Betrieb & Gewerkschaft
Geht‘s noch?!
Folgen des Tarifabschlusses in Baden-Württemberg nicht nur für Hessen

von "kuckuck" [ver.di Bezirk Südhessen]

8/2017

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Enttäuschung, Ärger und Wut – das sind die gängigen Reaktionen in südhessischen Streikbetrieben auf den Tarifabschluss für den Einzelhandel in Baden-Württemberg vom 27. Juli 2017. Nein, so reagieren nicht jene, die in Tarifrunden üblicherweise eine „anständige“ Lohnerhöhung für sich einstreichen möchten, ohne selbst etwas Erkennbares dafür getan zu haben. Solche Äußerungen kommen von Beschäftigten, die mit viel Phantasie und Überzeugungswillen eine Tarifrunde vorbereiten, mit ihren Kolleginnen und Kollegen daran arbeiten, dass es zu deren Verständnis führt, ja sogar zu ihrer eigenen Meinung wird, nicht bloß abzuwarten, ob und was am Verhandlungstisch zu erreichen ist. Sie engagieren sich mit einem hohen Einsatz an Kraft, Schwung und Ausdauer für begleitende Bewegung und unterstützende Aktionen sowie Streiks, damit die Tarifrunde in den Unternehmen und in der Öffentlichkeit sichtbar, spürbar und „ausbaufähig“ ist und bleibt.

Der baden-württembergische Tarifabschluss mit einer 24-monatigen Laufzeit, Erhöhungen der Gehälter und Löhne im ersten Jahr um 2,3 Prozent mit zwei Nullmonaten, im zweiten Jahr um weitere 2,0 Prozent, eine gleiche Anhebung der Ausbildungsvergütungen (aufgerundet auf die nächsten 5 Euro) sowie einer Einmalzahlung am Ende des ersten Jahres von 50 Euro (Teilzeitbeschäftigte anteilig, Azubis die Hälfte) wird von kämpfenden Beschäftigten sicher nicht „verachtet“. Denn sie wissen, wie schwer es ist, die eigenen Kolleginnen und Kollegen zu mehr als einem Dutzend einzelner Streiktage zu motivieren. Sie erleben im „eigenen“ Betrieb, wie sich in aller Regel nur eine kämpfende Minderheit an Streiks beteiligt und wieviel Engagement manchmal notwendig ist, selbst diese Überzeugten immer und immer wieder vor den Laden oder zu einer Aktion zu bringen.

Ihnen muss niemand erzählen, dass solche Kampfbedingungen kein Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche der ver.di im Einzelhandel ist. Da diese aber nicht plötzlich vom „Himmel“ fiel, werden sich manche sicher fragen, warum darin gerade in dieser Tarifrunde die angeblich entscheidende Ursache dafür gesehen und öffentlich dargestellt wird, „dass das ursprüngliche Ziel in absehbarer Zeit mit den zur Verfügung stehenden Arbeitskampfmitteln nicht zu erreichen ist “ (Bernhard Franke, baden-württembergischer ver.di Landesfachbereichsleiter Handel und Verhandlungsführer für den Einzelhandel, Interview in „junge Welt“ vom 29. Juli 2017). Denn die Tarifforderungen in Baden-Württemberg zeigten trotz der bekannten Schwäche sehr üppig gesteckte Ziele: 6 Prozent mehr Gehalt, monatlich 100 Euro höhere Ausbildungsvergütungen in jedem Lehrjahr, ein tariflicher Mindestlohn von 1.900 Euro, Allgemeinverbindlicherklärung der Einzelhandelstarifverträge. Wer solche Größen ernsthaft erreichen will, muss seine Kraft vorher richtig einzuschätzen versuchen – oder gerät in Gefahr, als „Schwätzer“ eingestuft zu werden, weil die Chancen zur Durchsetzung der Forderungen von vornherein als äußerst gering einzustufen sind. Wenn Letzteres zuträfe, dann wären die angestrebten und verkündeten Tarifziele reine Augenwischerei und ihr Wert für die Mobilisierung der Beschäftigten gleich null.

Wer mit Ernst und Aufrichtigkeit an die Aufstellung und ans „Verankern“ der Tarifforderungen in den Belegschaften ging, der konnte in diesem Jahr in Hessen sehr Erfreuliches feststellen. Dabei wissen alle aktiv Beteiligten und bestimmt auch die wohlwollend Beobachtenden, dass die „Entscheidung“ für eine Gehalts- und Lohnrunde wohl kaum in diesem Tarifgebiet fallen wird, da die Kampfkraft – ehrlich betrachtet – in den letzten Jahren zwar wuchs, aber sich bei der Anzahl weder der Streikenden noch der in den Arbeitskampf einbezogenen Unternehmen mit Baden-Württemberg, Bayern oder Nordrhein-Westfalen „messen“ kann. Gleichwohl hat die hessische Tarifkommission für den Einzelhandel mit Bedacht enorm ehrgeizige Forderungen beschlossen: einen Euro mehr Stundenlohn, das wäre in der untersten Gehaltsstufe eine Steigerung von knapp 10 Prozent, in der obersten von knapp 4 Prozent; Ausbildungsvergütungen von 1.000 Euro im ersten bis 1.200 Euro im dritten Lehrjahr; allgemeinverbindliche Branchentarifverträge.

Wie in Baden-Württemberg waren dies auch in Hessen hohe Ziele, die aber Beschäftigte im hessischen Einzelhandel tatsächlich motivierten und auch mobilisierten. Insbesondere die mit dem geforderten Festbetrag verbundene soziale Komponente, die verhältnismäßig größere Anhebung der unteren Gehaltsgruppen gegenüber den höheren, machten sich viele Streikende zu eigen und gab ihrem persönlichen Einsatz sowohl Richtung als auch Entschlossenheit. Das zeigte sich ganz deutlich bei den Tarifverhandlungen: Die ver.di-Kommission wurde immer wieder angehalten, sich von der Ein-Euro-Forderung nicht abbringen zu lassen. Selbst der Tarifabschluss für den Groß- und Außenhandel in Hessen am 12. Juni mit einer linearen Steigerung von 2,5 Prozent im ersten Jahr nach drei Nullmonaten ließ die Beschäftigten des Einzelhandels in ihrer Entscheidung für einen Festbetrag nicht schwanken. Gleiches galt für das Ziel allgemein geltender Branchentarifverträge. Hierdurch fühlten sich insbesondere die Belegschaften von Karstadt und Real angesprochen, in einer für sie aktuell nicht wirksamen Gehalts- und Lohnrunde zu streiken. In Hessen waren die Ziele also ein ganz wesentlicher Bestandteil der Werbung in den Betrieben für eine aktive und ausdauernde Unterstützung der gewerkschaftlichen Aktivitäten.

Wohl kaum ein/e Streikende/r hätte sich hier „träumen“ lassen, dass bereits am 27. Juli wie in Baden- Württemberg die Ansicht vertreten werden könnte, „die Tarifrunde jetzt zu beenden, statt einen monatelangen unkalkulierbaren Konflikt auszutragen“ (Bernhard Franke, s.o.). Mehr noch: Es wäre als überheblich und belehrend empfunden worden, sich einerseits zu rühmen, immer „hart und entschlossen“ für die eigenen Forderungen zu kämpfen, andererseits aber zu behaupten, ohne bundesweite Verständigung für ein Tarifgebiet allein, aber damit faktisch für alle anderen festlegen zu dürfen, wann die Tarifrunde „zum richtigen Zeitpunkt [zu] beenden“ sei (Bernhard Franke, s.o.). Denn niemand wird ernsthaft glauben, dass derart erfahrene Tarifpolitiker und Streikende wie in Baden-Württemberg nicht ahnen oder gar wissen konnten, welche Folgen ihr Tarifabschluss für die bundesweite Tarifbewegung zwangsläufig haben würde. Vielmehr waren sie sich der dadurch ausgelösten Konsequenzen, aber ebenso der hervorgerufenen Kritik sehr bewusst. Und dennoch entschieden sich die ver.di-Verhandlungs- und später auch die Tarifkommission für diesen ebenso politisch weitreichenden Schritt.

Auch wenn anschließend übertrieben stark betont wurde, es handele sich um keinen „Pilotabschluss“, so war doch ohne hellseherische Fähigkeiten vorausschaubar, was zwangsläufig eintreten müsste: Die Unternehmer des Einzelhandels täten selbstverständlich alles ihnen Mögliche, damit es in anderen Bundesländern zu keiner Verbesserung gegenüber dem baden-württembergischen Tarifergebnis käme. Denn bekanntlich sind sie nicht nur sehr straff organisiert, sondern wichen bereits bei den Verhandlungen in keinem Tarifgebiet von ihrer vorgegebenen Linie ab, bevor sie sich nicht bundesweit neu abgestimmt hatten. Deshalb war jetzt zu erwarten, dass die Unternehmen

  • schon mal "vorab" den Tarifabschluss aus Baden-Württemberg in allen Bundesländern zur sofortigen Erhöhung der Gehälter um 2,3 % nutzen würden, so dass alle Streikenden unter enormen Druck gerieten, den Arbeitskampf fortzuführen;
  • die ausstehenden Tarifverhandlungen "in die Länge ziehen" und bei Ablehnung des baden-württembergischen Abschlusses sogar mit einem geringeren Angebot (weniger Prozentpunkte oder mehr Nullmonate) drohen könnten, um die übrigen ver.di- Landesbezirke zum Beenden der Verhandlungen zu zwingen;
  • das Ergebnis in Baden- Württemberg faktisch als "Pilotabschluss" öffentlich und betrieblich verkündeten, so dass ver.di auf jeden Fall in Erklärungsnot geraten würde, warum die Arbeitskämpfe weitergeführt werden, obwohl doch die angeblich "Vernünftigen" erkannt hätten, wo die "Schmerzgrenze" für die Unternehmen läge und deshalb "schweren Herzens", aber eben mit "Weitsicht" das Angebot angenommen hätten.

Ein Weitermachen in Hessen wie bisher würde also die Gefahr vergrößern, dass am Ende des Arbeitskampfes kein besseres, vielleicht sogar ein schlechteres Ergebnis als in Baden- Württemberg stehen könnte. Denn mit diesem Tarifabschluss war ein entscheidendes Glied der Kette der Handlungsfähigkeit durchgeschlagen, das trotz der tatsächlichen oder vermeintlichen Schwäche der ver.di im Einzelhandel häufig beachtliche Erfolgsaussichten verspricht und selbst hohe Ziele verwirklichen lässt: ein bundesweit einheitliches und unter allen Verantwortlichen der Tarifgebiete abgestimmtes Vorgehen mit entwicklungsfähiger gegenseitiger Unterstützung durch gleichzeitige Streiks auch an den unterschiedlichen Verhandlungstagen der Tarifgebiete. Diese nicht zu unterschätzende Kraft gezielt mit Phantasie, Schwung und Ausdauer bei den betrieblichen und öffentlichen Aktionen verbunden, machte die fehlende „Masse“ bei der Beteiligung an Streiks oft mehr als wett. Beispielsweise 2013, als der von den Unternehmern gekündigte Manteltarifvertrag für den hessischen Einzelhandel zurückerkämpft werden musste. Und gerade in diesem Jahr blickten die Beschäftigten besonders interessiert über den hessischen „Tellerrand“ aufs Ganze, das heißt auf alle übrigen Tarifverhandlungen, die begleitenden Aktionen und die dortigen Ergebnisse. Diese Solidarität hätte nicht nur weiter ausgebaut, sondern bei einem bundesweit abgestimmten Vorgehen auch in einer vielleicht neuen Qualität produktiv genutzt werden können.

Deshalb ist verständlich, weshalb der baden-württembergische Tarifabschluss in hessischen Streikbetrieben mit einem verärgerten „Geht’s noch?!“ quittiert wurde. Darin zeigte sich die berechtigte Empörung sowohl über das Ergebnis, aber mehr noch über den dortigen Alleingang. Die Gewerkschaftssekretärinnen in Hessen sahen sich durch die veränderte Situation jedenfalls gezwungen, den Mitgliedern der hessischen Tarifkommission Einzelhandel und den ver.di-Vertrauensleuten in den Streikbetrieben zu empfehlen, „wie in Nordrhein-Westfalen, die Tarifverhandlungen für Hessen am 12. September auf der Grundlage des baden-württembergischen Abschlusses zu führen“. Soll diese kämpferische Tarifrunde aber dann so „still und heimlich“ zu Ende gehen? Oder muss etwas geschehen, damit sich das gerade Erlebte in Zukunft nicht wiederholt?

Klar dürfte sein: Ein einheitliches Auftreten und koordiniertes Handeln lässt sich nicht durch ein „Machtwort“ verordnen, das in die regionale Autonomie der Tarifpolitik eingreift oder diese aushebelt. Gleiches gilt für hier und dort geforderte „Konsequenzen“, durch die Personen oder Gremien „abgestraft“ werden, weil sie politische Absprachen für sich nicht für verbindlich hielten. Unter demokratischen Verhältnissen einer Gewerkschaft sollten notwendige Schlussfolgerungen in einer offenen und beherzten, aber solidarischen Diskussion so erarbeitet werden, dass alle davon überzeugt sind und sich dafür verantwortlich fühlen, nicht mehr allein, sondern gemeinsam festzulegen, wann ein Ergebnis für möglichst alle tragfähig und der Zeitpunkt zur Beendigung einer Tarifrunde (oder welche andere Auseinandersetzung auch immer) tatsächlich richtig ist. Was für die Unternehmer im Handelsverband wohl aufgrund der bestehenden Macht- und Leitungsstrukturen selbstverständlich ist, müsste doch auch in ver.di unter demokratischen Bedingungen möglich, vielleicht sogar erreichbar sein: eine bundesweite Koordination, auf deren Einhaltung sich Verhandelnde und Kämpfende bewusst verständigen und sich dazu auch selbst verpflichtet fühlen.

Quelle: https://handel-hessen.verdi.de (21.8.2017)