Psychoanalyse
Weder materialistisch noch dialektisch

von Harry K. Wells, New York
 

08/2015

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Des öfteren wird behauptet, daß die Freudsche Psychoanalyse mit dem dialektischen Materialismus durchaus vereinbar sei. Auch Professor Brun vertritt diese Auffassung. Ich möchte mich von vornherein von dieser Ansicht abgrenzen und versuchen, gegen den äußeren Schein, der für sie sprechen mag, den Beweis fürs Gegenteil anzutreten. Kurz, ich behaupte, daß Freuds Psychoanalyse und der dialektische Materialis­mus völlig unvereinbar sind.

Wir haben es hier mit zwei verschiedenen philosophischen Grund­anschauungen zu tun. Uns beschäftigt dementsprechend nicht die Freud­sche Psychologie als solche, sondern der philosophische Blickpunkt, von dem sie ausgeht. Um die Freudsche Anschauung mit dem dialektischen Materialismus vergleichen zu können, müssen wir zunächst dessen Hauptmerkmale aufführen.

Die Wesenszüge des dialektischen Materialismus zerfallen in zwei Gruppen: die Merkmale des Materialismus und die der Dialektik. Der Materialismus hat zwei Charakterzüge: erstens, die Priorität der Ma­terie vor dem Geist und ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Geist; der Geist erscheint als Funktion einer Materie, die in bestimmter Weise, nämlich im Gehirn — oder genauer: im höheren Nervensystem — orga­nisiert ist. Zweitens wird vorausgesetzt, daß der Verstand als eine Funktion des Gehirns die objektive materielle Welt ohne theoretische Begrenzung erkennen kann.

Wir wollen zunächst feststellen, ob die Freudsche Psychoanalyse Ausdruck einer materialistischen Weltanschauung ist.

Die These, die ich verteidigen möchte, lautet, daß Freud seinem We­sen nach das Gegenteil eines Materialisten, nämlich ein subjektiver Idealist ist. Der herkömmliche oder klassische subjektive Idealismus wurde von Bischof Berkeley begründet. Er geht von der Behauptung aus, daß die Welt vom Menschen aus seiner Sinneserfahrung und aus der Idee geschaffen wird. Der Mensch kennt nur seine eigenen Ideen, aus denen er sich seine private individuelle Welt errichtet. Die Ideen können auf Gott (Berkeley), logische Beziehungen (logischer Positivis­mus) oder Worte und die grammatische Syntax (Semantik) zurück­gehen. Jedenfalls ist die „Welt" ein Erzeugnis des Geistigen, ob es nun Gott oder dem Menschen angehört. In welcher Form eine solche An­schauung auch auftritt, sie mindert die Wissenschaft zu bloßen Formeln für die Organisation der menschlichen Erfahrung herab, ohne ihr einen objektiven Dezug zuzugestehen. Trennt man sich jedoch von der objek­tiven Wirklichkeit, so wird die Wissenschaft entmannt und der Obsku­rantismus aller Spielarten — von der Pseudowissenschaft bis zur Magie, zu Mythus und Religion — ermutigt; und dies, obwohl viele Vertreter des subjektiven Idealismus die Wissenschaft nachdrücklich verteidigen und den Obskurantismus angreifen.

In letzter Zeit, während der vergangenen fünfzig Jahre, sind beson­ders in den Vereinigten Staaten anziehendere — weniger akademische, mehr volkstümliche — Formen des subjektiven Idealismus entstanden. Mancherlei Blüten haben sie getrieben, eine davon ist der Pragmatis­mus, der die menschliche (die sogenannte biologisch-instinktgerichtete) Aktivität als das Bindemittel betrachtet, das die individuelle Welt zu­sammenhalten soll. Vom Gesichtspunkt des Pragmatismus schafft sich der Mensch seine Welt aus seiner alltäglichen instrumentalen Betäti­gung, indem er seine Bedürfnisse, Ziele, Wünsche und Sehnsüchte zu befriedigen sucht. Real ist, was sich erfolgreich individuellen (James) oder sozialen (DeweyJ Zielen nähert. In keinem Fall ist ein objektiver Bezug vorhanden, weil alles, was der Mensch erkennt, allein seine eigenen Bedürfnisse, deren Befriedigung oder Verdrängung sind. Diese Bedürfnisse sind für den Pragmatismus letzten Endes biologischer Natur.

Eine andere Form des modernen subjektiven Idealismus ist Freuds Psychoanalyse. Sie ist ihrem Wesen nach dem Pragmatismus sehr ver­wandt. Der Mensch schafft sich seine Welt aus der Befriedigung oder Unterdrückung seiner Instinkte. Der grundlegende Unterschied zwischen der Freudschen Psychoanalyse und dem Pragmatismus besteht lediglich in der Art der Bedürfnisse, mit denen sie sich beschäftigen.

Während sich der Pragmatismus fast ausschließlich mit dem prosai­schen Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Wohnung und ästhetischer Erfahrung befaßt, richtet die Psychoanalyse die Aufmerksamkeit auf die viel verworreneren Sexual- und Todesinstinkte und ihre verschie­denen Verirrungen wie Blutschande, Sadismus oder Masochismus. Der Mensch kennt nur die Befriedigung, Unterdrückung, Verdrängung und Erhöhung seiner, wie man glaubt, ununterdrückbaren Sexual- und Todesinstinktc. Aus ihnen schafft er seine dämonische private Welt.

Es geht hier darum, daß der Pragmatismus und der Freudisinus phi­losophisch nicht weniger subjektiv-idealistisch sind als der Berkeleysche, der logisch-positivistische und der semantische Idealismus. Der wesentliche Unterschied besteht allein in der verführerischen Tarnung der biologischen Aktivität, sei sie nun praktisch oder sexuell. Die Freud­sche Psychoanalyse scheint ebenso wie der Pragmatismus "materiali­stisch" zu sein, da sie sich in der Hauptsache mit „biologischen" Trieben oder Instinkten befaßt.

Der klassische subjektive Idealismus stützte sich auf die menschliche Passivität, um die Subjektivität zu sichern. Logischer Positivismus, Semantik, Pragmatismus und Freudsche Psychoanalyse gelangen auf entgegengesetztem Weg zu demselben Ziel. Nicht die ausschließliche Passivität, sondern ausschließliche Aktioitöt liegt diesen jüngsten Ver­sionen zugrunde: Der Mensch ist so aktiv — logisch wie semantisch oder biologisch —, daß, was er auch erkennt, wiederum nur seine eigene logische, semantische oder biologische Aktivität ist. Aus dieser Akti­vität, und nicht, wie bei Berkeley, aus passiv empfangenen Ideen, schafft er sich seine Welt. Ist es aber von so großer Bedeutung, welcher Weg eingeschlagen wird, wenn das Ziel das gleiche ist: eine selbst­geschaffene, selbstbewirkte, auf das eigene Selbst bezogene Umwelt? In jedem Fall erscheint die Welt von dem einen oder dem anderen Attribut menschlicher Erfahrung verzerrt: Die mir bekannte Welt ist meine Erfahrung dieser Welt und besteht nicht unabhängig von mir, von meinem Verstand, meinen Instinkten und meinen Bedürfnissen. Die Gesetze und Tatsachen der Wissenschaft werden auf diese Weise zu Fiktionen, zu einer mehr oder minder schockierenden Art und Weise, die menschliche Erfahrung zu organisieren.

Philosophisch betrachtet, gehört Freud meiner Ansicht nach zur Ent­wicklungslinie des subjektiven Idealismus, und dabei zu den jüngeren Abarten, die sich eher biologisch als streng geistig darbieten.

Die idealistische Orientierung der Freudschen Psychoanalyse kommt auf verschiedene Weise zum Ausdruck. Das Erste und Wichtigste ist Freuds Behandlung des menschlichen Bewußtseins. Obwohl er dem Grundsatz, daß der Verstand eine Funktion des Gehirns ist, Lippen­dienste erweist, entwickelt er ohne jeden Hinweis auf die Gehirnfunk­tionen eine rein geistige Psychologie und Psychotherapie. Er stattet den Geist mit allerlei Instinkten, Trieben und Empfindungen aus, die der Entwicklung seiner Theorien dienen. Er behandelt den immateriellen Geist als eine Ganzheit mit ihrer eigenen, der „psychischen Energie*. Er rüstet ihn mit einer Überfülle von ererbten Ideen und sogenannten Rassencrinnerungen an die Stammesgesellschaft aus. So läßt er den lange Zeit diskreditierten Begriff der angeborenen Ideen wieder auf­leben, die, zusammen mit den angeborenen Instinkten und Trieben, das geistige Leben beherrschen.

Auf diese und andere Weise erschüttert Freud den Grundsatz des Materialismus, daß das Bewußtsein des Menschen eine Funktion des Gehirns ist und darum von diesem Organ nicht getrennt werden kann. Man kann dem Verstand nicht spekulative Eigenschaften, Triebe, Instinkte und angeborene Ideen zuschreiben. Solche Eigenschaften können nur durch die Untersuchungen der Gehirnphysiologie wissenschaftlich bestimmt werden. Die Frage nach Natur und Umfang der angeborenen Aktivität muß von der Wissenschaft durch die Untersuchung der höheren Nerventätigkeit geklärt werden. Die Pawlowsche Wissenschaft hat in dieser Hinsicht beträchtliche Fortschritte gemacht, als sie die unbedingten Reflexe und Reflexketten bei Tieren und Menschen untersuchte.

Indem Freud den Verstand als eine körperlose, rein seelische Erschei­nung behandelt, trennt er sich vom Materialismus und geht zum philo­sophischen Idealismus über. Den im wesentlichen idealistischen Charak­ter seiner Denkweise verbirgt er, indem er dem Bewußtsein sogenannte biologische Instinkte und Triebe zuschreibt. In bezug auf das erste Merkmal des Materialismus ist es also falsch, zu behaupten, daß ihm die Freudsche Psychoanalyse gerecht werde.

Der zweite Wesenszug des Materialismus, der voraussetzt, daß die Welt voll und ganz erkennbar ist, gründet sich auf die Sinneserfahrung als wesentlichem Zugang zur Erkenntnis. Die Sinneserfahrung führt zusammen mit der praktischen Tätigkeit und der begrifflichen Verall­gemeinerung — der Einheit von Theorie und Praxis — zu immer umfas­senderer Erkenntnis der Umwelt. Für Freud dagegen spielt die Sinnes­erfahrung eine ganz nebensächliche Rolle. Sie ist den angeborenen Trie­ben, Instinkten, Rassenerinnerungen und deren Verdrängung unter­geordnet. Die Sinne erfüllen in erster Linie eine auslösende Funktion, indem sie die angeborenen geistigen Schemata in Bewegung setzen. Freud nennt sie »Fühler"; sie ermöglichen nicht die Erkenntnis der Außenwelt, sondern sind lediglich Reize zur Anregung innerer, rein geistiger Mechanismen. Die echte Verstandestätigkeit ist, nach Freud, der tödliche Kampf zwischen Unterbewußtsein und Bewußtsein. Das Ziel dieses inneren Kampfes besteht in der Erreichung einer Art dyna­mischen Gleichgewichts zwischen den Trieben und deren Unterdrückung.

Für Freud ist die Außenwelt in erster Linie eine Quelle der Anregung innerer geistiger Vorgänge. Die Frage nach der Erkenntnis der Welt ist daher für ihn von geringerer Bedeutung. Es ist von der erweiterten Kenntnis der geistigen Vorgänge des Menschen die Rede, tatsächlich verbirgt sich hier jedoch die Verletzung des zweiten Hauptprinzips des Materialismus. Wenn die Rolle geleugnet wird, die die Sinneserfahrung für die Erkenntnis spielt, wird Erkenntnis — sowohl der Welt wie des geistigen Lebens - überhaupt unmöglich. Das bedeutet praktisch die Verleugnung der Erkennbarkeit der Wirklichkeit und eine stillschwei­gende Anerkennung der Irrationalität und des Obskurantismus.

Der philosophische Materialismus beruht auf der Widerspiegelungs­theorie und der Konzeption der Wuhrheit, die sich daraus ergibt. Freuds Herabsetzung der Sinneserfahrung auf die bloße Rolle von Reizen, die die Bewußtseinsstrukturen in Bewegung setzen, bedeutet die Verleug­nung dieser Grundsätze. Sie schließt die Ablehnung der materialisti­schen Erkenntnistheorie ein. In bezug auf die behandelten beiden grundlegenden Lehrsätze des Materialismus kann man Freud also nicht als philosophischen (oder psychologischen) Materialisten betrachten.

Kann man aber mit größerer Berechtigung behaupten, daß die Freud­sche Psychoanalyse mit der dialektischen Denkweise vereinbar ist? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir uns zunächst den wesentlichen Kennzeichen der materialistischen Dialektik zuwenden. Erst dann kön­nen wir feststellen, ob die Freudsche Denkweise mit ihnen in Einklang zu bringen ist.

Die dialektische Denkweise wird durch drei Wesenszüge gekenn­zeichnet: durch den allgemeinen Zusammenhang und die Veränderlich­keit der Erscheinungen sowie durch den Kampf der Gegensätze. Wenn man die Erscheinungen in ihrer wechselseitigen Beziehung sieht, so heißt dies, daß nichts mehr verstanden wird, sobald es aus dem Zu­sammenhang seiner Umgebung, aus der Verbindung mit seinen räum­lichen und zeitlichen Wechselbeziehungen, gelöst wird. Ein Ding kann nur im Verhältnis sowohl zu seiner eigenen Vergangenheit und Zukunft wie auch zu den Dingen seiner Umgebung, die für seine Existenz und Entwicklung unerläßlich sind, verstanden werden. Jeder Versuch, eine Erscheinung außerhalb ihres Zusammenhangs, ihrer zeitlichen und räumlichen Beziehungen, zu betrachten, ist, in dialektischer Sicht, meta­physisch. Genauer gesagt, ist es ein Versuch, ein Phänomen in der Isolierung zu behandeln, und Isolierung ist ein Wesenszug metaphy­sischen oder mechanischen Denkens. Sie bildet den metaphysischen oder mechanistischen Gegensatz zur dialektischen allgemeinen Bezogenhelt aller Erscheinungen.

Freud betrachtet nun das menschliche Bewußtsein nicht nur ohne Be­zug auf das Gehirn — das Organ, dessen Funktion das Denken ist —, sondern auch als im wesentlichen losgelöst von der sozialen Umgebung. Er beschäftigt sich in erster Linie mit der Beziehung des Bewußtseins eines Erwachsenen zu dem eines Kindes, des heutigen zum primitiven Menschen und der Beziehung des Bewußten zum Unbewußten. Mit diesen Beziehungen will Freud zeigen, daß sich jeder gegebene Bewußt­seinszustand aus angeborenen, rassisch ererbten Trieben und Tabus ergibt, beispielsweise dem Trieb zu blutschänderischen Beziehungen und dem entsprechenden Tabu.

Der einzige Versuch, den Freud unternimmt, um den allgemeinen Zusammenhang der Erscheinungen zu erfassen, betrifft zeitliche Bezie­hungen. Aber sogar hier ist die zeitliche Beziehung, mit der er sich befaßt, nicht echt. Sie zerrt bereits verworfene Vorstellungen, wie die von der biologisch vererbbaren Idee, Erscheinungen wie die angebliche Ursünde des Vatermordes und der Blutschande, die Schemata der oralen und analen Phasen, des Ödipuskomplexes, Penisnnids und des Kastra­tionskomplexes, wieder hervor. Kurz, Freud behauptet, daß die ent­scheidende Beziehung des menschlichen Bewußtseins die Beziehung zu seiner primitiven Vergangenheit ist, die als farbenfreudiger Mythus geschildert wird. Diese Mythen beherrschen dann das Bewußtsein des heutigen Menschen und bestimmen sowohl den Charakter und die per­sönlichen Eigenheiten, die Beziehungen zwischen den Individuen, be­sonders innerhalb der Familie, als auch die Träume und die .Wahl" der Neurose. Wo Freud also wirklich den Versuch macht, sich mit der gegenseitigen Verbindung der Erscheinungen, nämlich mit der Entwick­lung des Bewußtseins, auseinandeizusetzen, sieht er die Bewußtseins­vorgänge in einem phantastischen und eingestandenermaßen mythischen zeitlichen Zusammenhang. Daß echte Beziehungen aber durch eingebil­dete ersetzt werden, bedeutet, daß geistige Erscheinungen zeitlich wie räumlich isoliert, unabhängig von jedem Zusammenhang, behandelt werden, und dies sowohl im Hinblick auf ihre Vergangenheit wie auf die sozialen Bedingungen, ohne Zusammenhang zur Geschichte wie zur Umwelt.

Dem ersten Anschein nach kann solch eine historische Sicht dialek­tisch scheinen. Tatsächlich jedoch verbirgt diese Aufmerksamkeit, die Freud der Bewußtseinsentwicklung zuwendet, nur die Tatsache, daß er das menschliche Bewußtsein losgelöst von seiner Vergangenheit und auch von der Gesellschaft betrachtet. Der Schluß, der in bezug auf die­ses erste Merkmal der Dialektik zu ziehen ist, lautet also, daß die Freudschen Gedanken nicht nur mit dem dialektischen Grundsatz des allgemeinen Zusammenhangs der Erscheinungen unvereinbar, sondern daß sie ihrem Wesen nach sogar Ausdruck seines geraden Gegenteils sind, nämlich der metaphysischen oder mechanistischen Isolierung.

Das zweite Kennzeichen der Dialektik ist die Veränderlichkeit. Ver­änderung im dialektischen Sinne schließt zwei Aspekte ein: die quanti­tative Veränderung, in der ein Ding seinem Wesen nach das gleiche bleibt, obwohl es sich graduell oder größenordnungsmäßig verändert: und die qualitative Veränderung, in der die quantitative Veränderung einen Punkt erreicht hat, an dem sich eine Umwandlung in etwas gänz­lich anderes vollzieht. Die Dialektik bestätigt die Einheit und das Zu­sammenwirken dieser beiden Arten von Veränderungen in der Welse, daß das im Entstehen begriffene Neue, obwohl es in allgemeinen Zögen vorausgesehen werden kann, als Hauptmerkmal einer offenen, nie voll­endeten, sich ständig verändernden Welt gesehen wird. Aus dieser Wirklichkeitssicht folgt, duß sich die Umgebung einer jeden gegebenen Ganzheit fortwährend verändert und diese Ganzheit in einer oder mehrfacher Weise beeinflußt: sie beschleunigt oder hemmt die Entwick­lung des Ganzen. Die Kausalität, die ursächliche Bedingtheit der Ver­änderung, bedeutet die Einheit und das Zusammenwirken des Inneren und Äußeren. Der ursächliche Zusammenhang wird daher stets als determiniert, als kausal gebunden, jedoch nicht als prädeterminiert, als vorherbestimmt, betrachtet. Die unbedingte Vorherbestimmtheit bildet den metaphysischen oder mechanistischen Gegensatz zu der realen Ver­änderlichkeit des Seins. Denn wenn alles in diesem Sinn vorherbestimmt ist, bedeutet dies, daß es nichts Neues geben kann, daß nur die unend­liche Wiederholung herrscht. Was in der Welt geschieht, erinnert an die Bewegung eines Hundes, der sich in seinen Schwanz verbeißt und sich dabei um seine Achse dreht. So ist Prädetermination gleichbedeutend mit Statik und Unveränderlichkeit. Die Welt, den Menschen oder das Bewußtsein als ihrem Wesen nach vorherbestimmt, statisch und un­veränderlich zu betrachten, bedeutet jedoch, nicht mit der Dialektik, sondern mit der Metaphysik eine Verbindung einzugehen. Welche Auf­fassung finden wir hier bei Freud?

In Freuds psychoanalytischem System Ist das menschliche Bewußtsein In doppelter Weise vorherbestimmt. Das Bewußtsein dea Kindes — von einem bis zu vier Jahren - Ist durch angeborene rassische Triebe, Erinnerungen und Tabus dazu prädestiniert, die infantilen sexuellen Phasen zu durch­laufen oder aber in ihnen steckenzubleiben. Dieses Schicksal ist erblich fest­gelegt und unvermeidlich. Die angeborenen rassischen Triebe und Tabus verdichten sich zu Komplexen wie dem Ödipus- und dem Kastrationskom­plex, dem Penisneid usw. Auf diese Weise werden die allgemeinen Merk­male des geistigen Lebens des Kindes vorherbestimmt. Zufällige Faktoren wandeln die festen Schemata lediglich ab oder verstärken noch Ihre Wirkung. Sie stoßen Freud zufolge das Schicksal, in das man hineingeboren wird, nicht um, sondern gestatten es ihm lediglich, eine gewisse Individualität zu gewinnen.

Zweitens determiniert die Art und Weise, in der das Kind die verschie­denen infantilen Phasen und Individuellen Wechselfälle durchlauft, das Be­wußtsein des Erwachsenen. Charaktereigenschaften und die "Wahl" der Neurosen z. B. sind von Kindheit an bestimmt. Man kann sagen, daß für Freud das Bewußtsein des Erwachsenen das infantile Verhalten oder die Verhaltensweise, die sich In der Kindheit geformt hat, wiederholt. Freud hält also da» menschliche Bewußtsein für doppelt determiniert: durch das rassische Erbe des Urmenschen und die infantilen Phasen sowie ihre Ab­wandlungen. Das einzig Neue, das es hierbei gibt, besteht In Einzelheiten, wahrend das Schicksal im wesentlichen unveränderlich bleibt. Es vollzieht sich daher keine echte Umwandlung; alles bleibt für alle Zeit in derselben vorherbestimmten Schablone. Hier erweist der Freudsche Gedankengang, daß Prädetermlnatlon mit Statik und Unveränderlichkeit identisch ist. Es gibt keine qualitative, sondern nur eine graduelle oder den Umfang botref­fende Veränderung. So unterscheidet Freuds Analyse Hamlet und Ödipus nur nach dem Grad der Verdrängung. Die moderne Zivilisation kennt eine stärkere Verdrängung und daher stärkere Charakterformungen id Neu­rosen als die klassische Zivilisation.

Die Determination des Bewußtseins durch rassisches Erbe und ver­drängte infantile Erinnerungen läßt nur quantitative Veränderungen zu. Löst man jedoch die quantitative Veränderung von ihrem dialektisch untrennbaren Gegenteil, der qualitativen Veränderung, so hört sie auf, Veränderung zu sein. Sie entfaltet sich; und dies bedeutet, daß sich ent­faltet, was schon von Anbeginn an da war: das angeborene Schicksal, die determinierten Komplexe und ihre Folgen. Auch in bezug auf dieses zweite typische Merkmal der Dialektik bedient sich Freud also der metaphysischen, mechanistischen Denkweise statt der dialektischen. Da er Wandlungen auf ein bloßes prädestiniertes quantitatives Sich-Ent-falten zurückführt, bekennt er sich mehr zur Statik als zu echter Ver­änderlichkeit der "Dinge.

Der dritte Wesenszug der Dialektik ist der Widerspruch oder die Ein­heit, der Widerstreit und die gegenseitige Durchdringung oder Um­wandlung der Gegensätze. Die .Gegensätze" sind nicht formaler, son­dern historischer Natur, sie ergeben sich aus der Entwicklung. Einerseits sind sie das, was ein Ding war, seine Vergangenheit, andererseits aber, was ein Ding sein wird, seine Zukunft. Die Gegenwart eines jeden Dinges oder Vorgangs ist die Einheit, der Kampf und möglicherweise die Um­wandlung dieser Gegensätze, sie ist die konkrete Vergangenheit und Zukunft. Das Neue, die Entstehung einer neuen Erscheinung, ist das Ergebnis dieses Vorgangs. Die neue Erscheinung wiederum hat ihre eigene Vergangenheit und Zukunft und ihre eigene Gegenwart, die durch den letzten Stand im Widerstreit zwischen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft bestimmt wird. Jedes Ding und jeder Typus hat des­halb seine eigenen Entwicklungsgesetze und seine besonderen Gegensätze.

Die Betonung des Neuen als Ergebnis des Kampfes der Gegensätze wird durch ein allerdings äußerst wichtiges Hilfsprinzip unterstrichen. Dieses Prinzip wird die Negation der Negation genannt oder, allgemeiner, das Ge­setz der Spiralen Entwicklung. Im wesentlichen verkörpert diese Theorie die Erkenntnis, daß die Entwicklung zu immer neuen Hohen mit neuen eigenen Gesetzen fortschreitet, daS sie sich zu wiederholen scheint, während sie tatsächlich stets Neues schafft, und zwar nicht nur im Einzelfall, sondern auch in dor Art. So gleicht die Kurve der Entwicklung oder der Geschichte nicht einem Kreis, sondern einer Spirale.

Die Entwicklungskurve hat schon darum die Form einer Spirale, well die Vergangenheit die Zukunft nicht determiniert, sondern vielmehr als ihr Teil In sie eingeht. Die Prädetermination durch den einen Teil des Gegensatzpaares, die Vergangenheit, führt zur ausschließlichen Hervorhebung des einen Teils und so zum Ausschluß des anderen, der Zukunft. Die Überbeto­nung der Vergangenhelt In Form der Prädestination bestimmt die Entwicklungskurve im voraus zu einer Form, die sich stets wiederholt, zum Kreis.

Gleichzeitig bedeutet die ausschließliche Hervorhebung eines Teiles des Gegensatzpaares — In diesem Falle der Vergangenheit — eine Verleugnung des dialektischen Prinzips der Einheit, des Kampfes und der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze und entspricht damit dem metaphysischen Denken.

In welchem Zusammenhang steht dies alles mit der Freudschen Auf­fassung vom menschlichen Bewußtsein? Freud betont mit seiner doppelten Determination des Bewußtseins durch die Vergangenheit - durch rassische Vererbung und verdrängte infantile Komplexe — ausschließlich den einen Pol des Gegensatzes, was notwendig zur Unterdrückung des anderen führen muß. Auf diese Weise sagt er sich von der dialektischen Einheit, dem Kampf und der gegenseitigen Durchdringung der Gegensätze los und verschreibt sich der metaphysischen Denkwelse.

Nichtsdestoweniger scheint Freud das dialektische Prinzip des Kampfes der Gegensätze anzuerkennen. Er erreicht dies, indem er zwei offenbar formale Gegensätze In den Mittelpunkt seiner Auffassung vom Bewußtsein rückt: die instinktiven Triebe und die entsprechenden Tabus. Dieser Gegen­satz ist eine Form der Determination durch die Vergangenheit. Aus zwei Gründen ist er nicht dialektisch. Es handelt sich in den beiden Fällen um bestimmte Seiten der Vergangenheit oder um einen Aspekt der Vergangen­heit und einen Aspekt der Zukunft. An einem Pol dieses Gegensatzpaares findet sich die rassisch erbliche Gruppe pervertierter Sexual- und Todes­triebe, genauer, sie schließen den Trieb zu Blutschande und zu Vater- und Muttermord ein. Zusammen bilden sie eine Seite des Freudschen .Gegen­satzes". Auf der anderen Seite befinden Bich, ebenso vorherbestimmt durch eine Ur-Vergangenheit, das Tabu gegen die Befriedigung der ersten Serie von Trieben, so das angeborene Tabu gegen Vater- und Muttermord und Blutschande. Freud betrachtet das menschliche Bewußtsein als das „Schlacht­feld", auf dem angeborene Triebe und angeborene Tabus miteinander kämpfen. Es ist ein vorgeordneter Kampf zweier Seiten der Vergangenheit, dessen Ergebnis ebenso vorherbestimmt ist; im besten Falle führt er zur Fortentwicklung von Wissenschaft und Kunst und im schlimmsten - und häu­figeren - Falle zu sexueller Perversion, zu Charakterverformung, zu Ver­brechen, Kriegen und Neurosen.

Man glaubt oft, daß Freud dialektisch sei, well man im Kampf der instink­tiven Triebe und der angeborenen Tabus angeblich den Konflikt der "Gegen­sätze" wiederfindet. Tatsächlich jedoch bemerkt man bei genauerer Prüfung, wie wir gesehen haben, daß sich In diesen sogenannten Gegensatzpaaren nicht eine dialektische Weltsicht ankündigt, daß das Freudsche Denken nicht dialektisch, sondern in Wahrheit metaphysisch oder mechanistisch Ist.

Eingangs wurde der Schluß gezogen, daß Freud kein Materialist, son­dern ein moderner subjektiver Idealist sei. Wenn wir die beiden Schlüsse nun vereinen, müssen wir die Freudsche Psychoanalyse als eine Form des metaphysischen oder mechanistischen subjektiven Idea­lismus bezeichnen. Und dies ist der philosophische Gegensatz zum dia­lektischen Materialismus.

Der äußere Schein verleiht der Freudschen Psychoanalyse eine ober flächliche Ähnlichkeit mit dem dialektischen Materialismus. Bei einem Blick unter diese Oberfläche macht die Tatsache ihrer ausgesprochenen Unvereinbarkeit diesen ersten Eindruck wieder zunichte. Die Freudsche Psychoanalyse ist nicht nur völlig unvereinbar mit dem dialektischen Materialismus, sie ist sein genaues Gegenteil.

Ein Anzeichen ihrer Unvereinbarkeit und Gegensätzlichkeit findet man auch in dem Gebrauch, der von diesen beiden Philosophien in der menschlichen gesellschaftlichen Praxis gemacht wird. Während einerseits der dialektische Materialismus die Wissenschaft — Gesell­schafts- und Naturwissenschaften — und die Künste auf objektivem, realistischem und humanistischem Weg zu einer neuen Gesellschafts­ordnung mit neuen menschlichen Werten und Beziehungen führt, führen die Anhänger Freuds Wissenschaften und Künste in einen Morast von Subjektivismus und psychologisierendem Pessimismus. Die Welt des menschlichen Seins und der menschlichen Gesellschaft geht in einem Nebel von pervertierten und verzerrten inner- und zwischenpersön­lichen Beziehungen verloren. Die eine Philosophie dient den Zielen des Fortschritts und der Menschlichkeit, während die andere nur hilft, den Status quo zu erhalten und die Menschheit in einen Abgrund von Zynis­mus und Entwertung zu stürzen. Die eine ist eine rationale, humanisti­sche . hilosophie, die andere eine irrationale, entmenschlichende Auf­fassung vom Menschen. Sie befinden sich in einem Widerspruch, in dem sich das Neue, das im Entstehen begriffen ist, auf der einen und tödliche Krankheit auf der anderen Seite gegenüberstehen.


Editorischer Hinweis

Erstveröffentlicht in: Peters, Arno (Hrsg.): Periodikum für den wissenschaftlichen Sozialismus. Eine internationale Monatszeitschrift
, München 1959,  Heft 14.