und gefährdenden Bedingungen und Situationen konspirativer Handlungsformen, die Überleben ermöglichen, als auch existenzielle Verkümmerungen (in) dieser Not- und Zwangsgemeinschaft als Voraussetzungen fürs Überleben als happy ending infolge der militärischen Niederlage des ´Dritten Reichs´ durch die alliierten Mächte.

Hacks Autorenspache ist nicht belehrend und schon gar nicht triumphalisch. Erzählt wird vielmehr behutsam, nüchtern-sachlich und wo nötig und möglich auch passagenweise reflexiv-selbstvergewissernd. Im Mittelpunkt steht der illegale Alltag mit seinen konspirativen Formen des Überlebens in einer feindlich-mörderischen nahen und fernen Umwelt. Anlage und Duktus der Erzählung überwinden so die bei diesem Sujet gegebenen Gefahr von Abenteuerlichkeit und Stummheit, auf die bereits der Soziologe Theodor Geiger Anfang der 1930er Jahre verallgemeinernd hinwies: "Vom Abenteuer erzählt man, die Eintönigkeit des Alltags erträgt man stumm."[2]

Der Buchtitel ist als Metapher assoziativ anregend: Am Seil verweist auf die Überlebensgemeinschaft alpiner Bergsteiger (wie Rudolf Kraus) und damit auch auf den mutigen Überlebenskampf historischer alpiner Gemeinschaften.[3]

Problematisch dagegen fand ich mit Blick auf objektive Realität und historische Wahrheit sowohl den Untertitel Heldengeschichte als auch die erst spät und im fortgeschrittenen Lebensalter interviewte überlebende Zeitzeugin Lucia Heilmann: zum einen gehörte zum Überleben auch die von Hackl beschriebene jahrelange handwerkliche Arbeit beider Frauen für ihren Lebensretter Reinhold Duschka in der Werkstattgemeinschaft; zum anderen mag manches, das die Überlebende zeitzeugisch dem Autor erzählte, mit Narrativen arbeitende Sozialforscher an den Rebecca-Effekt erinnern: "Verklärung/en von Vergangenheit/en im allgemeinen und emotional positive Besetzung von Erinnerung/en an frühere Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse im besonderen"[4] waren und sind auch hier möglich.

Anmerkungen

[1] Richard Albrecht, Geschichte als Alltag; in: Zeitschrift für Volkskunde, 79 (1983) I: 85-103

[2] Theodor Geiger, Zur Kritik der arbeiter-psychologischen Forschung; in: Die Gesellschaft, 8 (1931) 3: 237-254

[3] Adolf Günther, Die alpenländische Gesellschaft als sozialer und politischer, wirtschaftlicher und kultureller Lebenskreis. Mit Beiträgen zur Methodenlehre der Sozialwissenschaften und 1 Karte. Jena: Fischer, 1930, XXII/676 p.

[4] Richard Albrecht, Rebecca-Effekt [2017]: https://soziologieheutebasiswissen.wordpress.com/2017/04/11/rebecca-effekt/

 

Erich Hackl
Am Seil.
Eine Heldengeschichte.

Zürich: Diogenes, 2018, 117 p.; ISBN 978-3-257-07032-3; 20.00 € (D), 20.60 € (A), 27 Stutz (CH)

Editorische Hinweise: Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.