Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Gemeinsam gegen Migrant/inn/en
Auf EU-Ebene kommt „Pro-Europäer“ Emmanuel Macron den „zweifelhaften Europäern“ in der italienischen Regierung unter rechtsextremer Beteiligung weit entgegen

 

08/2018

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Auf das Gewitter folgt Sonnenschein. Vor rund einem Monat war es noch zu verbalen Donnergeräuschen zwischen der französischen und der neuen italienischen Regierung gekommen: Nachdem Italiens neuer rechtsextremer Innenminister Matteo Salvini seit dem Sonntag, den 10. Juni d.J. dem humanitären Rettungsschiff Aquarius mit über 600 Migranten an Bord das Einlaufen in Häfen seines Landes verweigerte, sprach Emmanuel Macron im Elysée-Palast von „Zynismus“ bei den italienischen Behörden. Prompt grollte es aus Rom zurück, wo Salvini eine offizielle „Entschuldigung“ aus Frankreich einforderte und mit einer Absage des am 15. Juni dieses Jahres geplanten Gipfeltreffen Macrons mit dem frisch designierten italienischen Regierungschef Guiseppe Conte drohte.

Mit seiner Kritik meinte Macron wohl eher das Ansinnen des starken Mannes der regional-rassistischen Lega, aus seiner Sicht „die Last“ anderen EU-Ländern aufbürden zu wollen, als den Umgang mit den betreffenden Menschen. Als nämlich Spaniens ebenfalls frisch im Amt befindlicher Premier Pedro Sanchez die Aquarius willkommen hieß, und bevor diese am 17. Juni 18 im Hafen von Valencia einlief, fuhr das Schiff in nur sieben Kilometern Entfernung an französischen Küsten vorbei – genauer, an denen der Mittelmeerinsel Korsika. Frankreichs Staatsführung zog es jedoch vor, „Spanien unsere Hilfe anzubieten“. Ein Anlegen in französischen Häfen kam nicht in Frage. Ganz im Sinne der Politik, die Frankreich seit dem Sommer 2017 gegenüber den im Mittelmeer operierenden humanitären Rettungsschiffen für Migranten in Seenot praktiziert.

Die korsischen Nationalisten unter Gilles Simeoni und Jean-Guy Talamoni, die die Insel regieren, seitdem ihre Liste im Dezember 2017 eine überwältigende Mehrheit von knapp sechzig Prozent der Stimmen bei den Regionalparlamentswahlen erzielte, boten den Migranten an Bord übrigens eine „Aufnahme in Korsika“ auf. Dies liegt zwar nicht in den Kompetenzen der Inselregierung, die Offerte war aber zur Demonstration einer Abgrenzung von Paris nützlich. Dort wollte man dies jedoch nicht in Betracht ziehen.

Die Gewitterwolken im bilateralen Verhältnis verzogen sich, als Präsident Macron und Premier Conte am Vormittag des 15. Juni d.J. dann doch zusammentrafen. Im Anschluss sprachen beide Herren vor der Presse von einer „perfekten Eintracht“ (entente parfaite) – es war Guiseppe Conte, der diesen Begriff benutzte. Macron seinerseits sprach davon, das Treffen sei „freundschaftlich“ verlaufen und sprach von einer Zusammenarbeit „Hand in Hand“, ausdrücklich nannte er dabei die Felder der Migrationspolitik sowie der Gestaltung der Gemeinschaftswährung Euro. Er stellte in Aussicht, eine Neugestaltung der Dublin-Regeln, um Aufnahmeländer wie Italien und Griechenland etwa mittels Verteilungsschlüsseln zu „entlasten“, sei möglich. Am 25. Juni dieses Jahres traf Macron den italienischen Regierungschef erneut, am Rande seines – in Frankreich aufgrund der Freiheiten, welche Macron sich gegenüber dem staatsoffiziellen Laizismus herausnimmt, umstrittenen – Besuchs im Vatikan. Und beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag, den 28. und 29. Juni 2018 in Brüssel waren es wiederum Macron und Conte, die gemeinsam am Abend der langen Gipfelnacht den ersten Entwurf für die Beschlusslage formulierten.

Letztere sieht „Aufnahmezentren“ vor, in denen eine Trennung zwischen asylberechtigten Flüchtlingen und aus Sicht der beteiligten Staatsapparate „illegalen und illegitimen“ Migranten vorgenommen werden soll und die geschlossene Einrichtungen bilden könnten. Wo genau diese liegen sollen, bleibt jedoch umstritten, da die Einigung kryptisch formuliert ist. Im Nachhinein erklärte Emmanuel Macron zunächst, Italien und andere „Erstaufnahmeländer“ am Mittelmeer könnten mögliche Standorte sein. Conte kommentierte dazu jedoch: „Macron war müde“, womit er auf den Verlauf der Verhandlungsnacht bis vier Uhr früh am 29. Juni d.J. anspielte. Von Italien als Standort sei keine Rede gewesen. In Regierungskreisen in Rom denkt man tatsächlich eher an Länder wie Libyen für die Ansiedlung der Sortierzentren – das Königreich Marokko hatte am ersten Tag des EU-Gipfels (28.06.18) eine offizielle Absage erteilt, was eine Errichtung auf seinem Boden betrifft. Aus dem Elysée-Palast betonte man zum Nachklang des Gipfels eilig, Frankreich sei jedenfalls kein Ort dafür, da es geographisch nicht in der „ersten Linie“ der Einreisezone liege.

Eine Woche zuvor hatte Macron am 22. Juni 18 bei einer Ansprache im westfranzösischen Quimper unterdessen „die Lepra, die sich ausbreitet“ verbal attackiert, und mit diesem Ausdruck den steigenden nationalen Egoismus belegt. Er war in der Folge heftig umstritten – Kritik gab es auch auf der Linken, weil es Kopfschmerzen bereitet, wenn ein Staatschef biologistische oder biologisierende Metaphern und Krankheitsbegriffe für politische Phänomene meint. Weitaus stärker noch wurde er auf der extremen Rechten angefeindet, wo man sich seitdem in einer Umkehrung des Stigmas stolz und ironisch selbst als „Lepraträger“ bezeichnet und EU-Europa eine Ausweitung der Krankheit verspricht.

Einmal mehr hatte es Emmanuel Macron vor allem Kopfschmerzen bereitet, dass einige EU-Staaten sich in seinen Augen mehr oder minder gerechten Lastenverteilung untereinander entziehen möchten. Das gilt für die osteuropäischen Länder der so genannten Visegrad-Gruppe, aber auch für die neuen Regierungen Italiens und Österreichs. Letztere spricht sich in einem inoffiziellen Papier, das für ein Expertentreffen der 28 Mitgliedsländer der EU am 02. und 03. Juli 18 in Wien vorbereitet worden war, allerdings ohnehin für eine vollständige Abschaffung des Asylrechts auf europäischem Territorium aus – Asylanträge sollen künftig ausschließlich in diplomatischen Vertretungen außerhalb der EU gestellt werden dürfen. Würde ihnen nicht stattgegeben, entfielen dann de facto sämtliche rechtlichen Verfahrensgarantien.

So weit geht die französische Staatsführung nicht. Allerdings übt auch sie sich längst in einer Strategie der Externalisierung der Migrationspolitik jenseits der EU-Grenzen. Seit Dezember 2017 etwa prüft das französische Asylamt OFPRA etwa Anträge für aus Libyen ausgeflogene Migranten auf dem Boden der mittelafrikanischen Staaten Tschad und Niger, was als positives Pilotprojekt dargestellt wird.

Am 26. Juni d.J. ereiferte sich Emmanuel Macron dagegen über NGOs wie die deutsche Organisation Lifeline, die vor den libyschen Mittelmeerküsten herumschipperten und das Auffischen von Flüchtlingen nicht der – seit einiger Zeit berüchtigten – libyschen Küstenwache überließen. Diese betrieben, so tönte es aus dem Elyséepalast wie sonst aus Rom, „das Geschäft der Schlepper“. Macron fügte hinzu, Frankreich werde einige der Migranten an Bord des gleichnamigen Schiffes Lifeline aufnehmen, die Ende Juni dieses Jahres in Malta anlandeten, doch das Verhalten der NGO sei nicht hinnehmbar, denn mit ihm gebe es „keinerlei Kontrolle mehr“. Am 03. Juli 18 wurde konkretisiert, dass Frankreich insgesamt 132 der Geflüchteten aufnehmen wird, die sich an Bord der Aquarius und der Lifeline befanden und die ihre zusammen rund neunhundert Passagiere in Spanien sowie auf Malta brachten. Zuvor war durch das OFPRA geprüft worden, welche der unter anderem aus dem Sudan stammenden Migranten die höchsten Aussichten aufweisen, dass ihnen politisches Asyl in Frankreich gewährt wird.

Die echte Überraschung kam unterdessen vom französischen Verfassungsgericht. Dieses entschied am vorigen Freitag, en 06. Juli d.J., das „Prinzip der Brüderlichkeit“ – abgeleitet aus der 1789er Devise „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, mit der die Französische Republik sich schmückt – habe Verfassungsrang. Als solches verbiete es Strafverfolgungen für Menschen, die aus uneigennützigen Motiven Migranten in „illegaler“ Aufenthaltssituation helfen. Das so genannte délit de solidarité („Solidaritäts-Vergehen“) traf in jüngerer Zeit eine wachsende Zahl von Migrantenhelfer, vor allem im Alpenraum des französisch-italienischen Grenzgebiets. Unterdessen traf am Samstag der „Solidaritätsmarsch“, der drei Monate lang ehrenamtlich Engagierte zu Fuß von Ventimiglia an der Grenze Frankreichs und Italiens durch ganz Frankreich bis nach Calais führte, in der Stadt am Ärmelkanal ein. Infolge der Besetzung einer Fähre, die von Calais ins britische Dover fährt, wurden mehrere Dutzend Personen festgenommen. Am Dienstag dieser Woche (10.07.18) befanden sich fünf von ihnen, ohne Aufenthaltstitel, in Abschiebehaft. Auch dieses Vorgehen ist neu: In der Vergangenheit hatte die Staatsmacht auch unter konservativen Regierungen politische Protestaktionen von Sans papiers oder „illegalisierten“ Migranten ohne Repressalien gewähren lassen. 1997 konnte ihr damaliger Sprecher Ababacar Diop noch den konservativen Premierminister Alain Juppé auf einer Buchmesse öffentlich zur Rede stellen und ihm symbolisch sein Buch Nous, sans papiers de France als Geschenk überreichen. Heute weht jedoch insgesamt ein rauerer Wind...

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich hier um eine ausführliche Fassung eines Manuskripts, das leicht überarbeitet in der Wochenzeitung Jungle World vom 12. Juli 18 erschien.