Wie gewonnen - so zerronnen
Einblicke in  die Geschichte sogenannter Linksregierungen

Diesmal: Frankreich 1981 bis 1986

08/2015

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung und Materialzusammenstellung
von Karl-Heinz Schubert

Von der Linkspartei bis hinein in die linksradikalen Spektren entstanden in der BRD nach Syrizas Parlamentswahlerfolg am 25. Januar 2015 Hoffnungen auf eine graduelle sozialistische Transformation des krisengeschüttelten griechischen Kapitalismus. Doch es zeigte sich spätestens, als Syriza das Ergebnis des selbst inszenierten Referendums ignorierte, dass sich Syriza tatsächlich nur als sozialdemokratischer Erfüllungshilfe des Diktats des vom BRD-Kapital angeführten Euro-Blocks betätigen wollte.

So spekulativ wie zuvor linke Transformationsszenarien für Griechenland entwickelt worden waren, so spekulativ und vor allem so  geschichtsvergessen gehen nun viele BRD-Linke mit dem scheinbaren Schwenk von Syriza um. Aus unserer Leser*innenschaft kam daher die Empfehlung, ein wenig Lesefutter zu Funktion und Rolle sogenannter Linksregierungen bereitszustellen. Und - es lag nahe, an die französische Linksregierung und ihr Scheitern in den 1980er Jahren zu erinnern. Auch hier handelte es sich um einen vermeindlichen linken Transformationsversuch im Kontext der EU, der jedoch nichts anderes als ein Keynesianisches Intermezzo auf dem Weg zum Neoliberalismus war.

Wie gewonnen: Am 21.6.1981 erringen die Sozialisten erringen im zweiten Wahlgang zur französischen Nationalversammlung zusammen mit den verbündeten Linksliberalen die absolute Mehrheit.

So zerronnen: Am 16.3.1986 erreichen hingegen die bürgerlichen Parteien bei den Wahlen zur Nationalversammlung die absolute Mehrheit der Mandate. Und der 1972 gegründete Front National zieht mit 35 Mandaten erstmalig ins französische Parlament ein.

Die Sozialistischen Studiengruppen (SOST), als eine in den 1980er Jahren stark am Eurokommunismus ausgerichtete Gruppe, begeiteten mit einer wohlwohlenden Berichterstattung die französische Linksregierung auf ihrem den Weg in die Niederlage. 

Im folgenden werden wir mit drei Leseauszügen aus der SOST-Zeitung "Sozialismus" versuchen, den Weg des Scheiterns der französischen Linksregierung zu illustrieren. 

Beginnen werden wir jedoch mit einem Überblick über die ökonomischen Entwicklungen während der Zeit der Linksregierung und den wirtschaftspolitischen Maßnahmen, auszugsweise entnommen aus einer Studie der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG)  von Jochen Steinhilber:

....Die Linksregierung verfolgte zunächst das Ziel, die Massenarbeitslosigkeit und die lahmende Konjunktur als Folge des zweiten "Ölschocks" 1979/80 zu bekämpfen, indem sie mit einem binnenmarktorientierten Wachstums-und Beschäftigungsprogramm einen neuen Wachstumszyklus ankurbelte. Um die Nachfrage zu stärken, reizte die Linke die fordistischen Prinzipien bis zum Äußersten aus (vgl. Lipietz 1991, 31). Der Mindestlohn wurde um 16,8 Prozent angehoben, die Löhne im öffentlichen Dienst erhöht und staatliche Zuwendungen -insbesondere Renten und Familienbeihilfen -aufgestockt. Durch eine Steuerreform versuchte die Linkskoalition, soziale Ungleichheiten abzubauen und die Kaufkraft zu stärken. Im Rahmen einer expansiven Beschäftigungspolitik weitete sie die Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst aus (180.000), die wöchentliche Arbeitszeit wurde auf 39 Stunden verkürzt und der bezahlte Urlaub um eine Woche auf fünf Wochen ausgedehnt.

Um die strukturellen Veränderungen in der Gesamtwirtschaft durchzusetzen, wurde der öffentliche Sektor durch neue Verstaatlichungen erweitert. Insgesamt wurden 45 Betriebe verstaatlicht, darunter alle Banken und fünf große Industriekonzerne (Companie Generale d'Electricite, Saint Gobaint-pont-a Mousson, Pechiney-Ugine-Kuhlmann, Thomson-Brandt, Rhone-Poulenc; dazu kamen Dassault-Breguet, Matra, die Stahlbetriebe Usinor und Sacilor, Teile der Atomwirtschaft sowie Peugeot und die ausländischen Konzerne Machines Bull, Roussel-Uclaf und I.T.T.-France)(5). 1982 waren 22 Prozent der Erwerbsbevölkerung in öffentlichen Unternehmen beschäftigt, die 29 Prozent des Umsatzes ausmachten und 52 Prozent der Investitionen tätigten. Der Staat kontrollierte 90 Prozent der Bankeinlagen und 84 Prozent des Kreditvolumens..... Mit dem erweiterten nationalisierten Sektor im Rücken versuchte die Regierung, die Marktlücken-oder Nischenstrategie -wie sie seit Giscard verfolgt wurde -durch eine Produktkettenstrategie zu ersetzen. Statt ausschließlich die französischen Multis auf Weltmarktspezialisierung zu orientieren, sollte ein Produktionsapparat aufgebaut werden, der von den Rohstoffen bis zum spezialisierten Fertigprodukt reicht. Diese "Rückeroberung des Binnenmarkts" sollte ohne außenwirtschaftlichen Politikwechsel durchgeführt werden.

Obwohl Frankreich mit seinem autonomen nationalen Wachstumsprogramm binnenwirtschaftlich einen im Vergleich zu den anderen Industriestaaten radikal anderen Entwicklungspfad wählte, wollte die Linksregierung die Einbindung Frankreichs in den Weltmarkt und in die Europäische Integration nicht in Frage stellen. Die außenwirtschaftlichen Liberalisierungen der Ära Barre (Lockerungen im Bereich der Investitionsbedingungen für ausländisches Kapital sowie der Kapitalverkehrskontrollen) wurden nicht rückgängig gemacht und der "aquis communitaire" auf europäischer Ebene sollte erhalten bleiben.

Zwar hoffte die Linke darauf, ihr nationales Programm umsetzen zu können, ohne die außenwirtschaftlichen Zwänge mit einbeziehen zu müssen, doch bereits nach einem Jahr gerieten das außenwirtschaftliche laisser-faire und der binnenwirtschaftliche industrielle Voluntarismus miteinander in Konflikt. Die einseitige Wachstumspolitik führte gegenüber den anderen (europäischen) Ländern zu einem Konjunkturgefälle. Zwar stieg die Nachfrage der Haushalte um zehn Prozent, doch aufgrund der spezifischen Produktionslücken konnte die französische Wirtschaft diese Nachfrage nicht befriedigen. Es kam zu einem Importsog, der die Handelsbilanz weiter belastete.... Die Linksregierung war sich ohne Zweifel der industriellen Rückständigkeit Frankreichs bewußt. Doch während das Konjunkturprogramm kurzfristig griff, waren die strukturpolitischen Maßnahmen mittelfristig angelegt...Die französische Regierung versuchte deshalb die anderen westeuropäischen Länder zu einem gemeinsamen Konjunkturprogramm zu bewegen. Diese lehnten jedoch ab und profitierten gleichzeitig vom französischen Ausgabenprogramm.

Die Außenhandelsbilanz wies 1983 ein Rekorddefizit von 93,5 Milliarden Francs auf. Durch die steigende Staatsverschuldung und die Auslandsverschuldung, die sich rnittlerweile auf 300 Milliarden Francs belief, kam nun auch der Franc unter Druck. Bereits 1981 sowie im Herbst 1982 wurde er um 8,5 bzw. 10 Prozent gegenüber der DM abgewertet. 1982 verließ die Regierung ihren expansiven Kurs und kündigte als Reaktion auf die zweite Abwertung eine strikte Kontrolle der Staatsausgaben sowie einen Lohnstopp im öffentlichen Dienst an. Dies brachte jedoch nur kurzfristig eine Erleichterung, bevor im März 1983 über den Verbleib der französischen Währung im EWS von der Linksregierung endgültig entschieden werden mußte. Zu dieser Zeit kollidierte das französische Wirtschaftsmodell mit den beiden europäischen Institutionen, die auf den internationalen Waren-und Finanzmärkten für ein hohes Maß an Kreditibilität standen -dem EWS und dem gemeinsamen Markt (vgl. Deubner 1986, 11). Dieses Dilemma war nur durch einen radikalen Politikwechsel zu lösen, der Frankreichs Politik faktisch auf den angebotspolitischen Kurs seiner Nachbarländer brachte.

Die Entscheidung, den Franc innerhalb des EWS zu halten und nicht zum freien Floaten überzugehen, war der letzte Schlag gegen das keynesianische Ausgabenprogramm. Innerhalb der sozialistischen Regierung war dieser Schritt jedoch umstritten. Mitterrand neigte bis wenige Tage vor der endgültigen Entscheidung dazu, den Franc aus dem EWS herauszunehmen.... Teile der sozialistischen Fraktion plädierten dafür, die binnenwirtschaftliche Reformpolitik durch außenwirtschaftliche Maßnahmen zu ergänzen. Protektionistische Maßnahmen hätten sicherlich dazu geführt, daß Frankreich das EWS hätte verlassen müssen. Letztlich setzte sich aber die Fraktion der "gemäßigten" Ökonomen um Delors und Attali, für die der Ausstieg aus dem EWS nie eine Option war, gegen den linken Flügel um Chevenement (und bis Ende 1982 auch noch Fabius) durch.

Daß sich Mitterrand, dessen Interessen nicht auf dem Gebiet der Ökonomie lagen, bei einer gegenteiligen Entscheidung gegen alle seine engsten ökonomischen Berater gestellt hätte, war sicherlich ein Grund für diesen ersten Sieg der Modernisierer innerhalb des PS (vgl. Attali 1993, 406ft). Schließlich schwenkte auch der spätere Premierminister Fabius und frühere glühende Anhänger einer redistributiven Politik auf die Pro-EWS-Linie um. Der Bericht des damaligen directeurs du Tresor, Micheie Camdessus, schilderte noch einmal den Druck der internationalen Finanzmärkte auf den Franc und beschrieb die Konsequenzen eines Austritts aus dem EWS. Danach wären insbesondere die Devisenreserven aufgebraucht worden und die Verschuldung weiter angestiegen. Der Franc wäre gegenüber den anderen Währungen um zwei Prozent abgewertet worden, was als unmittelbare Folge einen Anstieg der Auslandsschulden bedeutet hätte, die sich ohnehin bereits auf 330 Milliarden Francs beliefen. Gleichzeitig wäre es unwahrscheinlich gewesen, daß der Franc weiterhin durch die EWS-Länder gestützt worden wäre. Frankreich hätte sich damit wahrscheinlich auch die Aussicht auf weitere internationale Kredite verbaut. Dies hätte -ähnlich wie beim britischen Pfund -Zinsraten von 20-21 Prozent zur Folge gehabt (vgl. Bauchard 1986, 144).

Nachdem Mitterrand damit kurzfristig seine Entscheidung revidierte, den Franc aus dem EWS herauszunehmen und Deutschland einer weiteren Aufwertung der D-Mark zustimmte, mußte Frankreich in den Verhandlungen mit Deutschland restriktive fiskalpolitische Vorgaben akzeptieren: eine Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge, die durch die Arbeitnehmer bezahlt wurde und staatliche Ausgabenkürzungen im Umfang von 20 Milliarden FF (vgl. Cameron 1995, 133). Der Verbleib im EWS war damit verbunden, daß sich Frankreich nicht mehr des Instruments der Abwertung bedienen konnte. Die Anpassungsleistungen wurden nun über die Löhne, Lohnnebenkosten und Sozialleistungen vollzogen. Das Prinzip der desinflation competitiven , das die Abwertungspolitik ablöste, zielte darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern, um damit mittelfristig Arbeitsplätze zu schaffen. Die Sparpolitik die Politik der "rigeur" -ließ sich offensichtlich nicht mehr abwenden.

Der "Keynesianismus in einem Land" war damit endgültig gescheitert. Statt weiterhin alternative nationale Entwicklungsziele trotz der Einbindung in die globalen Märkte zu verfolgen, stand in der Folgezeit die Anpassung an die Rahmenbedingungen der Weltmärkte im Vordergrund.....

Der folgende Spar-und Stabilisierungsplan im März 1983 -der sog. "Delors-Plan" war der Einstieg in das austeritätspolitische Paradigma der nächsten 14 Jahre. Die Regierung fror die Gehälter über 250.000 FF ein und verordnete einen Anstieg der anderen Gehälter um acht Prozent. Die reduzierte Binnennachfrage um insgesamt 65 Milliarden Francs .. was zwei Prozent des BIP entsprach .. bremste das Wachstum und führte bereits bis 1985 die Inflationsrate auf sechs Prozent zurück. Während in den letzten beiden Jahren der Barre-Regierung die Inflationsrate noch 13 Prozent betrug und die Gehälter um 14 Prozent zunahmen, betrug der Anstieg der Löhne in der Privatwirtschaft 1985 nur noch sechs Prozent. Die Arbeitslosenrate war jedoch bereits zweistellig (vgl. Cameron 1988, 21; Uterwedde 1988a, 42).

Der finanzpolitische Schwenk wurde schließlich im Frühjahr 1984 durch einen industriepolitischen Wechsel ergänzt, der zum Austritt der Kommunisten aus der Regierung führte. Neben der Aufgabe staatlicher Lenkungsfunktionen in den nationalisierten Betrieben zugunsten der "Autonomie der Unternehmensführungn und der Rückkehr zur Nischenstrategie kündigte die Regierung an, daß die industrielle Restrukturierung insbesondere in den traditionellen Industrien zu Arbeitsplatzverlusten führen werde. Damit war zum ersten Mal der traditionelle Kern der Industriearbeiterschaft -die soziale Basis des PCF -von den ergriffenen Maßnahmen direkt gefährdet. Anders als bei der Einführung der Sparbeschlüsse kam es nun zu heftigen sozialen Auseinandersetzungen in den besonders betroffenen Regionen und Branchen (Lorraine -Kohle, Stahl, Auto, Werften). Während sich die Gewerkschaft CFDT trotz einer mobilisierten Basis konzessionsbereit zeigte, ging die CGT nach dem Austritt des PCF aus der Regierung auf einen direkten Konfrontationskurs mit den Sozialisten. Es gelang ihr allerdings nicht, genügend Druck zu entfalten, um die Umstrukturierungspläne zu verhindern. Zwar führte die neue Regierung Fabius (seit Sommer 1984 im Amt) eine vorsichtige Zins-und Steuersenkung durch, doch konnten die geringen Auswirkungen auf die Investitionsfreudigkeit der Unternehmen die massiven Arbeitsplatzverluste als Folge der industriellen Restrukturierung und des Subventionsstops nicht auffangen (insbesondere in der Automobilbranche und bei Kohle und Stahl). Das Wachstum ging auf zwei Prozent zurück, und die Zahl der Arbeitslosen stieg binnen zwei Jahren um 500.000.

Im Kontext eines generellen neoliberalen Politikwechsels konnten die wenigen Innovationen, die sich auf die industriellen Beziehungen und den Staatsinterventionismus beschränkten, jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Endphase der sozialistischen Regierung durch Pragmatismus und ideologische Leere gekennzeichnet war. ....Der Sieg der Rechten bei diesen Wahlen öffnete die Tür, um den "liberalen Produktivismus" sowohl ökonomisch als auch ideologisch durchzusetzen. Im Gegensatz zu den Sozialisten, die trotz ihrer liberalen Marschrichtung die gesamtgesellschaftlichen Effekte nicht aus den Augen verlieren wollten, sprachen die Rechten von einem immer weniger  -bei Steuern, Regulierung und Staat (vgl. Lipietz 1991, 38). Den Auftakt und Kern der Maßnahmen bildete ein umfassendes Privatisierungsvorhaben. Chirac plante, innerhalb von fünf Jahren 65 Unternehmen zu privatisieren. Das Programm umfaßte nicht nur die 47 Unternehmen, die 1982 durch Mitterrand nationalisiert worden waren, sondern auch einige von de Gaulle verstaatlichte Unternehmen. Insgesamt waren von der Restrukturierung ursprünglich 1454 Betriebe mit ca. einer Million Beschäftigten betroffen (vgl. OECD 1987, 35). Der ehemals stärkste öffentliche Sektor in Europa hätte sich dann nur noch auf die im engeren Sinne öffentlichen Dienstleistungen beschränkt. Allerdings konnten die Gaullisten nach anfänglichen Verkaufserlolgen bis 1988 nur die lukrativsten 14 Unternehmensgruppen mit ca. 500.000 Beschäftigten privatisieren (vgl. Uterwedde 1996b, 3). Der "liberale Interventionismus" der Ära Fabius wurde ebenso aufgehoben, wie die zaghaften Versuche einer keynesianischen Arbeitsmarktpolitik. Die Flexibilisierung der Arbeitsmärkte wurde weiter vorangetrieben, indem die Arbeitszeitkorridore ausgedehnt, die staatliche Genehmigungspflicht für "Entlassungen aus ökonomischen Gründen" aufgehoben und die Lohnskala weiter nach unten gespreizt wurden. Die neoliberalen Orientierungen hatten sich damit auch in Frankreich durchgesetzt.

Quelle: Jochen Steinhilber, Die französische Europadebatte der achtziger und neunziger Jahre - Zwischen nationalstaatlicher Konsolidierung und Europäischer Integration. Studien der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG). Nr.12 Marburg 1998

+++++++++++

Umgestaltung?
Ein Kommentar der
Sozialistischen Studiengruppen (SOST) geschrieben zum Machtantritt der Linksregierung

Mit einem historisch einmaligen Sieg haben die französischen Sozialisten am 21. Juni die absolute Mehrheit der Sitze in der Nationalversammlung er­halten. Bereits im ersten Wahlgang wurden sie im Bündnis mit den Linken Radikalen (MRG) zur stärksten Partei; gegenüber den Parlamentswahlen von 1978 schnellte ihr Anteil von 24,7% auf 37,9% der Stimmen hoch. Das Wahl­abkommen mit den Kommunisten führ­te im zweiten Wahlgang zu einer Sitz­verteilung von 293 Mandaten für PS/ MRG und 43 Mandaten für die PCF. Die bürgerlichen Parteien mußten eine erdrutschartige Niederlage hinnehmen und verfügen nurmehr über 152 von ehemals 274 Mandaten.

Auch wenn man in Rechnung stellt, daß die Wahlbeteiligung insgesamt niedrig war und daß das französische Mehrheitswahlrecht die Sozialisten im zweiten Wahlgang überproportional begünstigt hat, wird an ihrem Wahler­folg ein Teil der wachsenden politi­schen Dynamik sichtbar, die mit Mitte­rands Sieg vom 10. Mai in Gang ge­kommen ist. Die Mehrheit der Franzo­sen hat für den politischen Wandel op­tiert; die ersten Maßnahmen der Re­gierung Mauroy tragen Signalcharak­ter für die gesellschaftspolitischen Ziel­setzungen dieses Wandels und knüp­fen bewußt an die Maßnahmen der Volksfrontregierung aus dem Jahre 1936 an.

Zum 1. Juli werden die Mindestrenten um 20% und die Familienbeihilfen und das Wohngeld um je 25% erhöht; eine weitere Wohngeldsteigerung um 25% ist für den 1. Dezember vorgese­hen. Noch vor der Sommerpause wer­den 54 000 von insgesamt 210 000 an­gekündigten Stellen im öffentlichen Dienst geschaffen; für 650 000 Ju­gendliche werden die Maßnahmen ausgedehnt, die ihnen den Einstieg ins Berufsleben erleichtern sollen. Für In­vestitionskredite werden 2,6 Mrd. Franc freigegeben.

Im Zentrum der Diskussion stehen jedoch die Erhöhung des Mindestlohns (SMIC), die Einführung der 35-Stun-den-Woche und die geplante Soziali­sierung mehrerer großer Industrie­gruppen, mit denen die Ausdehnung der Rechte der Lohnabhängigen in den Betrieben verbunden sein wird. Der SMIC wurde in einem ersten Schritt mit Wirkung vom 1. 6. 1981 um 10% ange­hoben und soll eine Höhe erreichen, bei der mehr als 4 Millionen Franzosen  - das ist ein Viertel aller Erwerbstätigen - davon partizipiert. Das beinhaltet weitgehende Veränderungen im ge­samten Lohngefüge. Die Verhandlun­gen über die 35-Stunden-Woche wur­de von der Regierung ebenfalls bereits eingeleitet; nach Auskunft von Mauroy sollen dadurch etwa 1 Million Arbeits­plätze geschaffen werden.

Politische Signalwirkung hat es auch, daß die Sofortmaßnahmen der Regierung nicht über zusätzliche Staatsverschuldung finanziert werden, sondern über den Weg der Besteue­rung hoher Einkommen und Abgaben, die den Banken, Erdölgesellschaften und einer Reihe von Großunterneh­men auferlegt wurden. Politische Si­gnalwirkung haben schließlich die Zu­sagen der Regierung, vorerst keine Imigranten auszuweisen und den Aus­bau der Kernenergiezentrale Plogoff sowie des Militärcamps Larzac zu stor­nieren.

Die Franzosen haben einer Regie­rung, deren Politik auf grundlegende strukturelle Umgestaltungen des wirt­schaftlichen und gesellschaftlichen Le­bens abzielt, einen klaren und deutli­chen Vertrauensbeweis ausgestellt. Besonders bedeutsam ist dies vordem Hintergrund drohender Obstruktions­politik des bürgerlichen Lagers auf dem Sektor der Finanzpolitik: an der Börse sackte der Kurswert der franzö­sischen Aktien in der »schwarzen Wo­che« nach dem 10. Mai im Schnitt 30%, die gleichzeitig einsetzende Flucht in den Dollar führte zu massi­vem Franceverfall. Die notwendigen Stützungkäufe und Zinssteigerungen der Bank von Frankreich drohten ihrer­seits, das Investitionsklima lahmzule­gen. Durch ihre Wahlentscheidung ha­ben viele Franzosen, die selber Klei­naktionäre sind oder durch den Ab­schluß von Lebens- und Zusatzversi­cherungen auf Aktienbasis indirekt von Kursverlusten betroffen werden, zum Ausdruck gebracht, daß sie eine sozia­listische Regierung für fähig halten, den Geld- und Devisenmarkt wieder unter Kontrolle zu bekommen und ha­ben ihr gleichzeitig die dafür notwendi­ge parlamentarische Mehrheit ge­geben.

Die französischen Sozialisten mel­den ihrerseits offensiv den Anspruch auf politische Hegemonie an. Das Übergangskabinett unter Mauroy war ein erstes Beispiel dafür, daß sie ge­willt sind, Zeitpunkt und Ort der politi­schen Auseinandersetzung mit den bürgerlichen Kräften selber zu bestim­men. Um die Argumentationsbasis für diese Auseinandersetzung zu verbes­sern, soll eine mehrköpfige Regie­rungskommission zum Herbst eine kri­tische Analyse der Abschiedsbilanz von Ex-Premierminister Barre vor­legen.

Für die Frage, ob sich in Frankreich in den nächsten 5 Jahren absoluter Regierungsmehrheit für die Sozialisten gegen die dannoch zu erwartenden ökonomischen Widerstände ein Pro­zeß der schrittweisen und friedlichen Veränderung der Gesellschaft in Gangsetzen läßt, ist es allerdings entschei­dend, in welchem Wechselverhältnis sich der politische Eingriff seitens der Regierung und die Dynamik politischer Mobilisierung an der Basis entwickeln. Die Linksregierung kann eine Verän­derung der Produktionsverhältnisse nur einleiten, wenn es ihr gleichzeitig gelingt, die politische Apathie der Mas­sen aufzubrechen und wenn die ge­planten Maßnahmen von der Mehrheit der Franzosen aktiv aufgenommen und politisch durchgesetzt werden. Ei­ne entscheidende Rolle wird in diesem Prozeß den Belegschaften derjenigen Industriegruppen zukommen, deren Nationalisierung vorgesehen ist und mit einer weitgehenden Ausdehnung der Rechte der Lohnabhängigen ver­knüpft werden soll. Die Sozialisten konnten bei den Wahlen ihre Basis in­nerhalb der Arbeiterschaft zwar ver­breitern; sie sind in diesen Industrie­gruppen jedoch nicht in gleicher Weise verankert wie die PCF. Die Niederlage der Kommunisten weist diesen wieder­um in der neuen Regierung eine Posi­tion deutlicher Minderheit zu. Sollen die Debatten um Programm und Zu­sammensetzung der neuen Regierung jedoch weitere Impulse für die politi­sche Mobilisierung im Lande setzen, sind Sozialisten wie Kommunisten ge­zwungen, den Pluralismus innerhalb der Linken anzuerkennen und auf seiner Basis eine konsens­fähige Politik zur Festigung und Erwei­terung des Handlungsspielraums der Linken im Parlament zu entwickeln.

Quelle: Sozialismus, Zeitschrift für marxistische Theo­rie und sozialistische Politik, Nr.36 vom Juli 1981, Hamburg, S. 4f

Sozialismus wird von den Sozialistischen Studiengruppen (SOST) her­ausgegeben. Die Redaktion verzichtet in der Regel auf Kennzeichnung der Autoren-schaft der Artikel, die in den SOST entstanden sind, weil sie das Ergebnis von gemeinsa­men Lern- und Arbeitsprozes­sen in den Gruppen sind. Selbstverständlich drücken die Beiträge auch politische und theoretische Differenzen aus, denn die Anerkennung der fak­tischen Pluralität von politi­schen Strömungen in der Arbei­terbewegung Westeuropas führt zur Ausarbeitung unter­schiedlicher Positionen im Ar­beitsprozeß der Studiengrup­pen. Alle namentlich nicht ge­kennzeichneten Beiträge sind kollektive Arbeitsergebnisse der SÖST und werden von der Redaktion verantwortet.

+++++++++++

Socialisme à la Francaise?
Sozialistische Studiengruppen (SOST): Auszüge aus einer kommentierenden Untersuchung von 1984

Mit der Berufung des Minister für Forschung und Industrie, Laurent Fabius, zum Ministerpräsidenten der Linksregierung am 7. Juli 1984 verließ die KPF die Regierung.

....Mit den wachsenden Schwierigkeiten der Regierung und der schrittweisen Rücknahme der Reformvorhaben ge­winnen die oppositionellen Kräfte an Boden. Im Frühjahr '83 kommt es zur ersten größeren regierungsfeindlichen Konfrontation der konservativ orien­tierten Studenten und Professoren an­läßlich einer Hochschulreform, die den Abbau von Bildungsungleichheiten und der Verselbständigung der Dozenten zum Ziel hat. Die Krankenhausärzte streiken gegen den Versuch, die Neben­tätigkeiten und die Verselbständigung der Chefärzte einzuschränken.

Bei ver­schiedenen Nachwahlen erzielen die Rechtsradikalen spektakuläre Erfolge (17% in der Industriestadt Dreux). El­ternverbände, Kirchen und Rechtspar­teien organisieren die ersten Proteste ge­gen den Versuch der stärkeren Anbin-dung der Privatschulen an das öffentli­che Erziehungssystem, die schließlich im Juni '84 zur größten Massendemonstra­tion der Nachkriegsgeschichte mit ein­deutig rechter politischer Stoßrichtung führen. Den Fuhrunternehmerverbän­den, die konservativ bis rechtsextrem orientiert sind, gelingt im Frühjahr '84 die weitgehende Blockade des Straßen­verkehrs mit der Folge partieller Stille­gung von Betrieben.

Seit Mitte '83 gehen die linken Gewerkschaften CGT und CFDT von ihrem Kurs der kritischen So­lidarität mit der Regierungskoalition ab. Der Bruch eskaliert in dem nationalen Streik der Bergarbeiter, dem eintägigen Generalstreik im öffentlichen Dienst, der ersten regierungsfeindlichen (und gewalttätigen) Demonstration der Stahlarbeiter in Lothringen und in der von der CFDT unterstützten Sabotage in den Talbotwerken. Die Zuspitzung der Situation mündet schließlich in einer Re­gierungskrise. Die Kommunisten gehen auf offenen Konfrontationskurs. Nach drei Jahren gemeinsamer Regierungs­verantwortung ist ein Hegemonieverlust der Linken und eine Verschiebung nach rechts in drastischen Dimensionen zu konstatieren. Die Linksparteien sind von einer mehr als Zweidrittelmehrheit im Parlament auf ein Drittel der abgege­benen Stimmen bei den Europawahlen zurückgefallen. Auch wenn die hohe Wahlenthaltung von 43 % stärker zu La­sten der Linken gegangen ist, drückt doch der Stimmenverlust von ca. 20% und die Wahlenthaltung der Linkswäh­ler einen großen Vertrauensverlust aus.

Die Radikalisierung nach rechts ist die andere Seite des politischen Erdrut­sches. 43% der Stimmen wurden für ein Wahlbündnis von Giscardisten und Gaullisten abgegeben, in dem 1. der Ein­fluß der letzteren deutlich gestiegen und Chirac zum unbestrittenen Kopf der rechten Opposition geworden ist und 2. die Gaullisten mit einem nach rechts ra-dikalisierten Programm aufgetreten sind. Chirac vertritt heute in Abkehr von gaullistischer Tradition einen klar mone-taristischen Kurs: Reduktion der öffent­lichen Eingriffe in die Wirtschaft, Abbau sozialer Leistungen, Steuererleichterun­gen für höhere Einkommen, Einschrän­kung von Gewerkschaftsrechten sowie eine engere militärische Anlehnung an die USA.

Diese Rechtsverschiebung konnte den komentenhaften Aufstieg des Rechtsradikalismus in Frankreich nicht verhindern. Daß eine Partei wie die Na­tionale Front Le Pens, dem Fallschirmjä­ger und Folterknecht des Algerienkrie­ges, Intimfreund des Putschistengene­rals Massu und Aktivisten der OAS, un­ter der Linksregierung einen Stimmen­gewinn von 1 auf 11% verbuchen konn­te, ist ein in der französischen Nach­kriegsgeschichte einmaliger Vorgang. Mit der »Banalisierung« des Rechtsradi­kalismus im politischen Leben Frank­reichs sind gute Voraussetzungen dafür gegeben, daß sich der Aufschwung, der zum großen Teil auf Kosten der Gaulli­sten und Giscardisten ging, fortsetzt; bei den Gaullisten wird er eine weitere Rechtsverschiebung zur Folge haben.

Erneut hat ein schlecht geplantes und stümperhaft ins Werk gesetztes soziali­stisches Experiment die politisch-kultu­relle Hegemonie einer radikalisierten Rechten eingeleitet. Zugleich scheint daher weit über Frankreich hinaus er­neut bestätigt: 1. die politische Linke verstehe nichts von gesellschaftlicher Ökonomie und zweitens sei durch das abgebrochene, mißglückte Experiment nachgewiesen, daß es keine realistische Alternative zu einer bürgerlichen Sanie-rungspolitjk gibt. Keynesianismus sei passe; eine Konjunktur- und Beschäfti­gungspolitik durch deficit-spending ha­be in den achtziger Jahren keine Chance mehr; allein die konsequente Moderni­sierung der Volkswirtschaft stelle einen Ausweg aus der Krise dar; lediglich über das Ausmaß der sozialen Abfederung der Kosten eines beschleunigten Struk­turwandels könne gestritten werden. Die Hegemonie des bürgerlichen Denkens drückt sich also bereits darin aus, daß bis weit in die Linke hinein die konservative Argumentation übernommen wird, weshalb das französische Experiment scheitern mußte...

Quelle: Sozialismus, Zeitschrift für marxistische Theorie und sozialistische Politik, 9/84 (September/Oktober 1984), Hamburg, S. 15f

Sozialismus wird von den Sozialistischen Studiengruppen (SOST) her­ausgegeben. Die Redaktion verzichtet in der Regel auf Kennzeichnung der Autoren-schaft der Artikel, die in den SOST entstanden sind, weil sie das Ergebnis von gemeinsa­men Lern- und Arbeitsprozes­sen in den Gruppen sind. Selbstverständlich drücken die Beiträge auch politische und theoretische Differenzen aus, denn die Anerkennung der fak­tischen Pluralität von politi­schen Strömungen in der Arbei­terbewegung Westeuropas führt zur Ausarbeitung unter­schiedlicher Positionen im Ar­beitsprozeß der Studiengrup­pen. Alle namentlich nicht ge­kennzeichneten Beiträge sind kollektive Arbeitsergebnisse der SÖST und werden von der Redaktion verantwortet.

+++++++++++

Nationalisierung als Blockade
Bilanz der französichen Linken
von Horst Arenz

Auszug aus den politischen Schlussfolgerungen einer Untersuchung von fünf Jahren Politik der Linksregierung - verfasst unmittelbar vor den Wahlen zur Nationalversammlung am 16.März 1986.

....Die Linke hat eine schwere Hypothek hinterlassen: Weil die Reorganisation der öffentlichen Eingriffe in Wirtschaft und Gesellschaft unzureichend erfolgte, weil die Nationalisierun­gen weitgehend isoliert von den anderen Aufgaben der Umge­staltung vollzogen wurden, weil in der Folge die versprochenen Reformen nicht realisiert bzw. sogar z.T. zurückgenommen wurden, trifft sie eine erhebliche Verantwortung für das An­schwellen von Antistaatlichkeit und Politikfeindlichkeit.

Ei­ner Umfrage zufolge waren Ende '84 80% der Befragten der Ansicht, alle Politiker gleich welcher Coleur sagten eher die Unwahrheit als die Wahrheit. Gerade eine mißlungene Natio­nalisierungspolitik ist eine hervorragende Quelle für Anti-staatlichkeit. Die gewachsenen Ansprüche an Individualität im Sinne von selbstbestimmter Lebensgestaltung schlagen umsomehr in den Individualismus des »Rette sich wer kann« und des » Leistung muß sich wieder lohnen« um, je weniger ih­re Realisierung durch entsprechende gesamtgesellschaftliche Reformen, d.h. vor allem durch öffentlich gelenkte Maßnah­men, gesichert ist. Eine bewußtere Individualität fühlt sich we­sentlich stärker von staatlicher Fehlleitung entmündigt. Dar­aus die Ablehnung verstärkter öffentlicher Eingriffe zu schlußfolgern, wie heute von Teilen der Sozialisten zu hören ist (aber auch aus der SPD), ist perspektivlos. Die Linke hat es versäumt, der gewachsenen Individualität durch eine staatlich gelenkte Wirtschafts- und Sozialpolitik breitere Entfaltungs­möglichkeiten zu liefern und damit die Selbstaktivität der Massen zu fördern.

Die Linke in Frankreich hatte das »Pech«, in einer Situation zugespitzter Spaltung und weltweiter wirtschaftlicher Rezes­sion an die Macht zu gelangen; die Komplexität der Aufgabe hat sie überfordert. Wir haben keinen Anlaß zu sagen: »Wir haben es schon immer gewußt«. Auch der nun in der SPD an­zutreffende Schluß nach dem Motto: »Ein europäischer Be­schäftigungspakt ist die einzige Chance, den nationalen An­strengungen für mehr Arbeit zum Erfolg zu verhelfen; wenn nur ein Land aktiv wird, verpuffen die Maßnahmen«, ist ver­fehlt. Gerade die Pressionen der Schmidt-Genscher-Regie­rung im Herbst '81 gegen eine größere französische Autono­mie in der Haushalts- und Währungspolitik zeigen, daß ein zu starkes Abhängigmachen von der in der EG dominierenden Wirtschaftspolitik zu höchsten Empfindlichkeiten der natio­nalen Politik von den Gegensätzen in der Gemeinschaft führt, die seitdem sogar noch zugenommen haben.

Die ab Ende '82 praktizierte Politik der Unterwerfung unter die Renditekonditionen des Weltmarktes ist gescheitert. Die Konzeption der verstärkten Nationalisierung verbunden mit einer weitgehenden außenwirtschaftlichen Abschottung hat sich als nicht realistisch erwiesen. Das »französische Experi­ment« hat aber zugleich verdeutlicht, auf welche zentralen Elemente einer sozialorientierten Antikrisen- und Reform­politik sich die Linke zu konzentrieren hätte. Es fungiert hier­zulande wie eine Sonde zur Messung der Lernfähigkeit der Linken.

Quelle: Sozialismus, Zeitschrift für marxistische Theorie und sozialistische Politik, 2/86 (Februar/März 1986), Hamburg, S.36