100 Jahre Erster Weltkrieg
SPD-Fraktion 4. August 1914
Wir stehen vor einer Schicksalsstunde

Rede des SPD-Fraktionsvorsitzenden Hugo Haase

08-2014

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Die Hauptargumente der Befürworter der Kriegskredite in der Sozialdemokratie waren: die Notwendigkeit des Kampfes gegen den Zarismus und die Gefahr, die der Sozialdemokratie im Falle einer Ablehnung der Kriegskredite drohen würde. Die Organisation würde vernich tet und zertrümmert werden. Dieses Argument spielte bei der sozialdemokratischen Parteibürokratie eine große Rolle, der Verlust der Legalität, das war für sie der schrecklichste der Schrecken. In einer Fraktionssitzung stimmten achtundsiebzig Abgeordnete für die Kredite und nur vierzehn dagegen. Haase, der sich intern gegen die Bewilligung ausgesprochen hatte, verlas in der Reichstagssitzung am 4. August 1914 als Fraktionsvorsitzender folgende Begründung für die Bewilligung der Kredite:

Wir stehen vor einer Schicksalsstunde. Die Folgen der imperialistischen Politik, durch die eine Ära des Wettrüstens herbeigeführt wurde und die Gegensätze unter den Völkern sich verschärften, sind wie eine Sturmflut über Europa hereingebrochen. Die Verantwortung hierfür fällt den Trägern dieser Politik zu; wir lehnen sie ab.

Die Sozialdemokratie hat diese verhängnisvolle Entwicklung mit allen Kräften bekämpft, und noch bis in die letzten Stunden hinein hat sie durch machtvol­le Kundgebungen in allen Ländern, namentlich in innigem Einvernehmen mit den französischen Brüdern, für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Ihre Anstrengungen sind vergeblich gewesen.

Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges. Uns drohen die Schreck­nisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes er­forderlichen Mittel. Nun haben wir zu denken an die Millionen Volksgenossen, die ohne ihre Schuld in dieses Verhängnis hineingerissen sind. Sie werden von den Verheerungen des Krieges am schwersten getroffen. Unsere heißen Wün­sche begleiten unsere zu den Fahnen gerufenen Brüder ohne Unterschied der Partei. Wir denken auch an die Mütter, die ihre Söhne hergeben müssen, an die Frauen und die Kinder, die ihres Ernährers beraubt sind und denen zu der Angst um ihre Lieben dieSchrecken des Hungers drohen. Zu diesen werden sich bald Zehntausende verwundeter und verstümmelter Kämpfer gesellen. Ihnen allen beizustehen, ihr Schicksal zu erleichtern, diese unermeßliche Not zu lindern, erachten wir als eine zwingende Pflicht.

Für unser Volk und seine freiheitliche Zukunft steht bei einem Sieg des russi­schen Despotismus, der sich mit dem Blute der Besten des eigenen Volkes be­fleckt hat, viel, wenn nicht alles auf dem Spiel. Es gilt, diese Gefahr abzuweh­ren, die Kultur und die Unabhängigkeit unseres eigenen Landes sicherzustellen. Wir lassen in der Stunde der Gefahr das eigene Vaterland nicht im Stich. Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Vol­kes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir auch in Übereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurtei­len. Wir fordern, daß dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, derdie Freundschaft mit den Nachbarländern ermöglicht. Wir fordern dies nicht nur im Interesse der von uns stets verfochtenen internationalen So­lidarität, sondern auch im Interesse des deutschen Volkes. Wir hoffen, daß die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Kriege wecken und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird.

Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligen wir die geforderten Kriegskredite.

Quelle: Ulrike Haß, Jochen Hiltmann, Walter Kreiße, Alexander von Plato (Hrg), Ein anderes Deutschland, Westberlin 1978, S.244

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