Die Bedeutung des wissenschaftlichen Sozialismus für die Geschichte der Ethik
Vortrag im Plenum der Deutschen Akademie der Wissenschaften

von Arthur Baumgarten

08/2018

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Herr Präsident! Meine Herren !

Moral und Ethik können und sollten unterschieden werden, obwohl die Grenze zwischen ihnen keine scharfe ist. Die Moral ist eine Diszi­plin, die zeigen will, welche Verhaltensregeln ein zu einer bestimmten Gesellschaft gehörender Mensch befolgen sollte, um in ihr als vollwer­tiges Mitglied anerkannt zu werden. Diese Regeln sind nach Eaum und Zeit im einzelnen sehr verschieden. Indessen enthalten sie, worauf hingewiesen worden ist, einen gemeinsamen Kern, etwas Allgemein­menschliches, so daß sich die Moral der Ethik nähern, ja in sie über­gehen kann. Die Ethik geht darauf aus, den Mensehen zur Erkenntnis eines höchsten Ideals des Handelns, eines summum bonum, zu verhel­fen, demgegenüber alle anderen Güter zur Bedeutungslosigkeit herab­sinken, ihnen, um es in religiöser Terminologie auszudrücken, eine Anweisung zum seligen Leben zu geben. Wenn ein Schriftsteller den Menschen sagt, wie sie auf der stets prekären Lebensreise verhältnis­mäßig am besten fahren, würden wir ihn eher als Moralisten denn als Ethiker bezeichnen, obwohl auch ersterer Name nicht recht zu passen scheint. Hiernach wäre Schopenhauer in seinem metaphysischen Haupt­werk, in dem er der Menschheit den Heilsweg verkündet, Ethiker, während wir die Maximen, die er in seinen Kleineren Schriften auf­stellt, zur Morallehre rechnen würden.

Was das oberste Prinzip der Ethik anbetrifft, so kommt in der Ge­schichte der Ethik dem Eudämonismus eine dominierende Rolle zu. Nach dem Eudämonismus ist das höchste Gut für den Menschen sein höchstes Glück, mag er sich dessen klar bewußt sein oder nicht. Die antike Ethik war der Hauptsache nach eudämonistisch, das gilt nicht etwa nur vom Epikureismus, sondern auch beispielsweise, wie Scho­penhauer mit Recht betont, von der Stoa. Plato steht im Gorgias wie sein Lehrer Sokrates auf dem Standpunkt des Eudämonismus. In sei­ner mittleren Periode wendet er sich von ihm ab, aber in seinem Alters­werk finden sich Worte, die sich als ein Bekenntnis zum Eudämonis­mus auffassen lassen. Jedenfalls kann der Neuplatonismus mit seiner Lehre von der Ekstase als der unbeschreiblichen Seligkeit der Rück­kehr der Seele zum Einen für den Eudämonismus in Anspruch genom­men werden. Die das Mittelalter beherrschende christlich-katholische Ethik ist nach überwiegender Lehre eudämonistisch. Den gleichen Charakter trägt in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit die Ethik von Spinoza und die von Hobbes, und Leibniz sagt, daß wer das Glück aus der Ethik verbannt, Chimären nachjagt. In der Blütezeit der Aufklärung, im 18. Jahrhundert, herrscht, wie wohl niemand be­zweifeln wird, der Eudämonismus. Eine höchst gewichtige Ausnahme muß allerdings gemacht werden: Kant tritt mit seiner formalen Ethik als Gegner der Glückseligkeitslehre auf (man denke nur an seinen be­rühmten Dithyrambus auf die Pflicht, der mit den Worten beginnt: Pflicht, du großer Name). Vom rein denkerischen Standpunkt gehört Kants Ethik u. E. nicht zu seinen größten Leistungen, aber sie hat auf die Folgezeit starken Einfluß ausgeübt. Sie wurde im 19. Jahr­hundert in Deutschland, und nicht nur hier, fast zur offiziellen Schul­ethik, und namhafte Philosophen glaubten sich veranlaßt, von nun an mit Geringschätzung auf den „seichten" Eudämonismus zu blicken. Das ist leicht zu erklären. Im 18. Jahrhundert war unter den hohen Obrigkeiten weitgehend der Glaube verbreitet, daß sie ihren Unter­tanen, soweit sie ihnen überhaupt nähere Beachtung schenkten, Glück gewähren könnten. Sie hatten daher gegen den Eudämonismus nichts einzuwenden. Die Situation änderte sich, als im 19. Jahrhundert die breiten Volksmassen immer vernehmlicher über ihr elendes Los murr­ten, sich zu organisieren begannen und mit einer Revolution drohten, die nicht mehr eine bürgerliche, sondern eine Volksrevolution sein würde. Jetzt hatten die führenden Kreise der Gesellschaft ein Inter­esse daran, daß in der Ethik der Glückshascherei ein Ende gesetzt werde. Die Kantsche Pflichtethik mußte ihnen weit vorteilhafter er­scheinen als die herkömmliche eudämonistische, besaßen sie doch die Machtmittel, den Inhalt der Pflicht so erscheinen zu lassen, wie es ihnen genehm war. Daß sie diesen Inhalt ganz anders bestimmten als es dem humanen Geist des Autors der Pflichtethik entsprach, kümmerte sie wenig. Ich muß bei der Abkehr von der eudämonistischen Ethik die sich im 19. Jahrhundert in erheblichem Umfang vollzog, immer an den Ausruf denken, der in Spittelers unsterblichem Gedicht „Der Olympische Frühling" Ananke, dem fühllosen Weltherrscher, ent­schlüpft, als er sieht, wie es sich die Götter bei Uranos wohl sein lassen und dauernd bei ihm bleiben wollen, anstatt ihr Amt auf dem Olymp zu übernehmen: „Ich glaube gar, die Unverschämten wollen Glück". Immerhin fehlt es auch im 19. Jahrhundert nicht an bedeu­tenden Denkern, die sich für den Eudämonismus einsetzen. Ich be-chränke mich darauf, Tschernyschewski zu nennen. Manche Mar­xisten sehen hierin einen der wenigen Irrtümer des ihnen mit gutem Grund so sympathischen großen russischen revolutionären Demo­kraten. Mir scheint, man könnte sich mit ihnen über den Eudämonis­mus einigen, wenn man zweierlei betont. Einmal, daß unter Glück keineswegs nur Sinnenglück — das wäre Hedonismus —, sondern auch die Vielzahl der geistigen Güter und ganz besonders der unerschütter­liche innerliche Friede, die volle Einigkeit des Menschen mit sich selbst, also das Glück, auf das die hellenistische eudämonistische Ethik das entscheidende Gewicht legte, zu verstehen ist. Sodann, daß wer tut, was zu tun ihm die höchste innere Befriedigung gewährt, da­bei durchaus nicht das Bewußtsein eines gewollten Glückgewinns zu haben braucht.

Kant meint, daß die Ethik den Menschen nicht zu sagen brauche, daß sie nach ihrem Glück streben sollten, das täten sie schon ohnedies. Wenn das auch richtig ist, so wissen sie doch nicht, worin ihr wahres Glück beschlossen liegt und wie sie es finden können, und hierüber hat die Ethik sie eben aufzuklären. Darum hat sich denn auch die Ethik bemüht, und man kann nicht sagen, daß es ihr in keiner Weise gelungen sei. Wir wissen heutzutage alle oder nahezu alle, welches die Leitsterne unseres Handelns sein sollten, damit unser Leben besser und glücklicher werde, und daran werden die jahrhundertelangen An­strengungen der Ethiker beteiligt sein. Aber wir verhalten uns nicht oder nur zu geringem Teil nach den Regeln, die wir rein theoretisch als richtig anerkennen. Da es nun aber das Anliegen jedes bedeutenderen Ethikers ist, die Menschheit tatsächlich auf den rechten Weg zu führen, mag auch der betreffende Autor erklären, daß ihm ein solcher Ehrgeiz fernliegt, hat die Ethik ihren eigentlichen Zweck verfehlt, was denn auch durch das landläufige Urteil über sie bestätigt wird. Dies gilt gleichermaßen für die religiöse wie die profane Ethik. Durch die Lite­ratur der Völker zieht sich von den Anfängen an bis auf unsere Zeiten die Klage über das Weltübel. Die religiösen Schriften sind sogar be­sonders beredt in dieser Hinsicht, Die Religionen wollen, daß sich das Hauptinteresse der Menschen auf eine höhere, transzendente Welt be­zieht. Eine diesseitige Religion ist, wie ein Philosoph der jüngsten Zeit sagt, das hölzernste aller Eisen! Trachten wir nach der ungetrübten Vereinigung der Seele mit Gott, die ewige Glückseligkeit ist. So lehrt die christliche Religon, und die transzendenten Philosophien lehren dem Ziel nach wesentlich das gleiche.

Die Ethik des Christentums, die historisch weitaus bedeutsamer als die transzendente Ethik Piatos, Plotins, Spinozas und anderer Metaphysiker ist, stellte es auf einen grundsätzlichen Wandel des irdi­schen Lebens der Menschen ab. Man denke an die christliche Lehre, daß bei wahrhafter Christianisierung der Welt das Reich Gottes auf Erden wie ein Dieb über Nacht kommen werde. Aber der grundsätz­liche Wandel der Gesellschaft, nach dem die Menschheit sich sehnte, wollte und wollte sich nicht einstellen. Ein englischer Schriftsteller sagt, wir könnten dem Christentum nicht noch einmal zweitausend Jahre geben, um sich zu bewähren. Das trifft ganz besonders für unsere Zeit zu, in der der Gedanke an das Jenseits ganz offensichtlich nicht mehr der weltbewegende Faktor ist, der er in früheren Zeiten war. Schon im Hinblick auf die Renaissance hören wir von Jacob Burckhardt: Diese Menschen schielten nicht mehr auf das Jenseits. Das Faustische: „Aus dieser Erde quellen meine Freuden, und diese Sonne scheinet meinen Leiden", ist seither immer nachdrücklicher geworden. Es ist das nicht zum wenigsten der Einstellung des modernen Menschen zur Wissenschaft, die ihn eine möglichst strenge wissenschaftliche Grund­lage für seine Weltanschauung suchen läßt, und sodann der kapita­listischen Gesellschaftsordnung zuzuschreiben, die es so trefflich ver­steht, den Geist in den Niederungen festzuhalten.

In der weltlichen Ethik behauptet das Gebot der Nächstenliebe, dem in der christlichen Ethik der zweite Platz zukommt, meist den ersten. Die Nächstenliebe, der Altruismus, das „alterius delectatione delec-tari", wie Leibniz definiert, wird als der rechte Weg zum wahren Glück angesehen. Nun gibt es ja gewiß Menschen, die eine solche Anweisung zum seligen Leben an sich bestätigt gefunden haben. „Alles für andere, nichts für sich", steht auf dem Grabstein Pestalozzis, und wer möchte bezweifeln, daß der große Menschenfreund glücklich gewesen ist. Aber die weitaus meisten Menschen handeln doch wohl, mögen sie es zu­geben oder nicht, nach dem entgegengesetzten Grundsatz: Jeder ist sich selbst der Nächste. Wie soll sich daran etwas ändern?

Sehen wir zu, ob die sozialistische Ethik die Lösung des Problems bringt. Wenden wir uns zunächst den Frühsozialisten oder, wie man auch sagt, utopischen Sozialisten zu. Dabei muß man sich vergegen­wärtigen, daß die Frühsozialisten — wir haben vor allem das Drei­gestirn St. Simon, Owen und Fourier vor Augen — nicht eigentlich als Ethiker auftraten, aber ihr Sozialismus, wennschon er nicht das war, was wir heute als ethischen Sozialismus bezeichnen, hatte wie jeder Sozialismus eine ethische Triebfeder, hatte eine Ethik zur Grundlage. Bei ihnen kam zum erstenmal der nicht ganz neue Gedanke zum Durch­bruch, daß, wenn die Menschen besser und glücklicher werden sollen, dies nicht unmittelbar von innen durch eine „conversio cordis" kom­men kann, daß hierzu vielmehr eine Änderung der äußeren Verhält­nisse, der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft erforderlich ist. Das bedeutete eine entscheidende Wendung in der Geschichte der Ethik. Es folgte daraus gemäß dem in der Ethik von jeher eine her­vorragende Rolle spielenden Altruismus, daß jeder sich nach besten Kräften bemühen müsse, an einem Wandel der Gesellschaft mitzu­arbeiten, der der Menschheit ein glüchlicheres Los als ihr bisheriges sichern werde. Fourier und Owen gingen in ihren Projekten der neuen Gesellschaft ins einzelne. Sie wollten zunächst ihre Pläne im kleinen Maßstab durchgeführt sehen. Fourier wartete in seinem Dachstübchen auf den Millionär, der ihm ein Phalanstere einrichten würde, und der sich nicht einstellen wollte. Owen widmete seinen mit Scharfsinn durchdachten Gründungen seine Lebensarbeit und sein Vermögen. Sie prosperierten eine Zeitlang, um dann ein stilles Ende zu finden. Owen kam unter den Frühsozialisten dem Kommunismus am nächsten. Er wurde so alt, daß es ihm noch möglich war, das Kommunistische Mani­fest zu lesen. Er stimme, meinte er, in den Zielen mit Marx überein, nur hinsichtlich der Mittel bestehe eine Differenz. Fourier und Owen waren im Irrtum, wenn sie sich der Hoffnung hingaben, solche Unter­nehmungen wie die Fourierschen Phalansteres oder die Owenschen Assoziationen könnten allmählich die kapitalistische Umwelt nach ihrem Bild umgestalten. So schön sie auch sein mochten, es war ihnen von vornherein bestimmt, von der Umwelt erstickt zu werden. Einen Irrtum anderer Art beging Henry de St. Simon. Er wollte, daß das gouvernement des homes durch eine administration des choses ersetzt werde, die von Industriellen, Bankiers, hervorragenden Landwirten, Ingenieuren, Technikern, Wissenschaftlern aller Art unter dem Bei­rat von Akademien im Interesse der überwiegenden Majorität geleitet werden sollte. Er wandte sich an eine Elite unter seinen Zeitgenossen, um sie aufzurufen, den großen Wandel, den er im Auge hatte, in die Wege zu leiten. Er vertraute, daß sich unter ihr eine genügende Zahl von hommes generaux finden werde, das heißt von Männern, die bereit wären, dem Gempinwohl ihre persönlichen egoistischen Interessen unterzuordnen. Kann man sich eine größere Illusion vorstellen? Eine Ironie des Schicksals ist es, wenn vor nicht langer Zeit ein französischer Nationalökonom in Erscheinungen wie dem Comite des Forges die be­ginnende Verwirklichung der Ideen St. Simons sieht, wobei er vergißt, daß St. Simon Sozialist war.

Bei allen Unzulänglichkeiten des Frühsozialismus, die seinen Lehren den Stempel des Utopischen aufdrücken, hat er das bleibende Ver­dienst, aufs eindringlichste darauf bestanden zu haben, daß eine ent­schiedene Wendung im Verhalten der Menschen zu den alten ethischen Forderungen nicht mitten aus der kapitalistischen Gesellschaft durch innere Selbstvervollkommnung der Individuen hervorgehen könne, daß hierzu vielmehr eine grundsätzliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse die unerläßliche Voraussetzung sei. Was dem Frühsozia­lismus fehlte, um die Welt durchgreifend umzugestalten, auch unter ethischem Gesichtspunkt umzugestalten, brachte der wissenschaftliche Sozialismus, der von Marx und Engels begründet wurde. Es war viel, es war nicht mehr und nicht weniger als eine neue Gesellschaftswissen­schaft. Marx und Engels schufen, ein reiches Erbe der Vergangenheit verwertend, eine Wissenschaft, die, was auch immer im einzelnen gegen sie eingewendet werden mag, der Methode nach eine exakte ist, somit etwas, das vorher nicht existiert hatte. Sie ermittelten die Be-wegungs-, die Entwicklungsgesetze der menschlichen Gesellschaft. Sie zeigten, daß die kapitalistische Gesellschaftsordnung gemäß den ihr immanenten Widersprüchen nichts Ewiges ist, wie die Nationalöko­nomen und auch die Philosophen bisher gemeint hatten, daß im Kapi­talismus gesetzmäßig eine Klasse, das Proletariat, zur Entstehung gelangt, deren materielle und geistige Lage allmählich so unerträglich wird, daß sie zu der Entschlossenheit, bewußten Zielsetzung und Or­ganisation heranreift, die es ihr ermöglichen, in einer Revolution das kapitalistische Regime zu beseitigen und durch ein sozialistisches zu ersetzen. Das sozialistische Regime muß auf der Vergemeinschaftung des Eigentums an den wichtigsten Produktionsmitteln beruhen. Nur so kommt es dazu, daß die Gesellschaft zu einer alle Lebensgebiete umfassenden solidarischen Arbeitsgemeinschaft wird. In einer solchen Gemeinschaft kann jeder alle seine Fähigkeiten entfalten, und wird dank der sich ständig steigernden Produktionsfähigkeit schließlich der Grundsatz verwirklicht: jeder arbeitet nach seinen Fähigkeiten und konsumiert nach seinen Bedürfnissen. In ihr regiert das Volk wahrhaft sich selbst, und kommt der Staat als Zwangsapparat mit der Zeit in Wegfall. In ihr wird denen, die mit Verständnis an ihr teilnehmen, das hohe Glück vergönnt, sich als eins zu fühlen mit der um steten Fort­sehritt ringenden Gesamtheit. Ist es nicht des Schweißes der Edlen wert, an der Erreichung der Ziele des wissenschaftlichen Sozialismus mitzuarbeiten? Dafür, daß diese Ziele, die heute noch nirgends voll­ständig erreicht sind, erreicht werden, ist mancherlei erforderlich, wo­von hier nicht des näheren die Rede sein kann. Vor allem muß die Erkenntnis der für unsere Epoche maßgeblichen gesellschaftlichen Ge­setze in die weitesten Kreise der Arbeiterschaft hineingetragen wer­den, da diese andernfalls ihre historische Mission nicht erfüllen könnte. Daher muß eine Partei gebildet werden, die ausgerüstet mit der mar­xistischen Wissenschaft, die breiten Massen der Arbeiterschaft be­lehrt, wobei sie bereit zu sein hat, von ihnen zu lernen, und die Politik der Arbeiterbewegung in Strategie und Taktik gemäß dem, was die jeweilige gesellschaftliche Lage verlangt, richtig leitet. Eine solche Partei haben Marx und Engels, bei denen Theorie und Praxis stets eine unteilbare Einheit war, begründet, und später hat nach mancherlei Wendungen der Parteigeschichte in der Leninschen bolschewistischen Partei, die die siegreiche russische Oktoberrevolution durchführte, der marxistische Gedanke eine würdige Verkörperung gefunden. Der Sozialismus, der 1917 in einem Lande siegte, hat nach dem zweiten Weltkrieg in weiteren 11 Ländern Asiens und Europas gesiegt. Er ist zu einem Weltsystem geworden, das von der Elbe bis zum Stillen Ozean reicht, und ca. eine Milliarde Menschen umfaßt. So wie einst der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, so bildet der Über­gang vom Kapitalismus zum Sozialismus den wichtigsten Inhalt unserer Geschichtsperiode. Wenn sich in unserer Zeit allmählich alles ein­gestellt hat, was für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus erforderlich war, so ist das kein Zufall, sondern mußte nach gesell­schaftlichem Gesetz so kommen, aber ein Zufall ist es, wenn diese oder jene Arbeiterpartei in der Übergangszeit wegen ungenügender Berücksichtigung der für sie maßgeblichen Einzelgesetzmäßigkeiten Fehler begeht, die unter Umständen die Entwicklung zum Sozialismus erheblich hemmen können. Ich betone das ausdrücklich, weil, wenn man annimmt, daß bei der Verwirklichung des Sozialismus alles nach mechanischen, automatischen Gesetzen vor sich gehe, — in diesem Sinne ist der Marxismus bisweilen mißverstanden worden — die Be­ziehung des Sozialismus zur Ethik, die eine gewisse Freiheit der Ent­scheidungen voraussetzt, in Wegfall käme.

Weil Marx und Engels im Sozialismus nicht „einen Zustand, der gemacht werden soll", sondern eine sich vollziehende Bewegung sahen, wandten sie sich leidenschaftlich gegen alle Versuche, den Sozialismus ethisch oder religiös zu begründen und ihn damit in das vormarxisti­sche Stadium zurückzuwerfen, ihm den Boden der historischen Not­wendigkeit unter den Füßen wegzuziehen. Infolgedessen haben viele verständnislose Kritiker den Marxismus für „moralfrei" erklärt, wo­bei bisweilen sogar der Vorwurf der Immoralität anklingt. Worauf es ihnen ankam, war nicht ein Appell an den guten Willen, sondern der wissenschaftliche Nachweis, daß die Arbeiterklasse, sie und keine andere, durch geschichtliches Gesetz genötigt wird, das Joch des Kapi­talismus zu brechen und damit nicht nur sich selbst, sondern die ganze Gesellschaft zu befreien, den Menschen aus der Entfremdung zu sich selbst auf höherer Stufe als der ursprünglichen zurückzuführen. Aber wenn Marx und Engels nicht sowohl von dem, was sein soll, als vielmehr von dem, was ist und sein wird, ausdrücklich sprechen, so hindert das nicht, daß ihre Lehre implicite eine Ethik enthält. Auf jeder Seite ihrer Werke wird eine ethische Präokkupation spürbar. Die Ziele, die sich die aus der Revolution hervorgehende neue Ge­sellschaft setzen wird und setzen muß, wenn sie nicht einer kapitalisti­schen Gegenrevolution zum Opfer fallen will, sind uns im wesentlichen aus der früheren Literatur bekannt, nur finden wir sie im wissenschaft­lichen Sozialismus bereichert, präzisiert und systematisch geordnet wieder. Daß in der sozialistischen Gesellschaft jeder gleichermaßen alle seine Anlagen frei entwickeln können soll, daß ihm voller Anteil an sämtlichen materiellen und kulturellen Gütern zu gewähren ist, und daß diese Gesellschaft bestimmt ist, in immer höherem Grade eine die Fülle der Lebensgebiete umfassende solidarische Arbeitsgemein­schaft zu werden, das unterscheidet den wissenschaftlichen Sozialis­mus nicht vom Frühsozialismus. Seine eigentliche Originalität besteht, wie ich schon sagte, darin, daß er zum erstenmal der Menschheit einen gangbaren, heute schon in zahlreichen Ländern begangenen Weg ge­zeigt hat, wie die ihr vorschwebenden Ideale Ereignis werden können.

Man kann in der Entwicklung der dem wissenschaftlichen Sozialis­mus zugrunde liegenden Ethik zwei Stadien unterscheiden. Das erste reicht von seinen Anfängen bis zur siegreichen sozialistischen Revo­lution, das zweite beginnt mit der Begründung eines sozialistischen Re­gimes. Im ersten verlangt die sozialistische Ethik von denen, die sich zu ihr bekennen, daß sie opferbereit mit ihrer ganzen Persönlichkeit für den Sieg der sozialistischen Sache einstehen. Auch bei den Un­zähligen, die sich bis zur Preisgabe ihres Lebens für die Ziele der Arbeiterbewegung einsetzten, auch bei diesen zum Teil unbekannten Soldaten der Armee des Sozialismus kommt der Eudämonismus zu seinem Recht. Denn sie finden in ihrer unbedingten, selbst vor dem Tode nicht zurückschreckenden Hingabe an ein hohes Ideal, trotz mancher Stunden des Zweifels, die nicht ausbleiben mögen, eine tiefe innere Befriedigung, die ein größeres Glück ist als jedes andere. Es gibt ein schönes Gedicht aus der „Liberation", das diesem den parti des fusilles inspirierenden Gedanken ergreifenden Ausdruck verleiht. [Leider konnte ich es nicht mehr auffinden, sonst würde ich mir er­lauben, Ihnen einiges daraus vorzutragen.] Man begegnet häufig der Meinung, daß die Revolution stets ethisch verwerflich sei, weil wer an ihr teilnehme, sich sagen müsse, daß es in ihr unvermeidlich werde, die vor dem Forum der Ethik verurteilt werden müßten. Letzteres ist eine Tatsache, aber der Schluß, der aus ihr gezogen wird, ist unzulässig. Jedes Unternehmen von geschicht­licher Tragweite, mag es reaktionären, konservativen oder revolutio­nären Charakter tragen, macht peinliche Opfer erforderlich. Es des­halb als unsittlich abstempeln, hieße, den Menschen die aktive Teil­nahme am Weltgeschehen untersagen. Handelt es sich um den ge­schichtlichen Fortschritt der Menschheit, so müssen solche Opfer in Kauf genommen werden. Die Ethik soll der Kondition des Menschen angemessen sein, der für die Gestaltung seines eigenen Geschicks selbst verantwortlich ist. Schiebt man freilich die Verantwortlichkeit einer höheren Macht zu, dann gelangt man zu einer anderen Ethik. Die Ar­beiterparteien würden für die Sache des Sozialismus, das sei zwecks Vermeidung von Mißverständnissen gesagt, nicht soviel ausrichten, wie es tatsächlich der Fall ist, wenn sie unter ihren Angehörigen nicht solche hätten, die aus den verschiedensten Klassen stammen. Auch die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus kamen nicht aus der Arbeiterklasse. Lenin hat gezeigt, daß es nicht anders sein konnte.

Es wurde schon gesagt, daß das zweite Entwicklungsstadium der Ethik des Sozialismus mit der Begründung einer sozialistischen Ge­sellschaftsordnung einsetzt. Jetzt muß der Sozialismus aufgebaut wer­den, wozu sehr viele, die bisher dem Sozialismus fernstanden, heran­zuziehen sind. Daher sind die allgemeinsten Leitsätze des wissen­schaftlichen Sozialismus eingehend in einer für jedermann verständ­lichen Weise herauszuarbeiten, was bisher nicht so nötig war. Es ist denn auch eine umfangreiche Literatur über sozialistische Ethik ent­standen. Ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen, auf einen Gesichts­punkt hinzuweisen, der meines Erachtens nicht genügend betont zu werden pflegt. Hans Driesch sagt in seinem Buch „Die ethische Tat", die Frage von Krieg und Frieden sei d i e ethische Frage unserer Zeit. Darin wird heute noch mehr als zur Zeit des Erscheinens des Buches jeder humane Mensch ihm zustimmen. Auch darüber dürfte weitest-gehende Einigkeit bestehen, daß der Sozialismus ein prinzipieller Gegner des Krieges ist, und daß er dessen wirtschaftliche Wurzeln sehr eingehend enthüllt hat. Aber der Krieg hat noch eine besondere Seite, die in engerem Zusammenhang mit der Ethik steht, und diese Seite scheint mir in unserer Literatur zu wenig hervorgehoben zu wer­den. Ich denke dabei an folgendes.

Der amerikanische Psychologe und Philosoph William James hat eine sehr interessante Abhandlung geschrieben, die den Titel trägt: „Das moralische Äquivalent des Krieges", und m. E. mehr Beachtung verdient hätte, als sie gefunden hat. James führt aus, daß der Krieg in der Vergangenheit ein machtvoller Erwecker moralischer Energien gewesen sei, und sucht, da er den Krieg als für unsere Zeit unerträg­lich ansieht, nach einem Äquivalent für ihn in dieser seiner Funktion. In der Tat hat der Krieg nach bisheriger Erfahrung in der durch schwere innere Gegensätze gespaltenen Gesellschaft, in der anta­gonistischen Klassengesellschaft als der stärkste Inte­grationsfaktor gewirkt, insofern er die Energien aller Angehörigen eines Volkes sich bewußt auf die Erreichung eines Ziels konzentrieren läßt, in dem sie auf Gedeih und Verderb, d. h. solidarisch verbunden sind. Als moralische kann man diese Energien freilich nur bezeichnen, wenn es sich um einen gerechten Krieg, einen Verteidigungskrieg handelt, aber die meisten Kriege wurden dank der Propaganda der herrschenden Kreise auf beiden Seiten für Verteidigungskriege gehalten. James, der keinen Zugang zum Sozialismus hatte, sah nicht, daß das von ihm gesuchte Äquivalent im Sozialismus längst gefunden ist. Allerdings ist Voraussetzung, daß in der sozialistischen Gesell­schaft die Individuen deren komplizierten Mechanismus hinlänglich durchschauen, um das unlösliche Verhältnis zwischen Einzelleistung und Gesamtleistung, zwischen Einzelnutzen und Gesamtnutzen, einiger­maßen deutlich zu erkennen. Nur dadurch wird die solidarische Ge­meinschaftsarbeit des Sozialismus zum machtvollen Erwecker mora­listischer Energie. Das ist einer der Gründe dafür, daß in den sozialistischen Staaten die Verbreitung gesellschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse als eine vorrangige Aufgabe betrachtet wird.

Nicht nur von sozialistischer oder kommunistischer Ethik, sondern auch von sozialistischer oder kommunistischer Moral wird gegenwärtig mehr gesprochen als bisher. Die marxistischen Arbeiterparteien haben von jeher ihren Moralcodex gehabt, wie sie auch ihre Ethik gehabt haben. Seine Vorschriften waren in ihren Angehörigen lebendig, ohne daß ein Bedürfnis bestanden hätte, sie in Worte zu fassen und des längeren und breiteren zu diskutieren. Das wird in dem Augenblick anders, als dem Sozialismus die Aufgabe zufällt, seine Lehren im Auf­bau einer sozialistischen Gesellschaft zu verwirklichen. Jetzt müssen der ganzen Bevölkerung die Forderungen deutlich vor Augen geführt werden, die ein sozialistischer oder den Sozialismus in die Wege lei­tender Staat an seine Bürger stellen muß. Sie alle kennen die zehn Gebote der kommunistischen Moral, wie Walter Ulbricht sie auf dem V. Parteitag der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands formu­liert hat. Sie lassen sich einpassen in die allgemeinen Prinzipien der Ethik des wissenschaftlichen Sozialismus und richten sich auch an diejenigen, die — ohne selber Sozialisten zu sein — am Aufbau des Sozialismus loyal mitarbeiten. Im Verhältnis zur Ethik stellen sie sich etwa als deren Spezifizierung auf die wichtigsten Gegenwartsfragen dar, sie sind zur gleichen Zeit eine Lehre für diejenigen, die behaupten, daß der Kommunismus ethisch indifferent sei.

Bei einer Ethik kommt es nicht nur auf das an, was sie fordert, sondern auch auf das, was sie wirkt. Der wissenschaftliche Sozialismus unter Einschluß seiner Ethik hat es in der verhältnismäßig kurzen Zeit, seit der es sozialistische Staaten gibt, dazu gebracht, daß die Bevölkerung dieser Staaten sich zum großen Teil zu ihm als einer Weltanschauung bekennt, der sie es zu danken hat, daß ihr ein besseres, gerechteres, zukunftsreicheres, glücklicheres Leben als das bisherige gewährt wird. Auch blicken Millionen aus den kapitalistisch regierten Ländern auf die sozialistischen Staaten in der Hoffnung, daß auch bei ihnen in der kommenden Zeit eine ähnliche Wendung eintreten werde, der die Bahn zu ebnen sie fest entschlossen sind. Bedenkt man, wel­chen Anteil die Ethik des wissenschaftlichen Sozialismus an der Ver­wirklichung der sozialistischen Ideen in den letzten Jahrzehnten ge­habt hat, dann kommt man, glaube ich, zu dem Ergebnis, daß keine andere Ethik und auch keine Religion eine solche Wirkungskraft ent­faltet hat wie sie. In der großen, die Menschheit bewegenden Ausein­andersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in der der Sozialismus von den einen ebenso leidenschaftlich verteidigt wie von den anderen bekämpft wird, stehe ich ungeteilt im Lager des Sozialis­mus. Ich bin persönlich davon überzeugt, daß der Sozialismus mitsamt seiner Ethik und ihrer Praxis dem Kapitalismus überlegen ist und ihn überwinden wird, daß er die Wahrheit auf seiner Seite hat.

Seine Wahrheit kann wissenschaftlich erwiesen werden, aber der Beweis läßt sich selbstverständlich im Rahmen eines Vortrages nicht in allen Punkten erbringen. Ich will daher, um den Schein der Vorein­genommenheit zu vermeiden, mit einer Feststellung schließen, der sich auch diejenigen, die meine sozialistischen Überzeugungen nicht in jeder Hinsicht teilen, nicht zu entziehen vermögen: Der wissenschaft­liche Sozialismus ist in den Annalen der Geschichte der Ethik als eine prometheische Tat der Menschheit im Kampf gegen das soziale Erbübel mit unverlöschlichen Lettern aufgezeichnet.

Editorischer Hinweis

Der Vortag wurde am 24.9.1959 gehalten und am 31.3.1060 zur Veröffentlichung freigegeben. Er erschien in der Reihe: Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse für Philosophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jahrgang 1960, Nr.1, Berlin 1960, S. 3- 15

Arthur Baumgarten (* 31. März 1884 in Königsberg; † 27. November 1966 in Ost-Berlin) war ein deutsch-schweizerischer Jurist, der sich insbesondere der Rechtsphilosophie widmete.