Des öfteren wird behauptet, daß die
Freudsche Psychoanalyse mit dem dialektischen Materialismus durchaus
vereinbar sei. Auch Professor Brun vertritt diese Auffassung. Ich
möchte mich von vornherein von dieser Ansicht abgrenzen und
versuchen, gegen den äußeren Schein, der für sie sprechen mag, den
Beweis fürs Gegenteil anzutreten. Kurz, ich behaupte, daß Freuds
Psychoanalyse und der dialektische Materialismus völlig unvereinbar
sind.
Wir haben es hier mit zwei
verschiedenen philosophischen Grundanschauungen zu tun. Uns
beschäftigt dementsprechend nicht die Freudsche Psychologie als
solche, sondern der philosophische Blickpunkt, von dem sie ausgeht.
Um die Freudsche Anschauung mit dem dialektischen Materialismus
vergleichen zu können, müssen wir zunächst dessen Hauptmerkmale
aufführen.
Die Wesenszüge des dialektischen
Materialismus zerfallen in zwei Gruppen: die Merkmale des
Materialismus und die der Dialektik. Der Materialismus hat zwei
Charakterzüge: erstens, die Priorität der Materie vor dem Geist und
ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Geist; der Geist erscheint als
Funktion einer Materie, die in bestimmter Weise, nämlich im Gehirn —
oder genauer: im höheren Nervensystem — organisiert ist. Zweitens
wird vorausgesetzt, daß der Verstand als eine Funktion des Gehirns
die objektive materielle Welt ohne theoretische Begrenzung erkennen
kann.
Wir wollen zunächst feststellen, ob die
Freudsche Psychoanalyse Ausdruck einer materialistischen
Weltanschauung ist.
Die These, die ich verteidigen möchte,
lautet, daß Freud seinem Wesen nach das Gegenteil eines
Materialisten, nämlich ein subjektiver Idealist ist. Der herkömmliche
oder klassische subjektive Idealismus wurde von Bischof Berkeley
begründet. Er geht von der Behauptung aus, daß die Welt vom Menschen
aus seiner Sinneserfahrung und aus der Idee geschaffen wird. Der
Mensch kennt nur seine eigenen Ideen, aus denen er sich seine private
individuelle Welt errichtet. Die Ideen können auf Gott (Berkeley),
logische Beziehungen (logischer Positivismus) oder Worte und die
grammatische Syntax (Semantik) zurückgehen. Jedenfalls ist die
„Welt" ein Erzeugnis des Geistigen, ob es nun
Gott oder dem Menschen angehört. In
welcher Form eine solche Anschauung auch auftritt, sie mindert die
Wissenschaft zu bloßen Formeln für die
Organisation der menschlichen Erfahrung herab, ohne ihr einen
objektiven Dezug zuzugestehen. Trennt man sich jedoch von der
objektiven Wirklichkeit, so wird die Wissenschaft entmannt und der
Obskurantismus aller Spielarten — von der Pseudowissenschaft bis zur
Magie, zu Mythus und Religion — ermutigt; und dies, obwohl viele
Vertreter des subjektiven Idealismus die Wissenschaft nachdrücklich
verteidigen und den Obskurantismus angreifen.
In letzter Zeit, während der
vergangenen fünfzig Jahre, sind besonders in den Vereinigten Staaten
anziehendere — weniger akademische, mehr volkstümliche — Formen des
subjektiven Idealismus entstanden. Mancherlei Blüten haben sie
getrieben, eine davon ist der Pragmatismus, der die menschliche (die
sogenannte biologisch-instinktgerichtete) Aktivität
als das Bindemittel betrachtet, das die individuelle Welt
zusammenhalten soll. Vom Gesichtspunkt des Pragmatismus schafft sich
der Mensch seine Welt aus seiner alltäglichen instrumentalen
Betätigung, indem er seine Bedürfnisse, Ziele, Wünsche und
Sehnsüchte zu befriedigen sucht. Real ist, was sich erfolgreich
individuellen (James) oder sozialen (DeweyJ Zielen nähert. In keinem
Fall ist ein objektiver Bezug vorhanden, weil alles, was der Mensch
erkennt, allein seine eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung oder
Verdrängung sind. Diese Bedürfnisse sind für den Pragmatismus letzten
Endes biologischer Natur.
Eine andere Form des modernen
subjektiven Idealismus ist Freuds Psychoanalyse. Sie ist ihrem Wesen
nach dem Pragmatismus sehr verwandt. Der Mensch schafft sich seine
Welt aus der Befriedigung oder Unterdrückung seiner Instinkte. Der
grundlegende Unterschied zwischen der Freudschen Psychoanalyse und
dem Pragmatismus besteht lediglich in der Art der Bedürfnisse, mit
denen sie sich beschäftigen.
Während sich der Pragmatismus fast
ausschließlich mit dem prosaischen Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung,
Wohnung und ästhetischer Erfahrung befaßt, richtet die Psychoanalyse
die Aufmerksamkeit auf die viel verworreneren Sexual- und
Todesinstinkte und ihre verschiedenen Verirrungen
wie Blutschande, Sadismus oder Masochismus. Der Mensch kennt nur die
Befriedigung, Unterdrückung, Verdrängung und Erhöhung seiner, wie man
glaubt, ununterdrückbaren Sexual- und Todesinstinktc. Aus ihnen
schafft er seine dämonische private Welt.
Es geht hier darum, daß der
Pragmatismus und der Freudisinus philosophisch nicht weniger
subjektiv-idealistisch sind als der Berkeleysche,
der logisch-positivistische
und der semantische Idealismus. Der wesentliche Unterschied besteht
allein in der verführerischen Tarnung der biologischen Aktivität, sei
sie nun praktisch oder sexuell. Die Freudsche Psychoanalyse scheint
ebenso wie der Pragmatismus "materialistisch"
zu sein, da sie sich in der Hauptsache mit „biologischen" Trieben
oder Instinkten befaßt.
Der klassische subjektive Idealismus
stützte sich auf die menschliche Passivität, um die Subjektivität zu
sichern. Logischer Positivismus, Semantik, Pragmatismus und Freudsche
Psychoanalyse gelangen auf entgegengesetztem Weg zu demselben Ziel.
Nicht die ausschließliche Passivität, sondern ausschließliche
Aktioitöt liegt diesen jüngsten Versionen zugrunde: Der Mensch ist
so aktiv — logisch wie semantisch oder biologisch —, daß, was er auch
erkennt, wiederum nur seine eigene logische, semantische oder
biologische Aktivität ist. Aus dieser Aktivität, und nicht, wie bei
Berkeley, aus passiv empfangenen Ideen, schafft er sich seine Welt.
Ist es aber von so großer Bedeutung, welcher Weg eingeschlagen wird,
wenn das Ziel das gleiche ist: eine selbstgeschaffene,
selbstbewirkte, auf das eigene Selbst bezogene Umwelt? In jedem Fall
erscheint die Welt von dem einen oder dem anderen Attribut
menschlicher Erfahrung verzerrt: Die mir bekannte Welt ist meine
Erfahrung dieser Welt und besteht nicht unabhängig von mir, von
meinem Verstand, meinen Instinkten und meinen Bedürfnissen. Die
Gesetze und Tatsachen der Wissenschaft werden auf diese Weise zu
Fiktionen, zu einer mehr oder minder schockierenden Art und Weise,
die menschliche Erfahrung zu organisieren.
Philosophisch betrachtet, gehört Freud
meiner Ansicht nach zur Entwicklungslinie des subjektiven
Idealismus, und dabei zu den jüngeren Abarten, die sich eher
biologisch als streng geistig darbieten.
Die idealistische Orientierung der
Freudschen Psychoanalyse kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck.
Das Erste und Wichtigste ist Freuds Behandlung des menschlichen
Bewußtseins. Obwohl er dem Grundsatz, daß der Verstand eine Funktion
des Gehirns ist, Lippendienste erweist, entwickelt er ohne jeden
Hinweis auf die Gehirnfunktionen eine rein geistige Psychologie und
Psychotherapie. Er stattet den Geist mit allerlei Instinkten, Trieben
und Empfindungen aus, die der Entwicklung seiner Theorien dienen. Er
behandelt den immateriellen Geist als eine Ganzheit mit ihrer
eigenen, der „psychischen Energie*. Er rüstet ihn mit einer Überfülle
von ererbten Ideen und sogenannten Rassencrinnerungen an die
Stammesgesellschaft aus. So läßt er den lange Zeit diskreditierten
Begriff der angeborenen Ideen wieder aufleben, die, zusammen mit den
angeborenen Instinkten und Trieben, das geistige Leben beherrschen.
Auf diese und andere
Weise erschüttert Freud den Grundsatz des Materialismus, daß das
Bewußtsein des Menschen eine Funktion des Gehirns ist und darum von
diesem Organ nicht getrennt werden kann. Man kann dem Verstand nicht
spekulative Eigenschaften, Triebe, Instinkte und angeborene Ideen
zuschreiben. Solche Eigenschaften können nur durch die Untersuchungen
der Gehirnphysiologie wissenschaftlich bestimmt werden. Die Frage
nach Natur und Umfang der angeborenen Aktivität muß von der
Wissenschaft durch die Untersuchung der höheren Nerventätigkeit
geklärt werden. Die Pawlowsche Wissenschaft hat in dieser Hinsicht
beträchtliche Fortschritte gemacht, als sie die unbedingten Reflexe
und Reflexketten bei Tieren und Menschen untersuchte.
Indem Freud den Verstand als eine
körperlose, rein seelische Erscheinung behandelt, trennt er sich vom
Materialismus und geht zum philosophischen Idealismus über. Den im
wesentlichen idealistischen Charakter seiner Denkweise verbirgt er,
indem er dem Bewußtsein sogenannte biologische Instinkte und Triebe
zuschreibt. In bezug auf das erste Merkmal des Materialismus ist es
also falsch, zu behaupten, daß ihm die Freudsche Psychoanalyse
gerecht werde.
Der zweite Wesenszug des Materialismus,
der voraussetzt, daß die Welt voll und ganz erkennbar ist, gründet
sich auf die Sinneserfahrung als wesentlichem Zugang zur Erkenntnis.
Die Sinneserfahrung führt zusammen mit der praktischen Tätigkeit und
der begrifflichen Verallgemeinerung — der Einheit von Theorie und
Praxis — zu immer umfassenderer Erkenntnis der Umwelt. Für Freud
dagegen spielt die Sinneserfahrung eine ganz nebensächliche Rolle.
Sie ist den angeborenen Trieben, Instinkten, Rassenerinnerungen und
deren Verdrängung untergeordnet. Die Sinne erfüllen in erster Linie
eine auslösende Funktion, indem sie die angeborenen geistigen
Schemata in Bewegung setzen. Freud nennt sie »Fühler"; sie
ermöglichen nicht die Erkenntnis der Außenwelt, sondern sind
lediglich Reize zur Anregung innerer, rein geistiger Mechanismen. Die
echte Verstandestätigkeit ist, nach Freud, der tödliche Kampf
zwischen Unterbewußtsein und Bewußtsein. Das Ziel dieses inneren
Kampfes besteht in der Erreichung einer Art dynamischen
Gleichgewichts zwischen den Trieben und deren Unterdrückung.
Für Freud ist die Außenwelt in erster
Linie eine Quelle der Anregung innerer geistiger Vorgänge. Die Frage
nach der Erkenntnis der Welt ist daher für ihn von geringerer
Bedeutung. Es ist von der erweiterten Kenntnis der geistigen Vorgänge
des Menschen die Rede, tatsächlich verbirgt sich hier jedoch die
Verletzung des zweiten Hauptprinzips des Materialismus. Wenn die
Rolle geleugnet wird, die die Sinneserfahrung für die Erkenntnis
spielt, wird Erkenntnis — sowohl der Welt wie des geistigen Lebens -
überhaupt unmöglich. Das bedeutet praktisch die Verleugnung der
Erkennbarkeit der Wirklichkeit und eine stillschweigende Anerkennung
der Irrationalität und des Obskurantismus.
Der philosophische Materialismus beruht
auf der Widerspiegelungstheorie und der Konzeption der Wuhrheit, die
sich daraus ergibt. Freuds Herabsetzung der
Sinneserfahrung auf die bloße Rolle von Reizen, die die
Bewußtseinsstrukturen in Bewegung setzen, bedeutet die Verleugnung
dieser Grundsätze. Sie schließt die Ablehnung der materialistischen
Erkenntnistheorie ein. In bezug auf die behandelten beiden
grundlegenden Lehrsätze des Materialismus kann man Freud also nicht
als philosophischen (oder psychologischen) Materialisten betrachten.
Kann man aber mit größerer Berechtigung
behaupten, daß die Freudsche Psychoanalyse mit der dialektischen
Denkweise vereinbar ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir
uns zunächst den wesentlichen Kennzeichen der materialistischen
Dialektik zuwenden. Erst dann können wir feststellen, ob die
Freudsche Denkweise mit ihnen in Einklang zu bringen ist.
Die dialektische Denkweise wird durch
drei Wesenszüge gekennzeichnet: durch den allgemeinen Zusammenhang
und die Veränderlichkeit der Erscheinungen sowie durch den Kampf der
Gegensätze. Wenn man die Erscheinungen in ihrer wechselseitigen
Beziehung sieht, so heißt dies, daß nichts mehr verstanden wird,
sobald es aus dem Zusammenhang seiner Umgebung, aus der Verbindung
mit seinen räumlichen und zeitlichen Wechselbeziehungen, gelöst
wird. Ein Ding kann nur im Verhältnis sowohl zu seiner eigenen
Vergangenheit und Zukunft wie auch zu den Dingen seiner Umgebung, die
für seine Existenz und Entwicklung unerläßlich sind, verstanden
werden. Jeder Versuch, eine Erscheinung außerhalb ihres
Zusammenhangs, ihrer zeitlichen und räumlichen Beziehungen, zu
betrachten, ist, in dialektischer Sicht, metaphysisch. Genauer
gesagt, ist es ein Versuch, ein Phänomen in der Isolierung zu
behandeln, und Isolierung ist ein Wesenszug metaphysischen oder
mechanischen Denkens. Sie bildet den metaphysischen oder
mechanistischen Gegensatz zur dialektischen allgemeinen Bezogenhelt
aller Erscheinungen.
Freud betrachtet nun das menschliche
Bewußtsein nicht nur ohne Bezug auf das Gehirn — das Organ, dessen
Funktion das Denken ist —, sondern auch als im wesentlichen losgelöst
von der sozialen Umgebung. Er beschäftigt sich in erster Linie mit
der Beziehung des Bewußtseins eines Erwachsenen zu dem eines Kindes,
des heutigen zum primitiven Menschen und der Beziehung des Bewußten
zum Unbewußten. Mit diesen Beziehungen will Freud zeigen, daß sich
jeder gegebene Bewußtseinszustand aus angeborenen, rassisch ererbten
Trieben und Tabus ergibt, beispielsweise dem Trieb zu
blutschänderischen Beziehungen und dem entsprechenden Tabu.
Der einzige Versuch, den Freud
unternimmt, um den allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen zu
erfassen, betrifft zeitliche Beziehungen. Aber sogar hier ist die
zeitliche Beziehung, mit der er sich befaßt, nicht echt. Sie zerrt
bereits verworfene Vorstellungen, wie die von
der biologisch vererbbaren Idee, Erscheinungen
wie die angebliche Ursünde des Vatermordes und der Blutschande, die
Schemata der oralen und analen Phasen, des Ödipuskomplexes,
Penisnnids und des Kastrationskomplexes, wieder hervor. Kurz, Freud
behauptet, daß die entscheidende Beziehung des menschlichen
Bewußtseins die Beziehung zu seiner primitiven Vergangenheit ist, die
als farbenfreudiger Mythus geschildert wird. Diese Mythen beherrschen
dann das Bewußtsein des heutigen Menschen und bestimmen sowohl den
Charakter und die persönlichen Eigenheiten, die Beziehungen zwischen
den Individuen, besonders innerhalb der Familie, als auch die Träume
und die .Wahl" der Neurose. Wo Freud also wirklich den Versuch macht,
sich mit der gegenseitigen Verbindung der Erscheinungen, nämlich mit
der Entwicklung des Bewußtseins, auseinandeizusetzen, sieht er die
Bewußtseinsvorgänge in einem phantastischen und eingestandenermaßen
mythischen zeitlichen Zusammenhang. Daß echte Beziehungen aber durch
eingebildete ersetzt werden, bedeutet, daß geistige Erscheinungen
zeitlich wie räumlich isoliert, unabhängig von jedem Zusammenhang,
behandelt werden, und dies sowohl im Hinblick auf ihre Vergangenheit
wie auf die sozialen Bedingungen, ohne Zusammenhang zur Geschichte
wie zur Umwelt.
Dem ersten Anschein nach kann solch
eine historische Sicht dialektisch scheinen. Tatsächlich jedoch
verbirgt diese Aufmerksamkeit, die Freud der Bewußtseinsentwicklung
zuwendet, nur die Tatsache, daß er das menschliche Bewußtsein
losgelöst von seiner Vergangenheit und auch von der Gesellschaft
betrachtet. Der Schluß, der in bezug auf
dieses erste Merkmal der Dialektik zu ziehen ist, lautet
also, daß die Freudschen Gedanken nicht nur
mit dem dialektischen Grundsatz des allgemeinen Zusammenhangs der
Erscheinungen unvereinbar, sondern daß sie ihrem Wesen nach sogar
Ausdruck seines geraden Gegenteils sind, nämlich der metaphysischen
oder mechanistischen Isolierung.
Das zweite Kennzeichen der Dialektik
ist die Veränderlichkeit. Veränderung im dialektischen Sinne
schließt zwei Aspekte ein: die quantitative Veränderung, in der ein
Ding seinem Wesen nach das gleiche bleibt, obwohl es sich graduell
oder größenordnungsmäßig verändert: und die qualitative Veränderung,
in der die quantitative Veränderung einen Punkt erreicht hat, an dem
sich eine Umwandlung in etwas gänzlich anderes vollzieht. Die
Dialektik bestätigt die Einheit und das Zusammenwirken dieser beiden
Arten von Veränderungen in der Welse, daß das im Entstehen begriffene
Neue, obwohl es in allgemeinen Zögen vorausgesehen werden kann, als
Hauptmerkmal einer offenen, nie vollendeten, sich ständig
verändernden Welt gesehen wird. Aus dieser Wirklichkeitssicht folgt,
duß sich die Umgebung einer jeden gegebenen Ganzheit fortwährend
verändert und diese Ganzheit in einer oder mehrfacher Weise
beeinflußt: sie beschleunigt oder hemmt die Entwicklung des Ganzen.
Die Kausalität, die ursächliche Bedingtheit der Veränderung,
bedeutet die Einheit und das Zusammenwirken des Inneren und Äußeren.
Der ursächliche Zusammenhang wird daher stets als determiniert, als
kausal gebunden, jedoch nicht als prädeterminiert, als
vorherbestimmt, betrachtet. Die unbedingte Vorherbestimmtheit bildet
den metaphysischen oder mechanistischen Gegensatz zu der realen
Veränderlichkeit des Seins. Denn wenn alles in diesem Sinn
vorherbestimmt ist, bedeutet dies, daß es nichts Neues geben kann,
daß nur die unendliche Wiederholung herrscht. Was in der Welt
geschieht, erinnert an die Bewegung eines Hundes, der sich in seinen
Schwanz verbeißt und sich dabei um seine Achse dreht. So ist
Prädetermination gleichbedeutend mit Statik und Unveränderlichkeit.
Die Welt, den Menschen oder das Bewußtsein als ihrem Wesen nach
vorherbestimmt, statisch und unveränderlich zu betrachten, bedeutet
jedoch, nicht mit der Dialektik, sondern mit der Metaphysik eine
Verbindung einzugehen. Welche Auffassung finden wir hier bei Freud?
In Freuds psychoanalytischem System Ist
das menschliche Bewußtsein In doppelter Weise vorherbestimmt. Das
Bewußtsein dea Kindes — von einem bis zu vier Jahren - Ist durch
angeborene rassische Triebe, Erinnerungen und Tabus dazu
prädestiniert, die infantilen sexuellen Phasen zu durchlaufen oder
aber in ihnen steckenzubleiben. Dieses Schicksal ist erblich
festgelegt und unvermeidlich. Die angeborenen rassischen Triebe und
Tabus verdichten sich zu Komplexen wie dem Ödipus-
und dem Kastrationskomplex, dem Penisneid usw. Auf diese Weise
werden die allgemeinen Merkmale des geistigen Lebens des Kindes
vorherbestimmt. Zufällige Faktoren wandeln die festen Schemata
lediglich ab oder verstärken noch Ihre Wirkung. Sie stoßen Freud
zufolge das Schicksal, in das man hineingeboren wird, nicht um,
sondern gestatten es ihm lediglich, eine gewisse Individualität zu
gewinnen.
Zweitens determiniert die Art und
Weise, in der das Kind die verschiedenen infantilen Phasen und
Individuellen Wechselfälle durchlauft, das Bewußtsein des
Erwachsenen. Charaktereigenschaften und die "Wahl"
der Neurosen z. B. sind von Kindheit an bestimmt. Man kann sagen, daß
für Freud das Bewußtsein des Erwachsenen das infantile Verhalten oder
die Verhaltensweise, die sich In der Kindheit geformt hat,
wiederholt. Freud hält also da» menschliche Bewußtsein für doppelt
determiniert: durch das rassische Erbe des Urmenschen und die
infantilen Phasen sowie ihre Abwandlungen. Das einzig Neue, das es
hierbei gibt, besteht In Einzelheiten, wahrend das Schicksal im
wesentlichen unveränderlich bleibt. Es vollzieht sich daher keine
echte Umwandlung; alles bleibt für alle Zeit in derselben
vorherbestimmten Schablone. Hier erweist der Freudsche Gedankengang,
daß Prädetermlnatlon
mit Statik und Unveränderlichkeit identisch ist. Es gibt keine
qualitative, sondern nur eine graduelle oder den Umfang botreffende
Veränderung. So unterscheidet Freuds Analyse Hamlet und
Ödipus nur nach dem Grad der Verdrängung. Die
moderne Zivilisation kennt eine stärkere
Verdrängung und daher stärkere Charakterformungen id Neurosen als
die klassische Zivilisation.
Die Determination des Bewußtseins durch
rassisches Erbe und verdrängte infantile Erinnerungen läßt nur
quantitative Veränderungen zu. Löst man jedoch die quantitative
Veränderung von ihrem dialektisch untrennbaren Gegenteil, der
qualitativen Veränderung, so hört sie auf, Veränderung zu sein. Sie
entfaltet sich; und dies bedeutet, daß sich entfaltet, was
schon von Anbeginn an da war: das angeborene Schicksal, die
determinierten Komplexe und ihre Folgen. Auch in bezug auf dieses
zweite typische Merkmal der Dialektik bedient sich Freud also der
metaphysischen, mechanistischen Denkweise statt der dialektischen. Da
er Wandlungen auf ein bloßes prädestiniertes quantitatives
Sich-Ent-falten zurückführt, bekennt er sich mehr zur Statik als zu
echter Veränderlichkeit der "Dinge.
Der dritte Wesenszug der Dialektik ist
der Widerspruch oder die Einheit, der Widerstreit und die
gegenseitige Durchdringung oder Umwandlung der Gegensätze. Die
.Gegensätze" sind nicht formaler, sondern historischer Natur, sie
ergeben sich aus der Entwicklung. Einerseits sind sie das, was ein
Ding war, seine Vergangenheit, andererseits aber, was ein Ding sein
wird, seine Zukunft. Die Gegenwart eines jeden Dinges oder Vorgangs
ist die Einheit, der Kampf und möglicherweise die Umwandlung dieser
Gegensätze, sie ist die konkrete Vergangenheit und Zukunft. Das Neue,
die Entstehung einer neuen Erscheinung, ist das Ergebnis dieses
Vorgangs. Die neue Erscheinung wiederum hat ihre eigene Vergangenheit
und Zukunft und ihre eigene Gegenwart, die durch den letzten Stand im
Widerstreit zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft bestimmt
wird. Jedes Ding und jeder Typus hat deshalb seine eigenen
Entwicklungsgesetze und seine besonderen Gegensätze.
Die Betonung des Neuen als Ergebnis des
Kampfes der Gegensätze
wird durch ein allerdings äußerst wichtiges Hilfsprinzip
unterstrichen. Dieses Prinzip wird die Negation der Negation genannt
oder, allgemeiner, das Gesetz der Spiralen Entwicklung. Im
wesentlichen verkörpert diese Theorie die Erkenntnis, daß die
Entwicklung zu immer neuen Hohen mit neuen eigenen Gesetzen
fortschreitet, daS sie sich zu wiederholen scheint, während sie
tatsächlich stets Neues schafft, und zwar nicht nur im Einzelfall,
sondern auch in dor Art. So gleicht die Kurve der Entwicklung oder
der Geschichte nicht einem Kreis, sondern einer Spirale.
Die Entwicklungskurve hat schon darum
die Form einer Spirale, well die Vergangenheit die Zukunft nicht
determiniert, sondern vielmehr als ihr Teil In sie eingeht. Die
Prädetermination durch den einen Teil des Gegensatzpaares,
die Vergangenheit, führt zur ausschließlichen Hervorhebung des einen
Teils und so zum Ausschluß des anderen, der Zukunft. Die
Überbetonung der Vergangenhelt
In Form der Prädestination bestimmt die Entwicklungskurve
im voraus zu einer Form, die sich stets
wiederholt, zum Kreis.
Gleichzeitig bedeutet die
ausschließliche Hervorhebung eines Teiles des Gegensatzpaares — In
diesem Falle der Vergangenheit — eine Verleugnung des dialektischen
Prinzips der Einheit, des Kampfes und der gegenseitigen Durchdringung
der Gegensätze und entspricht damit dem metaphysischen Denken.
In welchem Zusammenhang steht dies
alles mit der Freudschen Auffassung vom menschlichen Bewußtsein?
Freud betont mit seiner doppelten Determination des
Bewußtseins durch die Vergangenheit - durch rassische Vererbung und
verdrängte infantile Komplexe — ausschließlich den einen Pol des
Gegensatzes, was notwendig zur Unterdrückung des anderen führen muß.
Auf diese Weise sagt er sich von der dialektischen Einheit, dem Kampf
und der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze los und
verschreibt sich der metaphysischen Denkwelse.
Nichtsdestoweniger scheint Freud das
dialektische Prinzip des Kampfes der Gegensätze anzuerkennen. Er
erreicht dies, indem er zwei offenbar formale Gegensätze In
den Mittelpunkt seiner Auffassung vom Bewußtsein rückt: die
instinktiven Triebe und die entsprechenden Tabus. Dieser Gegensatz
ist eine Form der Determination durch die Vergangenheit. Aus zwei
Gründen ist er nicht dialektisch. Es handelt sich in den beiden
Fällen um bestimmte Seiten der Vergangenheit oder um einen Aspekt der
Vergangenheit und einen Aspekt der Zukunft. An einem Pol dieses
Gegensatzpaares findet sich die rassisch erbliche Gruppe
pervertierter Sexual- und Todestriebe, genauer, sie schließen den
Trieb zu Blutschande und zu Vater- und Muttermord ein. Zusammen
bilden sie eine Seite des Freudschen .Gegensatzes". Auf der anderen
Seite befinden Bich, ebenso vorherbestimmt durch eine
Ur-Vergangenheit, das Tabu gegen die Befriedigung der ersten Serie
von Trieben, so das angeborene Tabu gegen Vater- und Muttermord und
Blutschande. Freud betrachtet das menschliche Bewußtsein als das
„Schlachtfeld", auf dem angeborene Triebe und angeborene Tabus
miteinander kämpfen. Es ist ein vorgeordneter Kampf zweier Seiten der
Vergangenheit, dessen Ergebnis ebenso vorherbestimmt ist; im besten
Falle führt er zur Fortentwicklung von Wissenschaft und Kunst und im
schlimmsten - und häufigeren - Falle zu sexueller Perversion, zu
Charakterverformung, zu Verbrechen, Kriegen und Neurosen.
Man glaubt oft, daß Freud dialektisch
sei, well man im Kampf der instinktiven Triebe und der angeborenen
Tabus angeblich den Konflikt der "Gegensätze"
wiederfindet. Tatsächlich jedoch bemerkt man bei genauerer Prüfung,
wie wir gesehen haben, daß sich In diesen sogenannten Gegensatzpaaren
nicht eine dialektische Weltsicht ankündigt, daß das Freudsche Denken
nicht dialektisch, sondern in Wahrheit metaphysisch oder
mechanistisch Ist.
Eingangs wurde der Schluß gezogen, daß
Freud kein Materialist, sondern ein moderner subjektiver Idealist
sei. Wenn wir die beiden Schlüsse nun vereinen, müssen wir die
Freudsche Psychoanalyse als eine Form des metaphysischen oder
mechanistischen subjektiven Idealismus bezeichnen. Und dies ist der
philosophische Gegensatz zum dialektischen Materialismus.
Der äußere Schein verleiht der
Freudschen Psychoanalyse eine ober flächliche
Ähnlichkeit mit dem dialektischen Materialismus. Bei einem Blick
unter diese Oberfläche macht die Tatsache ihrer ausgesprochenen
Unvereinbarkeit diesen ersten Eindruck wieder zunichte. Die Freudsche
Psychoanalyse ist nicht nur völlig unvereinbar mit dem dialektischen
Materialismus, sie ist sein genaues Gegenteil.
Ein Anzeichen ihrer Unvereinbarkeit und
Gegensätzlichkeit findet man auch in dem Gebrauch, der von diesen
beiden Philosophien in der menschlichen gesellschaftlichen Praxis
gemacht wird. Während einerseits der dialektische Materialismus die
Wissenschaft — Gesellschafts- und Naturwissenschaften — und die
Künste auf objektivem, realistischem und humanistischem Weg zu einer
neuen Gesellschaftsordnung mit neuen menschlichen Werten und
Beziehungen führt, führen die Anhänger Freuds Wissenschaften und
Künste in einen Morast von Subjektivismus und psychologisierendem
Pessimismus. Die Welt des menschlichen Seins und der menschlichen
Gesellschaft geht in einem Nebel von pervertierten und verzerrten
inner- und zwischenpersönlichen Beziehungen verloren. Die eine
Philosophie dient den Zielen des Fortschritts und der Menschlichkeit,
während die andere nur hilft, den Status quo zu erhalten und die
Menschheit in einen Abgrund von Zynismus und Entwertung zu stürzen.
Die eine ist eine rationale, humanistische . hilosophie, die andere
eine irrationale, entmenschlichende Auffassung vom Menschen. Sie
befinden sich in einem Widerspruch, in dem sich das Neue, das im
Entstehen begriffen ist, auf der einen und tödliche Krankheit auf der
anderen Seite gegenüberstehen.
Editorischer Hinweis
Erstveröffentlicht in: Peters, Arno (Hrsg.): Periodikum für den
wissenschaftlichen Sozialismus. Eine internationale Monatszeitschrift,
München 1959, Heft 14. |