Der dialektische und historische Materialismus
vertritt im Gegensatz zu alle Formen des Idealismus
die wissenschaftlich gesicherte und begründet
Auffassung, daß die Welt ihrer Natur nach materiell
ist. Sie existiert außerhal und unabhängig vom
Bewußtsein, sie ist weder ein Erzeugnis des
menschliche Denkens noch irgendwelcher
nichtmaterieller Wesen. Sie bedarf zu ihrer Existenz
keines Schöpfers und Erhalters, sie existiert durch
sich selbst. Di materielle Welt wird auch nicht von
einem Gott oder einem andere Weltenlenker regiert.
Die Materie bewegt und entwickelt sich gemäß ihre
eigenen objektiven Gesetzmäßigkeiten. In ihrem
ewigen Entwicklungsproze bringt sie immer neue
Formem und Gestaltungen hervor. Auf der Erde, und
möglicherweise auch auf anderen Himmelskörpern, hat
sich das Lebe entwickelt, ist aus der unbelebten
die belebte Materie hervorgegangen. Der Mensch mit
seinem Bewußtsein, mit der Fähigkeit, die
materielle Welt zu erkennen und zu verändern, ist
das höchste Entwicklungsprodukt der Materie. Diese
Auffassung des dialektischen und historischen
Materialismus von der
Materialität der Welt steht in vollem Einklang mit
den Naturwissenschaften
und den Gesellschaftswissenschaften. Alle
ihre wesentlichen Resultate führen zu der
Schlußfolgerung, daß die Welt nichts anderes ist
als der ewige Bewegungs- und Entwicklungsprozeß der
Materie.
Was aber ist die Materie?
Sind darunter
Körper, stoffliche Gebilde zu verstehen, mit denen
wir täglich umgehen, sind es die Moleküle, aus
denen die Körper bestehen, oder die Atome, aus
denen die Moleküle aufgebaut sind? Oder sind es
vielleicht die „Elementarteilchen", die Protonen,
Elektronen, Neutronen usw., aus denen die Atome
aufgebaut sind, oder sind es gar die noch
elementareren „Quarks", welche die Physiker erst
vor kurzer Zeit entdeckt haben? Und wie ist es mit
den Lebewesen, mit den Menschen und mit der
menschlichen Gesellschaft? Sind sie auch Materie?
Der Materiebegriff
ist ohne Zweifel ein theoretischer Grundbegriff des
dialektischen und historischen Materialismus. Aber
er hat auch bereits eine lange und interessante
Geschichte im philosophischen Denken. Alle
Materialisten der Vergangenheit versuchten
natürlich zu ergründen, was die Materie ist. Der
griechische Philosoph Demokrit erklärte die Materie
zum Beispiel als die Gesamtheit der Atome. In den
Atomen sah er die letzten unteilbaren Bausteine der
materiellen Welt, aus ihrer unterschiedlichen
Kombination entstehen die verschiedenen materiellen
Gegenstände mit ihren unterschiedlichen
Eigenschaften. Dieser kühne Gedanke war der
Grundstein der Atomistik und hat später eine große
Rolle in der Naturwissenschaft des 17., 18. und 19.
Jahrhunderts gespielt. Viele naturwissenschaftliche
Entdeckungen schienen ihn völlig zu bestätigen. So
entstand und festigte sich mit der Entwicklung der
Mechanik auch der mechanische Materialismus, dem
die ganze Welt aus Atomen zusammengesetzt schien,
welche sich nach den Gesetzen der Mechanik bewegen.
Unter Materie
verstand dieser Materialismus die Gesamtheit der
Körper, die ihrerseits aus Atomen, aus letzten
unteilbaren Bausteinen, bestehen und sich streng
nach den Gesetzen der Mechanik bewegen. Alle
materiellen Systeme entstehen durch die Verbindung
der Stoffe, die aus der ewigen Bewegung der Materie
hervorgeht. Diese Bewegung aber wurde nur als
mechanische Bewegung, als bloße Ortsveränderung der
Körper im Raum verstanden. Dieser Materialismus
mußte daher notwendigerweise die verschiedenen
Bewegungsformen der Materie auf die einfachste
Bewegung, auf die Verbindung und Trennung
stofflicher Korpuskel reduzieren. Alle
verschiedenen Qualitäten und die ganze Vielfalt der
Welt wurden dadurch auf bloße quantitative
Veränderungen, auf Vergrößerung, Verkleinerung,
Ortsveränderung zurückgeführt. Ist es ein Wunder,
daß dieser Materialismus einem Dichter wie Goethe
so grau und totenhaft vorkam, „daß wir Mühe hatten,
seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor
einem Gespenste schauderten".(14)
Weder solche
physikalischen Formen der Materie wie Strahlung und
Felder noch die gesellschaftlichen Formen der
Materie, wie materielle Produktivkräfte, materielle
gesellschaftliche Verhältnisse und die materielle
praktisch-gegenständliche
Tätigkeit der Menschen, konnten mit diesem
Materiebegriff des
mechanischen Materialismus erfaßt werden. Der
Hauptmangel dieses
Materiebegriffs besteht darin, daß er eine
bestimmte Erscheinungsform der
Materie verabsolutiert, sie für die Materie
schlechthin erklärt und alle andere
Erscheinungsformen der Materie auf diese eine
reduzieren will. Damit
verbindet er den philosophischen Materiebegriff mit
physikalischen Bestimmungen,
die nur einigen Formen der Materie zukommen.
Der Materiebegriff
des dialektischen Materialismus unterscheidet sie
prinzipiell von dem des früheren Materialismus. Er
ist ein philosophisch Materiebegriff, der alle
Erscheinungsformen der Materie umfaßt und nie mehr
einzelwissenschaftliche Aussagen zu philosophischen
Aussagen macht. Die Materie
existiert nicht als solche, außerhalb der
materiellen Gegen stände.
Sie ist keine „Urmaterie", aus der alles entsteht.
Und sie ist auch nie in irgendwelchen „letzten"
Bausteinen zu finden. Alles das sind undialektische
Vorstellungen. Friedrich Engels schrieb, daß die
„Materie als solche... noch
niemand gesehn oder sonst erfahren"
hat, sondern immer nur die
„wirklich existierenden
Stoffe und Bewegungsformen... Worte wie Materie und
Bewegung sind nichts als
Abkürzungen, in die wir viele verschiedne sinnlich
wahrnehmbare Dinge zusammenfassen nach ihren
gemeinsamen Eigenschaften".(15)
Materie im Sinne
des dialektischen und historischen Materialismus sind
nicht nur stoffliche Körper mit mechanischen
Eigenschaften, sondern die
ganze materielle Welt in allen ihren qualitativ
verschiedenen Formen mit beliebigen
physikalischen, chemischen, biologischen oder auch
sozialen Eigenschaften. Die
wesentliche Eigenschaft, die allen Erscheinungsform
der materiellen Welt trotz aller mannigfaltigen
Unterschiede gemeinsam ist, ist
die Eigenschaft, unabhängig und außerhalb
vom menschlichen Bewußtsein zu
existieren!
Dieser
philosophische Materiebegriff ist von allen
einzelwissenschaftlich Bestimmungen befreit. Er ist
nicht mehr mit Eigenschaften verbunden, die nur
bestimmten oder einigen Bewegungs- und
Entwicklungsformen der Materie zukommen, sondern
allein mit der Eigenschaft, die aller Materie
zukommt: außerhalb und unabhängig vom menschlichen
Bewußtsein zu existieren. Dieser philosophische
Materiebegriff besagt also nichts über
Eigenschaften und Struktur der einzelnen Bewegungs-
und Entwicklungsformen der Materie. Diese zu
erforschen ist eine Aufgabe der betreffenden
Einzelwissenschaften. Er enthält nur die allgemeine
weltanschauliche und erkenntnistheoretische
Bestimmung der Materie. Und diese kann nicht anders
erfolgen als durch die Bestimmung des Verhältnisses
von Materie und Bewußtsein, durch ihre
Gegenüberstellung und durch die Feststellung, daß
die Materie unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein
existiert, also primär ist.
Lenin
definierte den Materiebegriff als „philosophische
Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität,
die dem Menschen in seinen Empfindungen gegeben
ist, die von unseren Empfindungen... abgebildet
wird und unabhängig von ihnen existiert".(16)
Könnte man nicht
einwenden, daß dieser Materiebegriff sehr allgemein
ist? Manche bürgerlichen Philosophen behaupten
sogar, Lenin habe den Begriff der Materie so
„raffiniert" formuliert, daß er selbst mit
zukünftigen Entdeckungen der Naturwissenschaft über
neue Eigenschaften und Strukturen der Materie nicht
in Konflikt geraten könne. Aber das ist keine
„Raffinesse", sondern die konsequent
materialistische und zugleich dialektische
Auffassung der Materie. Diese versucht nicht,
alle Formen der Materie auf eine bestimmte Form
zurückzuführen und damit alle unterschiedlichen
Qualitäten /.u beseitigen. Sie erkennt, daß die
Materie stets in qualitativ verschiedenen Formen
existiert und daß die Wissenschaft auch neue,
bisher unbekannte Formen, Strukturen und
Eigenschaften der Materie erkennen kann.
Der dialektische
und historische Materialismus beschränkt sich
ganz bewußt auf diese allgemeine
weltanschauliche und erkenntnistheoretische
Bestimmung der Materie. Sie enthält zwei
Feststellungen:
erstens,
daß die Materie die außerhalb und unabhängig vom
Bewußtsein existierende objektive Realität ist, und
zweitens,
daß die Materie damit die letzte Quelle der
Erkenntnis ist. Lenin hat diesen grundlegenden
Gedanken in folgenden Worten erläutert: „...die
einzige ,Eigenschaft' der Materie, an deren
Anerkennung der philosophische Materialismus
gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive
Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu
existieren."(17)
Weiter stellt er fest: „Die Frage,
ob der Begriff Materie anzuerkennen oder abzulehnen
sei, ist die Frage, ob der Mensch dem Zeugnis
seiner Sinnesorgane vertrauen soll, ist die Frage
nach der Quelle unserer Erkenntnis.. ."(18)
Der Materiebegriff des dialektischen und
historischen Materialismus schließt damit alle
Bewegungs- und Entwicklungsformen der Materie ein.
Unabhängig davon, in welchen konkreten Formen, mit
welchen Strukturen und Eigenschaften „Quarks",
„Elementarteilchen", Atome, Moleküle, Körper,
elektromagnetische Wellen, pflanzliche oder
tierische Lebewesen, Menschen, gesellschaftliche
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der
Menschen existieren, sie alle sind Materie, denn
sie existieren außerhalb und unabhängig vom
menschlichen Bewußtsein und bilden die letzte
Quelle aller Erkenntnis.
Fußnoten
14) J.
W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit.
In: Poetische Werk Bd. 13, S. 528.
15) Friedrich Engels: Dialektik der Natur.
In: Marx/Engels: Werke. Bd. 20. S. 503.
16) W. I. Lenin: Materialismus und
Empiriokritizismus. In: Werke, Bd. 14, S. 124.
17) Ebenda. S. 260
18) Ebenda. S. 124
Quelle:
Erich Hahn & Alfred Kosing,
Marxistisch-leininistische Philosophie geschrieben
für die Jugend, Hrg. v. Zentralrat der FdJ, Berlin
1978, S. 42-46 |