Auf das Gewitter
folgt Sonnenschein. Vor rund einem Monat war es
noch zu verbalen Donnergeräuschen zwischen der
französischen und der neuen italienischen Regierung
gekommen: Nachdem Italiens neuer rechtsextremer
Innenminister Matteo Salvini seit dem Sonntag, den
10. Juni d.J. dem humanitären Rettungsschiff Aquarius mit über 600
Migranten an Bord das Einlaufen in Häfen seines
Landes verweigerte, sprach Emmanuel Macron im
Elysée-Palast von
„Zynismus“
bei den
italienischen Behörden. Prompt grollte es aus Rom
zurück, wo Salvini eine offizielle
„Entschuldigung“
aus Frankreich
einforderte und mit einer Absage des am 15. Juni
dieses Jahres geplanten Gipfeltreffen Macrons mit
dem frisch designierten italienischen
Regierungschef Guiseppe Conte drohte.
Mit seiner Kritik
meinte Macron wohl eher das Ansinnen des starken
Mannes der regional-rassistischen Lega, aus seiner
Sicht „die Last“ anderen EU-Ländern aufbürden zu
wollen, als den Umgang mit den betreffenden
Menschen. Als nämlich Spaniens ebenfalls frisch im
Amt befindlicher Premier Pedro Sanchez die Aquarius
willkommen hieß, und bevor diese am 17. Juni 18 im
Hafen von Valencia einlief, fuhr das Schiff in nur
sieben Kilometern Entfernung an französischen
Küsten vorbei – genauer, an denen der
Mittelmeerinsel Korsika. Frankreichs Staatsführung
zog es jedoch vor, „Spanien
unsere Hilfe anzubieten“.
Ein Anlegen in französischen Häfen kam nicht in
Frage. Ganz im Sinne der Politik, die Frankreich
seit dem Sommer 2017 gegenüber den im Mittelmeer
operierenden humanitären Rettungsschiffen für
Migranten in Seenot praktiziert.
Die korsischen
Nationalisten unter Gilles Simeoni und Jean-Guy
Talamoni, die die Insel regieren, seitdem ihre
Liste im Dezember 2017 eine überwältigende Mehrheit
von knapp sechzig Prozent der Stimmen bei den
Regionalparlamentswahlen erzielte, boten den
Migranten an Bord übrigens eine „Aufnahme
in Korsika“
auf. Dies liegt zwar nicht in den Kompetenzen der
Inselregierung, die Offerte war aber zur
Demonstration einer Abgrenzung von Paris nützlich.
Dort wollte man dies jedoch nicht in Betracht
ziehen.
Die
Gewitterwolken im bilateralen Verhältnis verzogen
sich, als Präsident Macron und Premier Conte am
Vormittag des 15. Juni d.J. dann doch
zusammentrafen. Im Anschluss sprachen beide Herren
vor der Presse von einer „perfekten
Eintracht“ (entente parfaite)
– es war Guiseppe Conte, der diesen Begriff
benutzte. Macron seinerseits sprach davon, das
Treffen sei
„freundschaftlich“
verlaufen und sprach von einer Zusammenarbeit „Hand in
Hand“,
ausdrücklich nannte er dabei die Felder der
Migrationspolitik sowie der Gestaltung der
Gemeinschaftswährung Euro.
Er stellte in
Aussicht, eine Neugestaltung der Dublin-Regeln, um
Aufnahmeländer wie Italien und Griechenland etwa
mittels Verteilungsschlüsseln zu „entlasten“,
sei möglich.
Am 25. Juni dieses Jahres traf Macron den
italienischen Regierungschef erneut, am Rande
seines – in Frankreich aufgrund der Freiheiten,
welche Macron sich gegenüber dem staatsoffiziellen
Laizismus herausnimmt, umstrittenen – Besuchs im
Vatikan. Und beim EU-Gipfel am Donnerstag und
Freitag, den 28. und 29. Juni 2018 in Brüssel waren
es wiederum Macron und Conte, die gemeinsam am
Abend der langen Gipfelnacht den ersten Entwurf für
die Beschlusslage formulierten.
Letztere sieht
„Aufnahmezentren“
vor, in denen eine Trennung zwischen
asylberechtigten Flüchtlingen und aus Sicht der
beteiligten Staatsapparate „illegalen
und illegitimen“ Migranten
vorgenommen werden soll und die geschlossene
Einrichtungen bilden könnten. Wo genau diese liegen
sollen, bleibt jedoch umstritten, da die Einigung
kryptisch formuliert ist. Im Nachhinein erklärte
Emmanuel Macron zunächst, Italien und andere
„Erstaufnahmeländer“
am Mittelmeer könnten mögliche Standorte sein.
Conte kommentierte dazu jedoch: „Macron war
müde“,
womit er auf den Verlauf der Verhandlungsnacht bis
vier Uhr früh am 29. Juni d.J. anspielte. Von
Italien als Standort sei keine Rede gewesen. In
Regierungskreisen in Rom denkt man tatsächlich eher
an Länder wie Libyen für die Ansiedlung der
Sortierzentren
– das Königreich
Marokko hatte am ersten Tag des EU-Gipfels
(28.06.18) eine offizielle Absage erteilt, was eine
Errichtung auf seinem Boden betrifft.
Aus dem Elysée-Palast betonte man zum Nachklang des
Gipfels eilig, Frankreich sei jedenfalls kein Ort
dafür, da es geographisch nicht in der
„ersten
Linie“
der Einreisezone
liege.
Eine Woche zuvor
hatte Macron am 22. Juni 18 bei einer Ansprache im
westfranzösischen Quimper unterdessen
„die Lepra,
die sich ausbreitet“ verbal
attackiert, und mit diesem Ausdruck den steigenden
nationalen Egoismus belegt. Er war in der Folge
heftig umstritten – Kritik gab es auch auf der
Linken, weil es Kopfschmerzen bereitet, wenn ein
Staatschef biologistische oder biologisierende
Metaphern und Krankheitsbegriffe für politische
Phänomene meint. Weitaus stärker noch wurde er auf
der extremen Rechten angefeindet, wo man sich
seitdem in einer Umkehrung des Stigmas stolz und
ironisch selbst als
„Lepraträger“
bezeichnet und EU-Europa eine Ausweitung der
Krankheit verspricht.
Einmal mehr hatte
es Emmanuel Macron vor allem Kopfschmerzen
bereitet, dass einige EU-Staaten sich in seinen
Augen mehr oder minder gerechten Lastenverteilung
untereinander entziehen möchten. Das gilt für die
osteuropäischen Länder der so genannten
Visegrad-Gruppe, aber auch für die neuen
Regierungen Italiens und Österreichs. Letztere
spricht sich in einem inoffiziellen Papier, das für
ein Expertentreffen der 28 Mitgliedsländer der EU
am 02. und 03. Juli 18 in Wien vorbereitet worden
war, allerdings ohnehin für eine vollständige
Abschaffung des Asylrechts auf europäischem
Territorium aus – Asylanträge sollen künftig
ausschließlich
in diplomatischen Vertretungen außerhalb
der EU gestellt werden dürfen. Würde ihnen nicht
stattgegeben, entfielen dann de facto sämtliche
rechtlichen Verfahrensgarantien.
So weit geht die
französische Staatsführung nicht. Allerdings übt
auch sie sich längst in einer Strategie der
Externalisierung der Migrationspolitik jenseits der
EU-Grenzen. Seit Dezember 2017 etwa prüft das
französische Asylamt OFPRA etwa Anträge für aus
Libyen ausgeflogene Migranten auf dem Boden der
mittelafrikanischen Staaten Tschad und Niger, was
als positives Pilotprojekt dargestellt wird.
Am 26. Juni d.J.
ereiferte sich Emmanuel Macron dagegen über NGOs
wie die deutsche Organisation Lifeline, die vor den
libyschen Mittelmeerküsten herumschipperten und das
Auffischen von Flüchtlingen nicht der – seit
einiger Zeit berüchtigten – libyschen Küstenwache
überließen.
Diese betrieben, so tönte es aus dem Elyséepalast
wie sonst aus Rom, „das
Geschäft der Schlepper“.
Macron fügte
hinzu, Frankreich werde einige der Migranten an
Bord des gleichnamigen Schiffes Lifeline
aufnehmen, die
Ende Juni dieses Jahres in Malta anlandeten, doch
das Verhalten der NGO sei nicht hinnehmbar, denn
mit ihm gebe es „keinerlei
Kontrolle mehr“.
Am 03. Juli 18 wurde konkretisiert, dass Frankreich
insgesamt 132 der Geflüchteten aufnehmen wird, die
sich an Bord der Aquarius und der
Lifeline befanden und die
ihre zusammen rund neunhundert Passagiere in
Spanien sowie auf Malta brachten. Zuvor war durch
das OFPRA geprüft worden, welche der unter anderem
aus dem Sudan stammenden Migranten die höchsten
Aussichten aufweisen, dass ihnen politisches Asyl
in Frankreich gewährt wird.
Die echte Überraschung kam unterdessen vom
französischen Verfassungsgericht. Dieses entschied
am vorigen Freitag, en 06. Juli d.J., das „Prinzip
der Brüderlichkeit“
– abgeleitet aus
der 1789er Devise „Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit“,
mit der die Französische Republik sich schmückt –
habe Verfassungsrang. Als solches verbiete es
Strafverfolgungen für Menschen, die aus
uneigennützigen Motiven Migranten in „illegaler“
Aufenthaltssituation helfen. Das so genannte
délit de
solidarité
(„Solidaritäts-Vergehen“) traf in jüngerer Zeit
eine wachsende Zahl von Migrantenhelfer, vor allem
im Alpenraum des französisch-italienischen
Grenzgebiets. Unterdessen traf am Samstag der
„Solidaritätsmarsch“,
der drei Monate lang ehrenamtlich Engagierte zu Fuß von Ventimiglia
an der Grenze Frankreichs und Italiens durch ganz
Frankreich bis nach Calais führte, in der Stadt am
Ärmelkanal ein. Infolge der Besetzung einer Fähre,
die von Calais ins britische Dover fährt, wurden
mehrere Dutzend Personen festgenommen. Am Dienstag
dieser Woche (10.07.18) befanden sich fünf von
ihnen, ohne Aufenthaltstitel, in Abschiebehaft.
Auch dieses Vorgehen ist neu: In der Vergangenheit
hatte die Staatsmacht auch unter konservativen
Regierungen politische Protestaktionen von Sans
papiers
oder „illegalisierten“ Migranten ohne Repressalien
gewähren lassen. 1997 konnte ihr damaliger Sprecher
Ababacar Diop noch den konservativen
Premierminister Alain Juppé auf einer Buchmesse
öffentlich zur Rede stellen und ihm symbolisch sein
Buch
Nous, sans
papiers
de France
als Geschenk überreichen. Heute weht jedoch
insgesamt ein rauerer Wind...
Editorischer
Hinweis
Wir erhielten
den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.
Es handelt sich hier um eine ausführliche Fassung
eines Manuskripts, das leicht überarbeitet in der
Wochenzeitung Jungle World vom 12. Juli 18
erschien.
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