Thesen zu einer europäischen revolutionären Programmatik
von Achim Schill & Detlef Georgia Schulze (DGS)

08/2015

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Am 15. Juli veröffentlichte die belgische Revolutionär Kommunistische Liga (LCR), die dortige Sektion der IV. Internationale, ein Papier, in dem sie – angesichts der Ereignisse in und um Griechenland – die Dringlichkeit einer linken Strategiedebatte postuliert. Sie spricht sich dort für nicht weniger aus, als „einen langfristigen Kampf zu führen, der die EU lahmlegt und dann zerschlägt“. Zu mit dem Papier in Zusammenhang stehenden strategischen und organisatorischen Frage hatte sich Detlef Georgia Schulze bereits am 19. Juli im online Portal scharf-links.de geäußert. Im hiesigen gemeinsamen Text von DGS und Achim Schill geht es nun eher um die Frage: Welche Ziele sollen denn mit der zu erarbeitenden Strategie durchgesetzt werden? Und was müßte diese Strategie konkret umfassen?

These 1:

Jede Organisierung mit revolutionärem Anspruch (und darum geht es, wenn von der ‚Zerschlagung’ der EU die Rede ist) muß auch heute – und vielleicht mehr denn je – an der Einsicht in die Not-wendigkeit der Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates festhalten: Ohne Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates keine politische Revolution; und eine eingebildete bloß (zivil)gesellschaftliche Revolution prallt an der Macht der Institutionen ab oder wird ihrerseits zerschlagen, falls sie irgendwann einmal drohen sollte – und meist schon viel früher –, mehr zu werden als eine Nische, die auch geduldet werden kann; mehr zu sein, als der Hofnarr des neoliberalen Zeitalters.

These 2:

Eine Organisierung die darüber hinaus beansprucht, nicht nur irgendwie „revolutionär“, sondern unter anderem antikapitalistisch zu sein, darf darüber hinaus – wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden will – nicht bei eine Kritik des Neoliberalismus stehen bleiben, sondern bedarf eines präzisen Begriffs der kapitalistischen Produktionsweise, die auf dem Tausch der Ware Arbeitskraft gegen Geld (= Lohn) beruht. Der Neoliberalismus ist nicht nur eine irrtümliche wirtschaftliche Doktrin und noch weniger eine falsche Politik herzloser PolitikerInnen, die nur durch herzliche ersetzt werden müßten, sondern eine politische und ökonomische Strategie zur Verschärfung der Ausbeutung der Lohnarbeit, die bei deren Anwendung durch das Kapital stattfindet. Es ist diese Produktionsweise, es ist der Tausch von Arbeitskraft gegen Geld (und entsprechend auch der Tausch von Gütern gegen Geld), die bzw. der überwunden werden muß, wenn der Anspruch „antikapitalistisch“ zu sein, erfüllt werden soll.

These 3:

Neoliberalismus ist aber nicht nur eine Verschärfung der Ausbeutung der Lohnabhängigen, sondern auch eine Umstruktuierung der fordistischen Variante des patriarchalen Geschlechterverhältnisses. Er stellt in einigen Ländern auch insofern – wie auch unter anderen Gesichtspunkten – eine teilweise und paradoxe Erfüllung eines Wunsches der 68er-Bewegung und der nachfolgenden sog. neuen sozialen Bewegungen dar – hier des Wunsches von Feministinnen nach ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen von ihren Ehemännern/Lebenspartnern:

Im Bereich der EU-27 (also der heutigen EU-Mitglieder, ohne Kroatien, das im Jahr 2013 beitrat und für das aber für 2000 keine Zahlen vorliegen) ist die Erwerbsquote der 15- bis 64-jährigen Frauen von 53,6 % im Jahr 2000 deutlich auf 58,1 % im Jahr 2007 und danach noch mal leicht auf 59,6 % im Jahre 2014 – also insgesamt um 6 Prozentpunkte – gestiegen. Die Erwerbsquote der gleichaltrigen Männer stieg dagegen von 70,7 % im Jahr 2000 bis 2007 nur leicht auf 72,4 % und sank danach sogar – krisenbedingt – unter den Wert des Jahres 2000 auf nur noch 70,2 %. Unter dem Strich hat sich der Abstand der Frauen- von der Männererwerbsquote also von 17,1 Prozentpunkte im Jahr 2000 auf nur noch 10,6 Prozentpunkt verringert.

Von größerer ökonomischer Unabhängigkeit kann diesbezüglich freilich nur bedingt gesprochen werden. Denn in Deutschland, das nach Malta die höchste Steigerung der Frauenerwerbsquote aufzuweisen hat, ist zugleich auch die Teilzeitquote von Frauen im EU-Vergleich am höchsten und im Zeitverlauf sogar noch gestiegen, sodaß sich hier das Erwerbszeitvolumen (und insoweit das Einkommen) von Frauen gar nicht erhöht hat. Dort, wo nicht nur die Frauenerwerbsquote, sondern auch das Erwerbsarbeitszeitvolumen gestiegen ist, ohne daß Hausarbeit umverteilt wurde, hat sich dagegen die ohnehin schon hohe Gesamtarbeitsbelastung von Frauen weiter erhöht – der gesteigerte Erwerbsarbeitszugang ist also mit einem hohen Preis bezahlt worden.

Damit ist aber das Anliegen ökonomischer Unabhängigkeit von Frauen von ihren Lebenspartnern nicht diskreditiert. Vielmehr gilt auch mit der zweiten – und vom Neoliberalismus nicht erfüllten – Forderung nach Umverteilung der Hausarbeit ernstzumachen und eine massive Reduzierung der Erwerbsarbeitzeit bei vollem Lohn- und Personalausgleich durchzusetzen.

These 4:

Freilich sind in der letztgenannten Frage, wie hinsichtlich aller anderen ökonomischen Reformforderungen („Reformen“ hier im alten, vor-neoliberalen Sinne!) die Durchsetzungsspielräume äußerst gering, wie gerade wieder die Erfahrung der SYRIZA-Regierung zeigt. Waren schon früher – bei weitaus geringerer ökonomischer Integration der EU und weitaus geringerer „Globalisierung“ – die Chancen einer nationalstaatlichen Durchsetzung von mehr als nur punktuellen Reformen äußerst gering, wie bspw. die Erfahrungen der südeuropäischen sozialistischen (Griechenland und Spanien) bzw. sozialistisch-„kommunistischen“ (Frankreich) Regierungen der 1980er oder die Allende-Regierung in Chile Anfang der 1970er Jahre zeigen, so zeigt uns die heutige griechische Erfahrung, daß inzwischen zusätzlich die institutionalisierten Regeln und Mechanismen der Eurozone ein weiteres mächtiges Hindernis darstellen – und zwar nicht nur für deren Mitglieder, sondern vermutlich auch für deren etwaigen ehemaligen Mitglieder, die versuchen, eine größere Unabhängigkeit zu erlangen. Die Notwendigkeit der Zerschlagung des bestehenden Staatsapparates schließt heute also die Notwendigkeit ein, die supranationalen Institutionen der EU und der Eurozone zu zerschlagen und durch Vereinigte sozialistische Staaten von Europa mit ganz anderen Institutionen, die auf ganz andere Weise arbeiten, zu ersetzen.

Bei der EU handelt es sich also um eine europäische Integration ‚von oben’, also der Organisierung des Euroraums im Interesse des Kapitals; und da wiederum ist mittlerweile (oder: erneut) eine starke Dominanz des deutschen Imperialismus erkennbar, der sogar schon erste Anzeichen von Unmut und Widerstand bei einigen anderen europäischen Regierungen (denen Frankreichs und Italiens) ausgelöst hat. Im Falle Griechenlands war die Schäuble-Linie, jeglichen Handlungsspielraum der Tsipras-Regierung, der sich tendenziell gegen die Austeritätspolitik hätte richten können, abzuwürgen. Unter diesen Bedingungen gilt jedenfalls vorerst, daß es innerhalb des institutionalisierten Rahmes der EU nicht einmal mehr möglich ist, eine (links-)reformistische oder (links-)keynesianistische Politik umzusetzten. Da aber auch die Rückkehr zum Nationalstaat kein progressiver Ausweg wäre, bedürfte es tatsächlich einer koordinierten Aktion der Unterklassen der EU-Länder (zumindest zunächst einmal der Peripherie-Länder), die sich die strategischen Infrastrukturanlagen ihrer jeweiligen Länder aneignet, und eine zentrale Planung auf der Grundlage demokratischer und selbstbestimmter Basiseinheiten („Räte“) etabliert. Tatsächlich muß aber damit gerechnet werden, daß ein solcher (revolutionärer) ‚Bruch’ mit den Rahmenbedingungen der EU zumindest mittelfristig zunächst einmal eine Verschlechterung der Lage und starke ökonomische Verwerfungen verursachen könnte; weil die europäische Ökonomie doch stark untereinander verflochten ist. Dieser Preis müsste jedoch gezahlt werden, wenn die Ökonomie nicht nach dem ‚Profitprinzip’ (das – jedenfalls tendenziell – zu größerer Armut auf der einen Seite und Reichtumskonzentration bei wenigen auf der anderen Seite führt), sondern nach den tatsächlichen Bedürfnissen breiter Bevölkerungsschichten organisiert werden soll. Auf lange Sicht gesehen, sollte eine koordinierte Kooperation mehrerer europäischer Länder, die diese Form der ‚Planwirtschaft von unten’ realisieren, aber zu einer wirtschaftlichen Erholung führen können, die auch die unnötige Ressourcenverschwendung vermeiden könnte, die größere Berücksichtigung ökologischer Faktoren ermöglicht und insgesamt die notwendige gesellschaftliche Arbeitszeit deutlich verkürzen sollte. Es sollte sich aber keinen Illusionen hingegeben werden: Die internationale Bourgeoisie würde einer solchen Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Es muß nur an Chile unter Allende gedacht werden, um zu erahnen, auf was sich vorzubereiten ist.

These 5:

Die vorstehende These vom heutigen engen Spielraum für die Durchsetzung von Reformen darf freilich nicht ökonomistisch mißverstanden werden. So wie der Kapitalismus niemals von alleine zusammenbrechen wird, sondern ausschließlich dann, wenn die Lohnabhängigen die Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise stürzen, so würde der Kapitalismus auch nicht ökonomisch zusammenbrechen, wenn er gegenüber den Lohnabhängigen ‚großzügiger’ wäre, als er es meistens ist. Für uns ergibt sich die Notwendigkeit der Revolution nicht aus einem vermeintlichen „Tod des Reformismus“, sondern daraus, daß sich Herrschaft und Ausbeutung zwar mittels Reformen abmildern, aber nicht abschaffen lassen. Unser Ziel sollte nichts weniger als der Kommunismus – eine Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung und folglich auch ohne Staat sein.

These 6:

Der Kampf gegen jede Herrschaft und Ausbeutung schließt den Kampf gegen patriarchale und rassistische Herrschaft und Ausbeutung ein. Sie haben in rassistischer und sexistischer Gewalt, entsprechender hierarchischer Arbeitsteilung und Lohndiskriminierung eine eigene – vom Lohnarbeits-Kapital-Verhältnis relativ unabhängige – materielle Basis. Sexismus und Rassismus unter den Lohnabhängigen sind nicht nur von den Herrschenden eingetrichtertes ‚falsches Bewußtsein’, sondern beruhen darauf, daß Weiße und Männer in patriarchalen und rassistischen Gesellschaften aufgrund ihrer gesellschaftlichen Positionierung bevorteilt sind. Die wegweisenden Analysen dieser Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse sind in den vergangenen Jahrzehnten – wenn auch häufig im weiteren Kontext der Linken – außerhalb des revolutionären Marxismus geleistet worden; die wichtigen Kämpfe gegen Patriarchat und Rassismus sind außerhalb des Rahmens der organisierten ArbeiterInnenbewegung geführt worden.

Diese faktische Aufteilung des einen kommunistischen Anliegens der Überwindung jeder Herrschaft und Ausbeutung auf unterschiedliche Bewegungen und Theorietraditionen muß heutige revolutionäre Organisierung von Anfang an berücksichtigen.

These 7:

Reformen im alten Sinne, im Sinne des Erträglichermachens des unerträglichen status quo (nicht im neoliberalen Sinne des unerträglicher Machens von Herrschaft und Ausbeutung) fanden in den letzten zwei Jahrzehnten insbesondere im Bereich Homo und Transsexualität sowie Ökologie statt – auch wenn sie bei weitem noch nicht ausreichen, um Homo- und Transphobie sowie die ökologischen Gefährdungen zu beseitigen – und auch wenn oder vielleicht gerade weil sie in keiner Weise an der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise kratzen. Trotzdem haben diese Reformen für KommunistInnen im Sinne des Ziel einer Gesellschaft ohne Herrschaft und Ausbeutung volle Berechtigung zu haben und müssen sich nicht erst aus Nützlichkeit für oder Bezug auf Kämpfe der Lohnabhängigen rechtfertigen.

These 8:

Auch im ökonomischen und sozialpolitischen Bereich gibt es auch in den letzten Jahren ab und an erfolgreich geführte Lohnkämpfe oder einzelne Maßnahmen, die die Haupttendenz des neoliberalen Rollbacks abmildern (z.B. der in Deutschland eingeführte Mindestlohn, auch wenn er lückenhaft und zu niedrig ist).

These 9:

Auch die technologische Innovationsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ist keineswegs am Ende. Vielmehr gelingt es ihr weiterhin mit Verfahrensinnovation die Produktivität der Arbeit zu steigern und mit Produktinnovation – trotz vielfach sinkender Realeinkommen – konsumistische Integrationsangebote zu unterbreiten, die auch vielfach wahrgenommen werden.

These 10:

Es gibt also auch weiterhin eine Dialektik des Kampfes für die Revolution und von Kämpfen um Reformen: Der Unterschied zwischen RevolutionärInnen und ReformistInnen besteht nicht darin, daß Erstere den Kampf um Reformen ablehnen würden, sondern darin, daß beide diesen Kampf auf unterschiedliche Art und Weise führen:

  • RevolutionärInnen ersetzten den Kampf für die Revolution nicht durch den Kampf für Reformen, sondern kämpfen für Reformen (Linderung der ‚Ärgernisse’), solange eine Revolution (Beseitigung der ‚Ärgernisse’) nicht möglich ist.
  • Für RevolutionärInnen sind Reformen und die Revolution nicht unterschiedliche Wege zur Erreichung des gleichen Ziel, sondern unterschiedliche Mittel, die zur Erreichung unterschiedlicher Ziele geeignet sind.
  • RevolutionärInnen kämpfen nur für solche Reformen, die dem gleichzeitigen und weiteren Kampf für die Revolution nicht behindern; die sie nicht an den bestehenden Staat binden, sondern ihre Kampffähigkeit und Spielräume steigern.

These 11:

Dies schließt nicht aus, sondern ein, den Kampf für Reformen auch in Bündnissen mit ReformistInnen zusammen zu führen – aber ohne sich deren Art des Kampfes und Argumentierens für Reformen zu eigen zu machen und ohne auf eigenständige Mobilisierungen für Inhalte und Aktionen, für die keine BündnispartnerInnen zu finden sind, zu verzichten. Auch in Kämpfen gegen Imperialismus und Rassismus vertreten antikapitalistische RevolutionärInnen keinen Gegen-Nationalismus, sondern eine Position gegen jeden Nationalismus; sie beteiligen sich nicht an klassenübergreifenden „Volksfronten“.

Bündnisse sind so zu gestalten, daß sie wechselseitige Freiheit der Kritik ermöglichen. Zur Zusammenarbeit mit ReformistInnen gehört auch die Mitarbeit in Gewerkschaften und sozialen Bewegungen.

These 12:

Auch wenn RevolutionärInnen, solange eine Revolution nicht möglich ist, auch um Reformen kämpfen (These 10) und dafür Bündnisse mit ReformistInnen eingehen (These 11) sollten, so sollten sie sich doch nicht am Regieren bürgerlicher Staaten beteiligen. Dies nicht aus Gründen einer imaginären Reinheit oder weil alles unterhalb einer Revolution der sprichtwörtliche „Quark“ wäre, sondern vielmehr, weil:

  • Regieren „handeln müssen“ heißt und weil handeln, das Handeln rechtfertigen müssen, heißt; und das heißt wiederum: im Falle von bürgerlichen Staaten auch die Handlungsrestriktionen, die die Fortexistenz der Herrschaft der kapitalistischen Produktionsweise und folglich von bürgerlichen Staaten bedeuten, rechtfertigen zu müssen.
  • Oder noch einmal anders gesagt: Eine Regierung hat ein Regierungsprogramm – eine Koalitionsregierung: einen Koalitionsvertrag –, und wenn dieses Programm bzw. dieser Vertrag realisierbar sein sollen, müssen sie mindestens die Grenzen der jeweils herrschenden Produktionsweise respektieren; es sei denn, es würde sich um Revolutionsregierungen handeln.
  • Das heißt außerdem: Für RevolutionärInnen kommt nicht nur nicht in Betracht, in die Regierung eines bürgerlichen Staat einzutreten, sondern es kommt für sie auch nicht in Betracht, eine solche Regierung auf der Grundlage eines Tolerierungsvertrages – also einer ‚Paketvereinbarung’ – zu dulden. Denn Letzteres bedeutet notwendigerweise das Paket als Ganzes als ‚guten Kompromiß’ rechtfertigen zu müssen. Wenn überhaupt können RevolutionärInnen unter heutigen Bedingungen, aber bestenfalls schlechte Kompromisse schließen – und deshalb müssen sie unbedingt die Freiheit wahren, die schlechten Kompromisse „schlechte Kompromisse“ zu nennen, statt sich in die Verlegenheit zu bringen, solche Paketvereinbarungen als ‚gut’ zu rechtfertigen.

Trotzdem sollten RevolutionärInnen auch auf Regierungsebene die Realität kleinerer und größerer Übel nicht ignorieren oder kontrafaktisch bestreiten. Aber das ‚Beurteilungsobjekt’ sollten (einerseits das ‚Personal als Paket’ – als nebenrangiger Aspekt und andererseits) die einzelnenen Maßnahmen sein.

Das heißt: Eine (‚Links’)-Regierung, die grosso modo ein kleineres Übel ist, als eine alternativ
in Betracht kommende (‚Rechts’- oder ‚Mitte-Rechts’-)Regierung wäre bedingungslos ins Amt zu helfen – und gegen Abwahlanträge zu stützen (logischerweise: bis – vielleicht einmal – eine Revolution möglich ist). Und Angriffen von noch weiter rechts gegen eine solche Regierung wäre von RevolutionärInnen also entgegenzutreten. Dies dürfte freilich keine Blanco-Vollmacht in Bezug auf jede einzelne Handlung oder jeden einzelnen Gesetzesentwurf einer solchen Regierung oder der sie tragenden Parlamentsfraktionen sein, sondern diese wäre nur dann zu unterstützen, wenn sie gegenüber alternativ zur Abstimmung stehenden Vorschläge tatsächlich das kleinere Übel und noch bessere Vorschläge nicht durchsetzbar sind.

Um es noch einmal so zusammenzufassen: Das Schnüren von Koalitions- oder Tolerierungs-Paketen impliziert immer Gesamt-Verantwortung für diese Pakete übernehmen zu müssen – also das Unzureichende und häufig auch das Falsche (die in solchen Paketen enthaltenen ‚Kröten’) als ‚das Richtige’ legitimieren und damit die eigenen Ziele de-thematisieren zu müssen. Deshalb sollten RevolutionärInnen die Zustimmung zu solchen Paketen verweigern, aber trotzdem nicht negieren, daß es auf der Ebene einzelner Maßnahmen immer größere und kleinere Übel gibt.

These 13:

In These 4 wurde begründet, warum ein revolutionärer Bruch mit der EU aus unserer Sicht notwendig ist. Tatsächlich ist es aber so, daß selbst in Griechenland keine Mehrheit für solch einen Bruch existiert. Das ist auch der Grund, warum Tsipras und SYRIZA sich selbst die Hände banden bzw., sie ihnen gebunden waren (und sind): Ihnen stand und steht keine Alternative zu den EU-Strukturen zur Verfügung (ja, sie ist – ihnen – nicht einmal gedanklich greifbar). An dieser Tatsache dürfte sich kurzfristig auch nichts ändern lassen. Und selbst wenn SYRIZA in ihrer Mehrheit
jetzt auf einen ‚linken Grexit’ umschwenken würde, könnten sie eine solche Politik nur gegen die gegenwärtige Bevölkerungsmehrheit betreiben; sie müßten sich also – wenn sie keine ‚linksbonapartistische, etatistische Diktatur’[1] errichten wollen würde (was wir auch nicht für sonderlich empfehlenswert halten) – auf eine politische Oppositionsrolle in der griechischen Gesellschaft einrichten. In der Tat wäre dies unserer Meinung nach für Syriza der beste Weg: Die Regierungstätigkeit (erst einmal) beenden und sich (vorerst) auf Oppositionstätigkeit beschränken. Dies würde zwar bedeuten, zu riskieren, daß dann ‚schlimmere’ Kräfte als Syriza das Sagen bekommen; aber (viel) schlimmer als die Lage sowieso schon ist, kann es ja kaum kommen – zumal gegen SYRIZA in der Opposition. In der beschriebenen Weise ließe sich etwas Zeit gewinnen, um über eine andere (als die bisher verfolgte Verhandlungs-)Strategie nachzudenken und die eigenen ‚Truppen’ zu reorganisieren.

Darüber hinausgehender taktischer Hinweise für Griechenland von Deutschland aus möchten wir uns angesichts der gegebenen Lage enthalten. Aber da es hier ja um revolutionäre Organisierung auf europäischer Ebene gehen soll, möchten wir folgendes noch sagen:

Unserer Meinung nach kann die Zersplitterung der verschiedenen Fraktionen der revolutionären Linken (zunächst) nur über eine Organisierung auf der Grundlage programmatischer Mindeststandards überwunden werden. Als Zwischenschritt schwebt uns eine ‚Blockorganisation’ vor, ähnlich wie das griechische ANTARSYABündnis (wohlgemerkt: als Organisationsmodell, ohne daß wir das Programm von
ANTARSYA kennen, da wir kein Griechisch können und uns keine Übersetzungen in Sprachen, die wir beherrschen, bekannt sind). Als inhaltliche Mindeststandards halten wir für richtig:

1. Das Konzept des (bzw. die Einsicht in die Notwendigkeit eines) ‚revolutionären Bruch/s’.

2. Die Verweigerung der Mitverwaltung des Kapitalismus (Absage an Regierungsbeteiligungen in bürgerlichen Staaten; vgl. These 12)

3. Klassenorientierung bzw. antagonistische Orientierung in Bezug auf ‚andere revolutionäre Subjekte’, z.B. Geschlechterverhältnisse, Rassismus, spezifisch diskriminierte Gruppen u.ä.

4. Einheitsfront-Aktionen (oder bescheidener: Aktionseinheiten) auf der Grundlage gemeinsamer (Teil-)Ziele bei voller Freiheit der beteiligten Gruppen, ihre jeweiligen Auffassungen zum Ausdruck zu bringen (nach klassischer Formulierung Lenins: „Freiheit der Agitation und Propaganda“)

5. eine gewisse organisatorische Verbindlichkeit, auch bereits hinsichtlich organisatorischer Zwischenschritte.

Wir wissen, daß diese fünf Essentials einen gewissen Interpretationsspielraum enthalten und daher der Konkretisierung bedürfen. Aber wir halten sie für konkret genug, um auf deren Grundlage – (auch) europaweit – stärkere organiatorische Verbindungen zu wagen (auch wenn unsere diesbzgl. letzten Erfahrungen allein schon in Deutschland, alles andere als hoffnungsstimmend waren[2]. Angesichts des gegenwärtigen Massenbewusstseins wird ein solcher Organisierungsprozess sich erst einmal nur an die ‚subjektiv revolutionären Gruppen’ richten können und müssen (und die – spätere – Perspektive einer revolutionären Organisierung von Bevölkerungsmassen in weite, weite Ferne rücken müssen).

Aufgrund der Ungleichzeitigkeit der ökonomischen Entwicklung in den EU-Ländern hat sich allerdings in den letzten Jahren (auch wenn es in den ersten zwei Jahrzenten der ‚Süderweiterung’ zunächst anders aussah) – ähnlich wie im Verhältnis von ‚Erster’ und ‚Dritter Welt’ – ein Verhältnis vom ‚Zentrum’ und ‚Peripherie’ entwickelt, das potentiell ‚revolutionäre’ Möglichkeiten (keineswegs schon: [vor]revolutionäre Situationen. – Letzteres scheitert am – im Moment – gegebenen subjektiven Faktor!) beinhaltet. Dessen ungeachtet ist es richtig und wichtig, daß auch kleine revolutionäre Kerne in den ‚Zentren’ die Notwendigkeit betonen, daß die Forcierung der gesellschaftlichen Kämpfe im ‚eigenen’ Land die beste Form internationalistischer Solidarität ist. Wir (beide) erwarten daher von den griechischen GenossInnen nicht etwas, wozu wir (beide) selbst nicht in der Lage sind.

Aber dennoch besteht in Griechenland unter Umständen und in der gegenwärtigen Situation die Chance, mit der ‚richtigen Politik’, daß sich eine (vor)revolutionäre Situation entwickeln kann. Aber um diese so auszunutzen, dass die ‚Krise’ in eine gesellschaftliche ‚Transformation’ (im sozialistischen Sinne; siehe These 4) umschlägt, bedarf es einer revolutionären Organisation, die a) – aufgrund realistischer (und nicht gläubiger oder hoffnungsschwangerer!) Analysen – genügend programmatisch gefestigt bzw. vereinheitlicht ist und b) über eine ausreichende gesellschaftliche Verankerung bzw. Basis verfügt.

Mehr fällt uns (im Moment) nicht ein, und unsere Thesen sollen nicht mehr als einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, eine solche Organisierung auf die Beine zu stellen.

Endnoten

[1] Wir glauben zwar, daß dies nur eine theoretische Möglichkeit ist, aber es wäre immerhin denkbar – gerade in Griechenland –, daß eine ‚nationalkommunistische’ Strömung den Grexit organisieren würde, um auf dieser Grundlage die griechische Wirtschaft (relativ) unabhängig von der fortbestehenden EU neu aufzubauen. Im Prinzip wäre das so eine Art ‚sozialer Nationalstaat in EINEM Land’ – in Analogie zum stalinschen „Sozialismus in einem Land“. Sollte die griechische KKE jemals über eine gewisse Prozentzahl an AnhängerInnen hinaus gelangen, wäre ihr ein solches Ansinnen durchaus zuzutrauen. Unseres Erachtens könnte dies politisch aber nur zu einem (immer noch „bürgerlichen“) „Etatismus“ führen, und wirtschaftlich – wie oben bereits gesagt (These 4) – könnte dies über einen längeren Zeitraum zu einer massiven Verschlechterung der Versorgungslage führen. Ob eine Anbindung an
Rußland (oder andere BRICS-Staaten) da eine Entlastung bringen könnte, dürfte zweifelhaft sein.

[2] Vgl. https://systemcrash.wordpress.com/2014/03/20/was-bleibt-vom-nao-prozessals-
fliesstext/
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Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Text zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe von den Autoren.