Der Materiebegriff

von Erich Hahn & Alfred Kosing

8/2017

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Der dialektische und historische Materialismus vertritt im Gegensatz zu alle Formen des Idealismus die wissenschaftlich gesicherte und begründet Auffassung, daß die Welt ihrer Natur nach materiell ist. Sie existiert außerhal und unabhängig vom Bewußtsein, sie ist weder ein Erzeugnis des menschliche Denkens noch irgendwelcher nichtmaterieller Wesen. Sie bedarf zu ihrer Existenz keines Schöpfers und Erhalters, sie existiert durch sich selbst. Di materielle Welt wird auch nicht von einem Gott oder einem andere Weltenlenker regiert. Die Materie bewegt und entwickelt sich gemäß ihre eigenen objektiven Gesetzmäßigkeiten. In ihrem ewigen Entwicklungsproze bringt sie immer neue Formem und Gestaltungen hervor. Auf der Erde, und möglicherweise auch auf anderen Himmelskörpern, hat sich das Lebe entwickelt, ist aus der unbelebten die belebte Materie hervorgegangen. Der Mensch mit seinem Bewußtsein, mit der Fähigkeit, die materielle Welt zu erkennen und zu verändern, ist das höchste Entwicklungsprodukt der Materie. Diese Auffassung des dialektischen und historischen Materialismus von der Materialität der Welt steht in vollem Einklang mit den Naturwissenschaften und den Gesellschaftswissenschaften. Alle ihre wesentlichen Resultate führen zu der Schlußfolgerung, daß die Welt nichts anderes ist als der ewige Bewegungs- und Entwicklungsprozeß der Materie.

Was aber ist die Materie?

Sind darunter Körper, stoffliche Gebilde zu verstehen, mit denen wir täglich umgehen, sind es die Moleküle, aus denen die Körper bestehen, oder die Atome, aus denen die Moleküle aufgebaut sind? Oder sind es vielleicht die „Elementarteilchen", die Protonen, Elektronen, Neutronen usw., aus denen die Atome aufgebaut sind, oder sind es gar die noch elementareren „Quarks", welche die Physiker erst vor kurzer Zeit entdeckt haben? Und wie ist es mit den Lebewesen, mit den Menschen und mit der menschlichen Gesellschaft? Sind sie auch Materie?

Der Materiebegriff ist ohne Zweifel ein theoretischer Grundbegriff des dialektischen und historischen Materialismus. Aber er hat auch bereits eine lange und interessante Geschichte im philosophischen Denken. Alle Materia­listen der Vergangenheit versuchten natürlich zu ergründen, was die Materie ist. Der griechische Philosoph Demokrit erklärte die Materie zum Beispiel als die Gesamtheit der Atome. In den Atomen sah er die letzten unteilbaren Bausteine der materiellen Welt, aus ihrer unterschiedlichen Kombination entstehen die verschiedenen materiellen Gegenstände mit ihren unterschied­lichen Eigenschaften. Dieser kühne Gedanke war der Grundstein der Atomistik und hat später eine große Rolle in der Naturwissenschaft des 17., 18. und 19. Jahrhunderts gespielt. Viele naturwissenschaftliche Entdeckungen schienen ihn völlig zu bestätigen. So entstand und festigte sich mit der Entwicklung der Mechanik auch der mechanische Materialismus, dem die ganze Welt aus Atomen zusammengesetzt schien, welche sich nach den Gesetzen der Mechanik bewegen.

Unter Materie verstand dieser Materialismus die Gesamtheit der Körper, die ihrerseits aus Atomen, aus letzten unteilbaren Bausteinen, bestehen und sich streng nach den Gesetzen der Mechanik bewegen. Alle materiellen Systeme entstehen durch die Verbindung der Stoffe, die aus der ewigen Bewegung der Materie hervorgeht. Diese Bewegung aber wurde nur als mechanische Bewegung, als bloße Ortsveränderung der Körper im Raum verstanden. Dieser Materialismus mußte daher notwendigerweise die verschiedenen Bewegungs­formen der Materie auf die einfachste Bewegung, auf die Verbindung und Trennung stofflicher Korpuskel reduzieren. Alle verschiedenen Qualitäten und die ganze Vielfalt der Welt wurden dadurch auf bloße quantitative Veränderungen, auf Vergrößerung, Verkleinerung, Ortsveränderung zurückgeführt. Ist es ein Wunder, daß dieser Materialismus einem Dichter wie Goethe so grau und totenhaft vorkam, „daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten".(14)

Weder solche physikalischen Formen der Materie wie Strahlung und Felder noch die gesellschaftlichen Formen der Materie, wie materielle Produktivkräfte, materielle gesellschaftliche Verhältnisse und die materielle praktisch-gegenständliche Tätigkeit der Menschen, konnten mit diesem Materiebegriff des mechanischen Materialismus erfaßt werden. Der Hauptmangel dieses Materiebegriffs besteht darin, daß er eine bestimmte Erscheinungsform der Materie verabsolutiert, sie für die Materie schlechthin erklärt und alle andere Erscheinungsformen der Materie auf diese eine reduzieren will. Damit verbindet er den philosophischen Materiebegriff mit physikalischen Bestimmungen, die nur einigen Formen der Materie zukommen.

Der Materiebegriff des dialektischen Materialismus unterscheidet sie prinzipiell von dem des früheren Materialismus. Er ist ein philosophisch Materiebegriff, der alle Erscheinungsformen der Materie umfaßt und nie mehr einzelwissenschaftliche Aussagen zu philosophischen Aussagen macht. Die Materie existiert nicht als solche, außerhalb der materiellen Gegen stände. Sie ist keine „Urmaterie", aus der alles entsteht. Und sie ist auch nie in irgendwelchen „letzten" Bausteinen zu finden. Alles das sind undialektische Vorstellungen. Friedrich Engels schrieb, daß die „Materie als solche... noch niemand gesehn oder sonst erfahren" hat, sondern immer nur die „wirklich existierenden Stoffe und Bewegungsformen... Worte wie Materie und Bewegung sind nichts als Abkürzungen, in die wir viele verschiedne sinnlich wahrnehmbare Dinge zusammenfassen nach ihren gemeinsamen Eigenschaften".(15)

Materie im Sinne des dialektischen und historischen Materialismus sind nicht nur stoffliche Körper mit mechanischen Eigenschaften, sondern die ganze materielle Welt in allen ihren qualitativ verschiedenen Formen mit  beliebigen physikalischen, chemischen, biologischen oder auch sozialen Eigenschaften. Die wesentliche Eigenschaft, die allen Erscheinungsform der materiellen Welt trotz aller mannigfaltigen Unterschiede gemeinsam ist, ist die Eigenschaft, unabhängig und außerhalb vom menschlichen Bewußtsein zu existieren!

Dieser philosophische Materiebegriff ist von allen einzelwissenschaftlich Bestimmungen befreit. Er ist nicht mehr mit Eigenschaften verbunden, die nur bestimmten oder einigen Bewegungs- und Entwicklungsformen der Materie zukommen, sondern allein mit der Eigenschaft, die aller Materie zukommt: außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein zu existieren. Dieser philosophische Materiebegriff besagt also nichts über Eigenschaften und Struktur der einzelnen Bewegungs- und Entwicklungs­formen der Materie. Diese zu erforschen ist eine Aufgabe der be­treffenden Einzelwissenschaften. Er enthält nur die allgemeine weltanschau­liche und erkenntnistheoretische Bestimmung der Materie. Und diese kann nicht anders erfolgen als durch die Bestimmung des Verhältnisses von Materie und Bewußtsein, durch ihre Gegenüberstellung und durch die Feststellung, daß die Materie unabhängig und außerhalb vom Bewußtsein existiert, also primär ist.

Lenin definierte den Materiebegriff als „philosophische Kategorie zur Bezeichnung der objektiven Realität, die dem Menschen in seinen Empfin­dungen gegeben ist, die von unseren Empfindungen... abgebildet wird und unabhängig von ihnen existiert".(16)

Könnte man nicht einwenden, daß dieser Materiebegriff sehr allgemein ist? Manche bürgerlichen Philosophen behaupten sogar, Lenin habe den Begriff der Materie so „raffiniert" formuliert, daß er selbst mit zukünftigen Entdeckungen der Naturwissenschaft über neue Eigenschaften und Strukturen der Materie nicht in Konflikt geraten könne. Aber das ist keine „Raffinesse", sondern die konsequent materialistische und zugleich dialektische Auffassung der Materie. Diese versucht nicht, alle Formen der Materie auf eine be­stimmte Form zurückzuführen und damit alle unterschiedlichen Qualitäten /.u beseitigen. Sie erkennt, daß die Materie stets in qualitativ verschiedenen Formen existiert und daß die Wissenschaft auch neue, bisher unbekannte Formen, Strukturen und Eigenschaften der Materie erkennen kann.

Der dialektische und historische Materialismus beschränkt sich ganz bewußt auf diese allgemeine weltanschauliche und erkenntnistheoretische Bestim­mung der Materie. Sie enthält zwei Feststellungen:

erstens, daß die Materie die außerhalb und unabhängig vom Bewußtsein existierende objektive Realität ist, und

zweitens, daß die Materie damit die letzte Quelle der Erkenntnis ist. Lenin hat diesen grundlegenden Gedanken in folgenden Worten erläutert: „...die einzige ,Eigenschaft' der Materie, an deren Anerkennung der philosophische Materialismus gebunden ist, ist die Eigenschaft, objektive Realität zu sein, außerhalb unseres Bewußtseins zu existieren."(17) Weiter stellt er fest: „Die Frage, ob der Begriff Materie anzuerkennen oder abzulehnen sei, ist die Frage, ob der Mensch dem Zeugnis seiner Sinnesorgane vertrauen soll, ist die Frage nach der Quelle unserer Erkenntnis.. ."(18)

Der Materiebegriff des dialektischen und historischen Materialismus schließt damit alle Bewegungs- und Entwicklungsformen der Materie ein. Unabhängig davon, in welchen konkreten Formen, mit welchen Strukturen und Eigenschaften „Quarks", „Elementarteilchen", Atome, Moleküle, Körper, elektromagnetische Wellen, pflanzliche oder tierische Lebewesen, Men­schen, gesellschaftliche Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der Menschen existieren, sie alle sind Materie, denn sie existieren außerhalb und unabhängig vom menschlichen Bewußtsein und bilden die letzte Quelle aller Erkenntnis.

Fußnoten

14) J. W. Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. In: Poetische Werk Bd. 13, S. 528.
15)  Friedrich Engels: Dialektik der Natur. In: Marx/Engels: Werke. Bd. 20. S. 503.
16) W. I. Lenin: Materialismus und Empiriokritizismus. In: Werke, Bd. 14, S. 124.
17) Ebenda. S. 260
18) Ebenda. S. 124

Quelle: Erich Hahn & Alfred Kosing, Marxistisch-leininistische Philosophie geschrieben für die Jugend, Hrg. v. Zentralrat der FdJ, Berlin 1978, S. 42-46