"Des Volkes Recht..." Pfalz und Pfälzer 1848/49
Zur erinnernden Annäherung an regionalgeschichtliche Ereignisse[1]

von Wilma Ruth Albrecht

08/2019

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I.

Soziale Aufstände und Revolutionen sind nicht voraussetzunglos. Sie schließen typischerweise an Traditionen volkstümlicher Freiheits- und Gerechtigkeitsbewegungen an. So auch die Pfälzer Revolution 1848/49.

Pfälzer waren an der ersten und zweiten Bundschuhbewegung 1502/13 beteiligt, erhoben sich in antiklerikalen und antifeudalen städtischen Volksbewegungen der Reformation 1521 bis 1523 und kämpften aktiv für soziale Rechte und Selbstbestimmung im Bauernkrieg 1525.

Auch die Ideale der Französischen Revolution 1789 und der französischen Republik 1792 wurden aufgenommen. Es gab positive Erinnerungen an die „Franzosenzeit“, als die Pfalz als Department Donnersberg 1801 bis 1814 nach Frankreich eingegliedert war.

Das größte nationale und republikanische Volksfest, das von den Pfälzer Preßvereinen organisierte Hambacher Fest, fand Ende Mai 1832 bei Neustadt an der Haardt statt. In den 1840er Jahren erhöhte sich das soziale Konfliktpotenzial infolge von Missernten 1842, 1845 und 1846. Turnvereine, Lesevereine und andere gesellige Zusammenschlüsse, die sich unpolitisch gaben, bündelten die oppositionellen Kräfte. Literaten, Publizisten und Wissenschaftler – auch aus dem Exil – erarbeiteten und verbreiteten liberale und demokratische Forderungen. Vor allem in der zweiten Hälfte des Jahres 1847 und besonders nach der Tagung süddeutscher Demokraten im September 1847 in Offenburg am Rhein kursierten anonyme Flugblätter, Broschüren und Gedichte in Südwestdeutschland. Für die „Märzrevolution“ 1848 fehlte lediglich als „zündender Funke“ der Anlass.

II.

Vor dem geschichtstheoretischen Hinweis versuche ich eine kurze historische Verortung speziell des pfälzer Volksaufstands im Revolutionsprozess 1848/49:

1) Der pfälzische Volksaufstand des Jahres 1849 war ein volkstümlich-demokratisches Ereignis. Der am 2. Mai 1849 gebildete Landesverteidigungsausschuss ging aus einer Volksversammlung hervor, die Organisation der Volkswehr erfolgte aufgrund eines Beschlusses des Volkswehrkongresses vom 3. Mai 1849, Bildung der provisorischen Regierung der Pfalz und Lossagung von Bayern am 17. Mai 1849 beruhte auf dem Beschluss der Volksvertretung, die sich aus den am 12. Mai direkt gewählten Vertretern der 31 Kantone (bei 29 Anwesenden) zusammensetzte.

2) Die 1848/49 in weiten Teilen der pfälzer Bevölkerung auferweckte aufklärerische, republikanische und demokratische Ideenwelt drückte sich in mannigfaltigen politischen Aktionen aus. Was auch letztendlich zum Volksaufstand im Mai 1849 führte, hatte mehrere Ursachen: einerseits gab es positive Erfahrungen mit der französischen Besatzung (seit 1792) und der Zugehörigkeit zur französischen Republik (1801 bis 1813/14), die in der Pfalz zur Abschaffung des Feudalismus, zur Säkularisierung und zur Übernahme des französischen Rechtes führte. Damit einhergehende Errungenschaften wie Abschaffung des Zehnten und der Fronden, Auflösung klösterlichen Besitzes, Trennung von Justiz und Verwaltung und Zusicherung persönlicher und Eigentumsrechte wurden, nachdem die Pfalz zu Bayern kam, beibehalten. Andererseits gab es im gesamten südwestlichen Raum starke Traditionen aufklärerischen, demokratischen und jakobinischen Denkens, das unter anderem durch Pressevereine und "Feste" gepflegt wurde. Weiters gab es, ebenfalls von der Aufklärung geprägten, Protestantismus und Pietismus.

3) Herausbildung und Festigung demokratischer Ideen ging auch einher mit neuen politischen Erfahrungen, die in der Revolutionszeit gesammelt wurden. Die Einsicht in die nachhaltige Wirkungslosigkeit von Petitionen an König und königliche Minister, die Militanz der Reaktion besonders in Preußen und Österreich seit September 1848 und die kompromisslose Haltung in der Verfassungsfrage der Nationalversammlung der vier großen deutschen Herrscherhäuser begünstigten den Schritt zur eigenständigen politischen Aktion. Insofern waren revolutionäre Handlungen und der pfälzer Volksaufstand 1848/49 auch Ergebnis eines zeitverdichteten Revolutionsprozesses.

4) Im gesamten Verlauf der Revolution wandten sich die politischen Akteure in der Pfalz bewusst an große Teile der Bevölkerung und versuchten, sie aktiv handelnd einzubeziehen. Nachdem im März 1848 Presse- und Organisationsfreiheit erkämpft worden war, wurden neue Zeitungen, Volksvereine gegründet und Volksversammlungen abgehalten. Diese achteten besonders darauf, dass die Abgeordneten zumindest liberale und vorwiegend demokratische Positionen vertraten, ständigen Kontakt zu den Wählern hielten, um deren Erwartungen in den Repräsentativorganen, der Nationalversammlung und der zweiten bayerischen Kammer, zu vertreten und eine Verselbständigung der Politiker zur politischen Klasse zu verhindern. Darüber hinaus gab es permanente Aufklärung über parlamentarische Entscheidungen und politische Ereignisse - auch im Ausland - durch Presse und Flugschriften. Früh erkannt wurde auch, dass zum Schutz der Revolution und zur Abwehr reaktionärer Angriffe Bürgerwehren zu gründen sind. Weiters ging es den aktiven Demokraten auch darum, eine Spaltung der Bewegung zu verhindern, das Gemeinschaftsgefühl der Bevölkerung über Volksfeste zu stärken, Frauen und Minderheiten mit einzubeziehen und insgesamt einen regionalen Patriotismus zu fördern. Schließlich erkannten die politischen Verantwortlichen, dass Bündnispartner und Unterstützer außerhalb der Region gewonnen werden mussten, damit den der pfälzer Volksaufstand erfolgreich durchgeführt werden konnte.

5) Dass der pfälzer wie der badische Volksaufstand militärisch blutig niedergeschlagen werden würde, war bei allen ersichtlichen militärischen Mängel der Revolutionsarmeen nicht zwingend notwendig und damit auch nicht eindeutig voraussagbar. Plan wie Hoffnung war es, die sogenannte zweite Revolution in benachbarte Regionen zu entfachen und sie in ihre militärischen Aktionen einzubeziehen. Diese scheiterte nicht nur an den zersplitterten deutschen staatlichen Verhältnissen, sondern auch an den sich abzeichnenden neuen klassenpolitischen Konstellationen.

III.

Über diese zusammenfassende Beschreibung hinaus geht es bei den revolutionären Prozessen 1848/49 um eine historiographisch weitgehend vernachlässigte empirische Tiefenschicht. Der marxistische Historiker Eric Hobsbawn stellte sie einmal als Vielschichtigkeit von Menschen in der Gesellschaft („multidimensionality of human beings in society“)[2] vor. Der Historiker Frank Lorenz Müller beschrieb sie als Handlungschance im gesellschaftlichen Veränderungprozeß 1848/49:

„Das Gesamtphänomen der Revolutionen von 1848/49 war weniger bürgerlich-elitär, weniger liberal, national und parlamentarisch, weniger städtisch und weniger fortschrittlich als lange angenommen. Vielmehr nutzten zahlreiche Bevölkerungsgruppen die Chance, die ihnen der dynamische Veränderungsprozess bot. Ebenso unterschiedlich wie spezifisch wie die Interessen, die nun zum Ausdruck kamen, waren die zu ihrer Durchsetzung gewählten Politikformen. Erst wenn man Wirtshausdebatten, Katzenmusiken, Leseabende und Schmucksammlungen – neben den Märzforderungen, den Barrikadenkämpfen und der Paulskirche – miteinbezieht, kommt man zu einer angemessenen Gesamtbewertung. In ihrem Zentrum steht nicht die Frage nach dem Misserfolg eines bürgerlichen Projekts, sondern die Tatsache eines tiefgreifenden, umfassenden Wandels, eines bis dahin beispiellosen Politisierungs-, Mobilisierungs- und Kommunikationsprozesses.“[3]

IV.

Dies bedenkend, könnte weiterführend an theoretische Überlegungen eines so dialektisch wie visionär denkenden linksrheinischen Pfälzers angeschlossen werden. Als Vordenker des Nicht-Mehr-Seins im faktischen Realen und des Noch-Nicht-Seins im real Möglichen, der den „alten Menschheitstraum“ von Freien und Gleichen als Geist der Utopie „philosophisch subtilisierte zu einer allgemeinen Theorie der Gesellschaft, einer visionären Utopie“[4], entwickelte Ernst Bloch Überlegungen zum „Noch-Nicht-Bewußten“ und zum „Latenten in der Welt“ als Zugang zu dem „Land, wo noch niemand war, ja, das selber noch niemals war“[5] und verdichtete diese später, im antifachistischen Exil Mitte der 1930 Jahre, zum Leitkonzept der UnGleichzeitigkeit.

Würden Blochsche Kategorien auf die hier narrativ erinnerten Ereignisse angewandt, könnte sich eine erweiterte erkenntnisleitende Fragestellung[6] als produktiv erweisen und helfen, den soziohistorischen Charakter der Pfälzer Bewegung 1848/49 zu verstehen als etwas Neues mit Tertium-Charakter: praktisch noch immer im bäuerlich-kleinstädtischen Habitus und keineswegs proletarisch lebend, in der Breite kleinbürgerlich facettiert, theoretisch weder gleichzeitig noch ungleichzeitig und auch keinesfalls infolge wirksamer religiöser Ideologie/n reaktionär.

Die sich aus dieser Perspektive ergebenden Fragen über Fragen sollten in diesen Thesen nur ausblickend gestellt werden. Sie hier weiterführend auszuarbeiten konnte ebensowenig Aufgabe dieser kurzen historisch-narrativen Erinnerung sein wie eine so sinnvolle wie mögliche weltgeschichtliche Verortung der Pfälzer Ereignisse.

Anmerkungen

[1] Ausführlicher Wilma Ruth Albrecht: „Des Volkes Recht ...“ Pfalz und Pfälzer 1848/49. Erinnernde Annäherungen an regionalgeschichtliche Ereignisse. In: Jahrbuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 13. Jg. 2014, Heft III, S. 197-220.

[2] Eric J. Hobsbawm: Working-class Internationalism, in: Contributions to the History of Labour & Society, Bd. I, 1988, S. 3-16; zu diesem marxistischen Universalhistoriker vgl. Richard Albrecht, Zwischenwelten und Übergangszeiten: Eric Hobsbawms letztes Buch http://www.trend.infopartisan.net/trd1211/t451211.html

[3] Frank Lorenz Müller: Die Revolution von 1848/49. Darmstadt 2002, S. 143.

[4] René König: Soziologie in Deutschland. Begründer – Verfechter – Verächter. München 1987, S. 241.

[5] Ernst Bloch: Über Eigenes Selber; in: Morgenblatt für die Freunde der Literatur Nr. 14, Sondernummer Ernst Bloch vom 2. November 1959, S. 1f.; weiterführend ders.: Erbschaft dieser Zeit. Zürich 1936.

[6] Zum Zusammenhang Richard Albrecht: The Utopian Paradigm, in: Communications, 16 Jg. 1991, No. 3, S. 283-318; zum „doppelten Doppelcharakter“ und zum „soziologischen Doppelaspekt“ ders., „Zerstörte Sprache – Zerstörte Kultur“. Ernst Blochs Exilvortrag. In: Bloch-Jahrbuch, 13. Jg. 2009, S. 223-240; ders., GESELLSCHAFT. Eine Einführung in soziologische Sichten; in: Aufklärung und Kritik, 21 (2014) II, S. 169-187.

Editorische Hinweise

Wilma Ruth Albrecht ist Sprach- und Sozialwissenschaftlerin (Dr.rer.soc., Lic.rer.reg.) mit Arbeitschwerpunkten aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Sie veröffentlichte unter anderem die Bücher Bildungsgeschichte/n (Shaker Verlag, 2006), Harry Heine (Shaker 2007), Nachkriegsgeschichte(n) (Shaker 2008), Max Slevogt 1868-1932 (Hintergrund Verlag 2014), PFALZ & PFÄLZER. LeseBuch Pfälzer Volksaufstand 1849 (Verlag freiheitsbaum 2014) sowie zuletzt ihr vierbändiges Werk ÜBER LEBEN. Roman des Kurzen Jahrhunderts (Verlag freiheitsbaum: Edition Spinoza 2016-2019). Korrespondenzadresse dr.w.ruth.albrecht@gmx.net

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