Die Stigmatisierung Erwerbsloser
Ein Ost-West- Vergleich

von Anne Seeck

08-2013

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Ich möchte Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Stigmatisierung von Erwerbslosen in beiden deutschen Staaten darstellen.

Es gab in der DDR nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch eine Pflicht zur Arbeit. Menschen, die nicht arbeiteten, wurden stigmatisiert. Sie wurden von der Staatsmacht als „Asoziale“ kriminalisiert, von der kleinbürgerlichen Normalbevölkerung als „Assis“ diffamiert.

Aber: da es keine Sozialleistungen für Arbeitsfähige gab, wurden sie auch nicht als Kostenfaktoren angesehen.

Aber: da es auch ein Recht auf Arbeit gab, konnten sie jederzeit einen Job bekommen.

Aber: die Subkultur fand Nischen in der Arbeitsgesellschaft. Da die Miet- und Lebenshaltungskosten gering waren, kam man auch mit niedrigen Löhnen und Phasen der Arbeitslosigkeit zurecht. Es gab keinen und kaum Existenzdruck und man hing nicht am staatlichen Tropf. Die Subkultur war vom Staat weitestgehend unabhängig.

Heute werden die Erwerbslosen aufgrund der Eigentumsverhältnisse, die hohe Miet- und Lebenshaltungskosten produzieren, und der Perspektive niedriger Löhne in staatlicher Abhängigkeit gehalten, was ihnen wiederum zum Vorwurf gemacht wird. Der Staat will die Kosten reduzieren und diffamiert Erwerbslose als Kostenfaktoren. Das gelingt ihm, indem die hart, und oftmals prekär Arbeitenden gegen die vermeintlichen Sozialschmarotzer aufgehetzt werden. Die Klasse der Lohnabhängigen soll gespalten werden. Der Zorn der Verlierer und der Mittelschicht, die Angst vor dem Abstieg hat, soll auf jene gerichtet werden, denen es noch schlechter geht. Es soll Hass gegen Minderheiten, die sich nicht wehren können, geschürt werden. Ziel ist die Senkung der Sozialleistungen und eine Arbeitspflicht für Erwerbslose, die dadurch alle in den Niedriglohnsektor gedrängt werden sollen.

Geschichtlicher Rückblick: DDR

Hier beziehe ich mich auf das Buch „Das Begehren, anders zu sein“, dass ich im Oktober 2012 beim Unrast-Verlag herausgegeben habe.

Nach 1945 waren beide deutschen Staaten Arbeitsgesellschaften. Es bestanden im Osten und im Westen Arbeitshäuser. Diese wurden in der DDR in den 50er Jahren in „Heime für soziale Betreuung“ umbenannt. 1961 wurde mit einer Verordnung Arbeitserziehungskommandos eingeführt.

1968 wurde im Strafgesetzbuch der DDR ein „Asozialenparagraph“ eingeführt, auf der Grundlage dieses §249 wurden in den 70er Jahren zwischen 5000 und 14000 Personen pro Jahr verurteilt, Mitte der 70er Jahre waren es 10 000.

§249: „Wer das gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe, Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und Erziehungsaufsicht erkannt werden.“ (S. 202)

Es waren also „Arbeitsbummelei“, „Arbeitsscheu“, „Prostitution“ und das „Verschaffen von Mitteln zum Unterhalt auf andere unlautere Weise“ (d.h. Bettelei, Wahrsagerei, Glücksspiel, Verschleuderung der Familienhabe, Unterstützung durch andere), die strafrechtlich relevant sein konnten.

Ich habe in meinem Text „Alltag und Repression in der DDR“ einige Beispiele zitiert (S.33):

Es sind Berliner Einzelfälle von „kriminell Gefährdeten“ (nach damaliger Terminologie)

„(m26J.) Hartnäckige Arbeitsscheu, brachte Familie in erhebliche wirtschaftliche Probleme;
(m20) Lebte parasitär auf Kosten der Großmutter, ungefestigte Einstellung zur Arbeit, Umgang mit anderen Asozialen
(m40) Labiler Charakter, wurde von der arbeitenden Frau miternährt, Mitbewohner im Haus informierte Polizei
(w21) Laufende Arbeitsbummelei, Negieren jeglicher Einflußnahme, trieb sich wohnungslos umher
(m40) Negative Grundhaltung zur Arbeit, spricht im Übermaß dem Alkohol zu und kann diesen nicht von sich aus meiden“ usw.

Damit gerieten Lebensentwürfe jenseits der geregelten Arbeit in eine rechtliche Grauzone. Kriminalisiert wurden auch Ausreisewillige und kulturelle Dissidenten mit „äußerlich sichtbaren Merkmalen von Dekadenz“. „Dekadent“ waren demnach zum Beispiel Punks.

Das Ministerium für Staatssicherheit zu Punks

„Punks haben nur selten geordnete Arbeitsverhältnisse. Häufiger Wechsel der Arbeitsstelle, oft ohne Arbeit, unter der ehemals erworbenen Qualifikation beschäftigt, schlechte Arbeitsdisziplin, zahlreiche Bummelschichten, Alkoholgenuß während der Arbeitszeit.(...) Der Punk hält nichts vom Arbeiten. In Arbeit kann er keinen Sinn erkennen. Ihm fehlen dazu die Voraussetzungen wie Ausdauer, Fleiß, geordneter Tagesablauf, Fähigkeit zur Planung des Alltags.“ (S.207)

Die Subkultur wehrte sich gegen einen tabellarischen Lebenslauf, eine Standardisierung ihres Lebens, die eine lebenslange Erwerbsarbeit beinhaltete.

Peter antwortet in einem Interview: „Ja, wir hatten ja mit 19 einen Ausreiseantrag gestellt. Wir fanden alles Scheiße. Konnten nicht reisen. Konnten nicht die Stones hören. Sowieso haben wir uns eingesperrt gefühlt....Hier ist sowieso nichts zu holen. Hier sollen wir lernen und uns ein Leben lang in der Industrie abschinden.“ (S.191)

Henryk Gericke antwortet in einem Interview auf die Frage, wogegen sie sich aufgelehnt hätten:

"Gegen das Staatsgefängnis, in dem wir leben mussten. Wir waren ja nicht wie im Westen mit zuwenig Zukunft konfrontiert. Es war einfach zuviel des Guten, das sich zum Schlechten wendete. Es war eine Utopie, die uns fertig machte. (...) Mit 14 dämmerte einem, wie das Leben aussehen wird. Es stand von staatswegen geschrieben, dass man lebenslänglich an derselben Werkbank oder im selben Büro zubringt. Vorher NVA, davor FDJ, davor diesen Pionierdrill durchmacht. Und mit 65 unwahrscheinlicherweise zum ersten Mal zum Beispiel nach Irland fahren kann, denn Westgeld hatten ja die wenigsten. Da entsteht eine ungeheure Angst, gerade durch die viel gerühmten sozialen Errungenschaften. Die waren das Totschlagargument für den eingeforderten Kadavergehorsam." (S. 169)

Und zur Arbeitsplatzbindung erzählt er: „Gefürchtet war die sogenannte Arbeitsplatzbindung. Das bedeutete, dass man als Punk auf irgendein Dorf verfrachtet werden konnte, zur Untermiete wohnte und früh um vier Uhr aufstehen und Schweineställe ausmisten durfte. Undenkbar, aber wahr. Da bekam man natürlich Ärger mit den Dorfbullen und der bäuerisch geprägten Jugend. Viele sind deshalb nach Berlin zurück, haben sich illegal bewegt, wurden aufgegriffen und inhaftiert." (S. 172)

Bert Papenfuß aus der künstlerischen Prenzlauer Berg- Szene antwortet, ob sie nicht mal wegen „Asozialität“ zum ABV mußten:

„Ja doch hin und wieder. Die kamen normalerweise vorbei. Oder man mußte zur Klärung eines Sachverhaltes hin. Mehr oder weniger witzig. In den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren sind ja noch Leute wegen Asozialiät in den Knast gekommen. Diese extreme Bedrohung haben wir so nicht mehr gespürt. Wir haben uns schon manchmal unwohl gefühlt, aber bedroht, Angst vorm Gefängnis deswegen hatten wir nicht.“ (S. 184)

Die Subkultur entwickelte dagegen selbstbestimmte Erwerbsbiographien.

Dirk Moldt schreibt: „in den siebziger und vor allem in den achtziger Jahren entwickelten sich besonders in den Altbaugebieten der Großstadtzentren gerade unter jungen Menschen weit verzweigte Netzwerke, über die Dienstleistungen und Waren ausgetauscht wurden. Gerade in diesen Milieus mit hohem Kreativpotenzial waren Menschen zahlreicher vertreten, die ihren Lebensunterhalt außerhalb staatlich genormter Arbeitsrechtspraxis zu verdienen versuchten. Zur Überlebensstrategie gehörte auch die Kommunikation mit Gleichgesinnten, das Experimentieren und Ausprobieren neuer Wege, sich aus staatlichen Strukturen auszuklinken, die als einengend wahrgenommen wurden.

Produkte, wie selbstgefertigte Kleidung, Schuhe, Lederwaren, Töpferwaren oder Spielzeug, fanden reißend Absatz auf Märkten. Künstler, die in touristischen Zentren Porträts malten, berichteten von sagenhaften Umsätzen. Die Normalbürger waren bereit, für Mangelwaren und -dienstleistungen enorme Geldbeträge zu zahlen. Die »Eigenständigen« konnten für monatlich zehn Mark eine Krankenversicherung abschließen. In den späten achtziger Jahren ließ die Bedrohung derartiger Lebensstrategien durch den Staat nach und erreichte längst nicht mehr alle, die keiner „geregelten« Achtdreiviertelstundenarbeit nachgingen, obwohl bis 1989 immer noch Menschen wegen »Asozialität« eingesperrt wurden.

Die eigentliche Dimension dieser ertrotzten Freiheiten wird deutlich, wenn man die eigenständige Erwerbstätigkeit als Teil eines Komplettausstiegs aus staatlichen Strukturen und aus der Gesellschaft der Mitläufer, Mitmacher und Zuschauer ansieht. Wehrdienstverweigerungen, Wohnungsbesetzungen, Aussteigerjobs, Subkultur, viel Freizeit, Bildung und Reisen – freilich nur innerhalb der Möglichkeiten, die der SED-Staat gebot – sowie großes kulturelles und politisches Engagement waren Elemente eines Kosmos real gelebter Freiheiten in einer prosperierenden Parallelgesellschaft in der DDR.“ S. 222/ 223

Sven Korzilius schreibt, dass für viele wegen „Asozialität“ in der DDR Kriminalisierten „die sich in der DDR unfreiwillig, als Opfer von Stigmatisierung und Kriminalisierung, als „die Anderen“ sahen, 1989/90 kein Bruch, sondern eher einen kontinuierlichen Übergang. Für nicht wenige wurde der Kampf um strafrechtliche Rehabilitierung zum unangenehmen Spießrutenlauf, viele sehen sich bis heute, Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, behördlicher Repression und gesellschaftlicher Ausgrenzung gegenüber, was kaum verwundert, angesichts des Fortlebens tradierter diskriminierender Semantiken etwa in der sozialrechtlichen Praxis oder in gesellschaftlichen Diskursen.“ (S. 216)

Jetzt komme ich zum Westen.

1. Periode: . 1955-1975 existierte eine Vollbeschäftigungsgesellschaft. Massenarbeitslosigkeit war ein Problem vergangener Zeiten, nur in der Krise 1966/67 ist sie ein kurzzeitiger Fremdkörper.

Es gibt über die Zeit wenig Informationen bezüglich Erwerbslosen. Der Spiegel schreibt, dass es 1967 in der BRD 13 Arbeitshäuser gab, mit 900 Arbeitshäuslern.

Zwei Beispiele nach Terminologie des Arbeitshauses im Westen:

Victor Eimers, 68, seit 36 Jahren Bettler und Landstreicher, zum fünften Mal im Arbeitshaus, es hält ihn im Altersheim nicht, geht immer wieder auf die Walze, verbraucht, zu einer Arbeit kaum tauglich

Frieda Walter, 62, insgesamt 30mal wegen Bettelei vorbestraft- „primitiv, läppisch, äußerst schmutzig, treibt sich bettelnd und verkommen in Köln herum“

2. Phase: 1975-1990: zunehmende Massenarbeitslosigkeit

Dirk Hauer schreibt, dass der Sozialstaat in den 70er und 80er Jahren von einer nicht geringen Anzahl von ArbeiterInnen dazu benutzt wurde, sich zumindestens phasenweise der Hetze, dem Druck und der Reglementierung des Arbeitsalltages zu entziehen.

Hans Uske hat im Buch „Das Fest der Faulenzer“ von 1995 die Tendenzen des Massenarbeitslosigkeitsdiskurses in der BRD beschrieben. Mitte der 1970er Jahre endet mit der Krise die Vollbeschäftigung. Von 1975 bis ca. 1985 wird die Arbeitslosigkeit zu einem innenpolitischen Thema. Sie wird als gesellschaftliches Kernproblem wahrgenommen. Die meisten Arbeitslosen seien echte Arbeitslose mit schwerem Schicksal. Aber es werden auch Drückeberger vermutet, sie wollen nicht arbeiten. So Norbert Blüm 1983: „Aber ist es nicht eine moderne Form von Ausbeutung, sich unter den Palmen Balis in der Hängematte zu sonnen, alternativ vor sich hin zu leben im Wissen, daß eine Sozialhilfe, von Arbeitergroschen finanziert, im Notfall für Lebensunterhalt zur Verfügung steht?“ Ab Mitte der 1980er Jahre gewöhnt man sich an die Arbeitslosigkeit, sie wird zum Randproblem. Man entdeckt immer mehr „unechte“ Arbeitslose. Unechte Arbeitslose sind jetzt auch Arbeitslose, die nicht können, wie unbrauchbare, alte, falsch oder nicht qualifizierte, behinderte Arbeitskräfte. Und es sind Arbeitslose, die nicht arbeiten dürfen, wie Frauen und Ausländer.

3. Phase 1990-1998: Kohl-Ära nach der Wiedervereinigung

In den neuen Bundesländern nimmt die Arbeitslosigkeit mit der Deindustrialisierung dramatische Züge an. Dort werden massenhaft Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen etabliert. Die disziplinarischen Mittel werden ausgebaut, Leistungskürzungen vorbereitet. Kohl redet 1993 über den „kollektiven Freizeitpark“, zu dem er Deutschland bei 3,4 Millionen Arbeitslosen verkommen sah.

Das FALZ schreibt: Zwischen 1980 und 1984 wurden in Frankfurt am Main tausende Sozialhilfe beziehende Menschen zum Schneeschippen und zu Reinigungsarbeiten eingesetzt. Eine größere Protestwelle stoppte diesen ersten Versuch. Anfang der Neunziger Jahre wurde immer mehr die „gemeinnützige Arbeit“ etabliert. Auch damals gab es bereits „Mißbrauchsdebatten“ in den Medien. Der Focus beklagte „das süße Leben der Sozialschmarotzer“ (43/1995) und der Stern titelte „Ärgernis Sozialhilfe- wann sie notwendig ist, wie sie mißbraucht wird.“ (36/1997) Die Zeit machte einen Themenschwerpunkt: „Arbeitsdienst? Warum nicht!“

Christa Sonnenfeld schreibt damals: Der autoritäre Staat gewinnt an Konturen. Die Erwerbslosen sollen aus dem Leistungsbezug gedrängt werden. Sie sollen auf Niedriglöhne zugerichtet werden.

4. Phase 1998-2004: Vorbereitung von Hartz IV: Die Schröder-Ära

Als ich 1997 mit der Erwerbsloseninitiative „Hängematten“ in die Erwerbslosenszene eintauchte, gab es bereits einen Drückebergerdiskurs. Aber es gab auch Gegenbewegungen, die Glücklichen Arbeitslosen, das Manifest gegen die Arbeit der Gruppe Krisis, den Kongreß „Anders arbeiten oder gar nicht“ etc. Die Herrschenden planten die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und es gab seit 2002-2004 in Berlin dagegen die Hartz IV- Proteste. Mit einer Großdemo (100 000 TeilnehmerInnen) und den Montagsdemos gab es auch hier starke Gegenbewegungen. Mit Einführung von Hartz IV und dem massiven Ausbau des Niedriglohnsektors (der höchsten Beschäftigungsquote seit 20 Jahren) sind diese Gegenbewegungen weitestgehend verschwunden. Viele Erwerbslose werden in Bewegung gehalten.

5. Phase: 2005- 2008 Nach Einführung von Hartz IV

Faulenzerdebatten gibt es schon lange. Ob Norbert Blüm die Sozialschmarotzer in der Hängematte von Bali wähnte oder Gerhard Schröder vor Einführung von Hartz IV sagte: "Es gibt kein Recht auf Faulheit". Während aber noch 2004 während der Montagsdemos Solidarität mit den Erwerbslosen bekundet wurde, kippte die Stimmung Mitte 2005 nach Einführung von Hartz IV und vor allem dem Clement-Report "Vorrang für die Anständigen", in dem die vermeintlichen Sozialbetrüger und ihre Anstifter diffamiert wurden. In den Jahren 2006 und 2007 wurde dann die Unterschichtendebatte geführt.  

Eine neue Qualität gewinnt die Stigmatisierung Erwerbsloser mit der Unterschichtendebatte, die 2004 mit dem Buch Generation Reform von Paul Nolte beginnt. Nach Einführung von Hartz IV wird die „neue Unterschicht“ ausgerufen.

Höhepunkt dieser Debatte war der Vergleich von Hartz IV-Beziehern mit „Parasiten“ im Clement-Report „Vorrang für die Anständigen“.

Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung prägte den Begriff „abgehängtes Prekariat“ und schließlich gab es die Debatte zwischen Kurt Beck und Henrico Frank.

6. Phase: 2009-2012:Es wird mit Sloterdjik, Sarrazin ein elitärer Diskurs geführt. So stellt es jedenfalls die Studie von Heitmeyer fest. Die Abwertung von Langzeitarbeitslosen und Armen durch Eliten wird allerdings schon lange vorhanden sein.

Wie funktioniert die Stigmatisierung?

Hier einige Aussprüche von Politikern und anderen

„Nur wer arbeitet, soll auch essen“, sagte der Arbeitsminister Franz Müntefering 2006.
„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“, so Westerwelle.

Der Professor Gunnar Heinsohn kritisierte die hohen Sozialkosten. Der Staat solle verhindern, dass die Unterschicht wächst. Die Armen sollen sich nicht vermehren. Aus dem Ausland sollten auch keine „Niedrigleister“ kommen, denn der Nachwuchs würde die „Bildungsschwäche“ weiterschleppen. Die Sozialleistungen sollten wie in den USA auf fünf Jahre begrenzt werden, dann würden „Frauen der Unterschicht Geburtenkontrolle“ betreiben.

Der Philosoph Peter Sloterdijk will die Sozialsysteme durch eine Kultur des Schenkens ersetzen. So wird die Entscheidung über Leben und Tod den Launen der Mäzene überlassen.

"In Deutschland gibt es Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht", sagte der hessische Ministerpräsident der "Wirtschaftswoche". ""Wir müssen jedem Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer Beschäftigung nachgeht, auch niederwertiger Arbeit, im Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung", so Koch. Für ihn kann es kein "funktionierendes Arbeitslosenhilfe-System geben, das nicht auch ein Element von Abschreckung enthält. Sonst ist das für die regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen mit den Unterstützungssätzen vergleichen, unerträglich."

So meinte Sarrazin (SPD), dass sich „Arbeitslose schon für 3,76 Euro völlig gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“ können. Damit ließ sich sogar noch sparen, denn im Regelsatz seien 4,25 Euro pro Tag vorgesehen. Außerdem hätten es Hartz IV-Bezieher gerne warm, die Temperatur würden sie mit dem Fenster regulieren. Bei Hartz IV sei Luxus eben nicht angesagt. „Kalt duschen ist doch eh viel gesünder. Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben.“

Mißfelder (CDU) meinte, dass die Erhöhung von Hartz IV ein „Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie“ sei. Für den ehemaligen Grünen Oswald Metzger waren Sozialhilfebezieher Menschen, deren Lebenssinn daran bestehe, Kohlenhydrate und Alkohol in sich hineinstopfen.

Für Buschkowsky wandert das Geld für Hartz IV-Bezieher in Zigaretten, ins Pay-TV, an die Tanke oder in Suchtmittel wie Alkohol, bei den Kindern würde nichts ankommen. Daher müssten Sachleistungen im Vordergrund stehen.

Unterschichtsfernsehen

Jörn Hagenloch stellte in einer Veranstaltung 2010 Ergebnisse seiner Dissertation vor. Die mediale Unterfütterung von „Schmarotzerdebatten“ – Unterschicht als Unterhaltungsprogramm. Wie das Fernsehen eine neue soziale Klasse konstruiert und inszeniert.

Er hatte vor allem Nachmittagstalkshows im Fernsehen analysiert, die in den 1990er Jahren aufkamen. Inzwischen gibt es den Begriff „Unterschichtenfernsehen“ dafür. In diesen Shows gab es einen neuen Typ von Gästen: „Prolls„, „Assis„ etc., Reality Shows waren extrem billig zu produzieren und sie brachten Zuschauer, es war unglaublich erfolgreich. Die Realität wurde stark emotionalisiert und dramatisiert, der Rohstoff für die Fernsehunterhaltung wurde das Private, Intime, Reale. Damit brachen Dämme in der Gesellschaft. Die „Unterschicht“ wurde in den Sendungen vorgeführt, inszeniert, in einer bestimmten Art und Weise gezeigt.

In den Sendungen wird ein bestimmtes Bild von den Unterschichtlern erzeugt. Es werden größte, persönliche Katastrophen, die soziale Abweichung gezeigt. Die Unterschichtler seien laut, obzön, hemmungslos, aggressiv, asozial, Hängematte, dick, dünn, kriminell, verwahrlost, erziehungsunfähig. Die Darstellung, was Unterschicht sein soll, wird inszeniert. Die Leute werden in die Erwartung gepresst. Dabei wird nur die Stereotypisierung gezeigt, nicht die Abweichung. Der

Stereotyp sind: frühe Schwangerschaften, ungeklärte Bindungen, unproduktiv, Leben vor dem Fernseher, können nicht kochen, haben keine Bildung, arbeitsscheu, kleinkriminell. Früher wurde die Unterschicht im Studio gezeigt, heute zu Hause. Der Referent zeigte uns als Beispiele „Vera am Mittag“ im Studio, und „Super Nanny“ zu Hause.

Das Bild von Leuten, die ganz unten sind, wandelt sich. Aus den Opfern werden Täter. Sie werden zu einem kollektiven Negativbild, sind unproduktiv, destruktiv, negativ. Diese Klischees werden inszeniert, in den Inszenierungen wird nicht nach dem Warum gefragt.

Die Bildzeitung

Die BILD hetzt seit vielen Jahren mit folgenden Titeln:

Wenn sich Putzen nicht mehr lohnt
Arbeitslos und stolz darauf?

Rekord-Quote bei Hartz IV-Missbrauch

So einfach ist es den Staat zu bescheißen
Hartz IV-Abzocke
Hartz IV-Betrüger
Sozialabzocker „Florida Rolf“, „Karibik-Klaus“
Wer arbeitet, ist der Dumme!
Wer arbeitet, ist ein Idiot
Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer !...und wir müssen zahlen
Villa mit Hartz IV

„Faul, frech, dreist“

Die AutorInnen des gleichnamigen Buches haben die Diskriminierung von Erwerbslosigkeit durch Bild-LeserInnen ausgewertet, am Fall des „frechsten“ Arbeitslosen Arno Dübel.

Ihr Fazit: Biologistische Annahmen über Arme werden naturalisiert (Intelligenz sei erblich). Soziale Vorurteile werden kulturalisiert (Erwerbslose seien faul) und institutionalisiert (z.B. Gesetze). Es gibt sprachliche Zuschreibungen (alle Armen seien „sozial schwach“). Es wird ein oben und unten konstruiert (Die Unten schauen Unterschichtsfernsehen).

„Klassismus“

Im gleichnamigen Buch werden diese Methoden für die Hetze gegen Arme etwas ausführlicher beschrieben.

Naturalisierung/Biologisierung: Es ist ein zunehmender Sozialdarwinismus, Bestandteil faschistischer Ideologie, zu spüren. Die Klassengesellschaft wird wieder unverhohlen als natürliche Ordnung propagiert. Gesellschaftliche Probleme werden ins Reich der Natur verbannt. Es heißt, Fähigkeiten von Menschen seien naturgegeben, womit die Klassenordnung legitimiert wird. Ein typisches Beispiel für eine Biologisierung präsentiert Sarrazin. Er behauptet, dass Intelligenz bis zu achtzig Prozent vererbt wird und Muslime aus der Türkei und dem Nahen/Mittleren Osten sowie Menschen aus der „Unterschicht“ aus genetischen und kulturellen Gründen eine niedrigere Intelligenz aufweisen.

Kulturalisierung: Gesellschaftliche Probleme werden in die „Kulturen“ verlagert, die quasi naturgegeben oder nur sehr langsam wandelbar seien. Ein typischer Vertreter für diese Behauptung ist der Historiker und Publizist Paul Nolte. Die bürgerliche Leitkultur sei der Maßstab, die „neue Unterschicht“ in eine ungesunde Kultur abgerutscht. Unterschichten wird Unkultiviertheit unterstellt.

Oben und Unten: Wer in dem Zusammenhang von „oben“ und „unten“ spricht, skizziert ein Schichtenmodell – die Reichen sind oben, die Armen unten. Heute wird auch mit dem Begriff des Milieus gearbeitet. Die „Unterschicht“ wird als Unterwelt dargestellt, die „Unterschichtler“ als „Untermenschen“, die „unterprivilegiert“ vor dem Unterschichtenfernsehen sitzen.

Sprachliche Zuschreibungen: Die Klassenverhältnisse spiegeln sich in der Sprache wider. Wer „oben“ ist, wird aufgewertet. Wer „unten“ ist abgewertet. Die Stereotypen werden immer wieder bekräftigt und neu hergestellt. Die Bilder prägen sich ein. Begriffe wie „Sozial Schwache“ oder „Bedürftige“ werden durch die Herrschenden geschaffen und sollen den Opferstatus armer Menschen verfestigen, sie in Unmündigkeit halten.

Institutionalisierung: Es gibt ein komplexes Geflecht von Handlungen in Institutionen, die Menschen systematisch bedrohen und herabsetzen. „Klassismus wird in den Institutionen und durch Institutionalisierungen über Gesetze, Ordnungen, Verträge etc. hervorgebracht. (...) Klassismus spiegelt sich in Gesetzen, in Architekturen, Hausordnungen, Vorschriften, Zulassungen, Gehaltsgruppen, No-Go-Areas, in der Stadt- und Verkehrspolitik, im Umweltschutz, in der Familien- und Bildungspolitik, in der Gesundheitspolitik, im Militär, der Nachrichten- und Unterhaltungsindustrie wider.“, so heißt es in dem Buch „Klassismus“.

Heitmeyer- Studie 2007-2008

In dieser Stimmungslage, seit 2007 bezog die Forschungsgruppe um Heitmeyer auch Langzeitarbeitslose in die Studie ein. “Sie werden unter dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit sozial abgewertet...So stießen wir unter anderem auf folgende Ergebnisse: Fast 50 Prozent der Befragten stimmten der Aussage zu, daß die meisten Langzeitarbeitslosen nicht wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden. Empörend finden es insgesamt fast 61 Prozent, wenn sich Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein bequemes Leben machen.” (Heitmeyer 2008, S.20ff. )

Langzeitarbeitslose sind von massiven Abwertungen betroffen. Das ökonomistische Denken nimmt immer mehr zu, alles wird dem Nutzenkalkül untergeordnet. Personen werden nach ihrer Nützlichkeit und Funktionsfähigkeit bewertet.

“Die Befragungsdaten zeigen, daß über ein Drittel der Deutschen den Aussagen tendenziell zustimmen, die Gesellschaft könne sich wenig nützliche Menschen (33,3 Prozent) und menschliche Fehler nicht (mehr) leisten (34,8 Prozent). Etwa 40 Prozent der Befragten sind der Ansicht, in unserer Gesellschaft würde zuviel

Rücksicht auf Versager genommen, zuviel Nachsicht mit solchen Personen gilt 43,9 Prozent als unangebracht...“(Heitmeyer 2008, S. 39f.)

Hartz IV-Bezieher sind in diesem Klima immer häufiger Verhöhnungen ausgesetzt. “...neben die soziale Erniedrigung tritt das Urteil der moralischen Ùnterlegenheit`”. (Heitmeyer 2008; S. 40f.) Auch sozial abgehängte Gruppen können sich des Mechanismus der Ungleichwertigkeit bedienen. Die Umwandlung der eigenen Ungleichheit in die Abwertung anderer ist ein Instrument der Ohnmächtigen. Die eigene Unterlegenheit wird in Überlegenheit verwandelt. “Die Transformation von Ungleichwertigkeit in extreme Formen ùnwerten`Lebens, und damit der Schritt zur Gewalt, ist dann nicht mehr groß.” (Heitmeyer 2008, S.41)

Heitmeyer stellt 2008 fest, dass bei sinkender Soziallage, die Ressentiments gegen Langzeitarbeitslose kontinuierlich zunehmen. Das Bedürfnis wachse, sich vom unteren Rand der Sozialhierarchie abzugrenzen.  

Während in Folge 6 und 7 der "Deutschen Zustände" noch die unteren Soziallagen und deren Abwertungen thematisiert wurden, stellen Heitmeyer u.a. in Folge 8 und 9 fest, dass die Abwertung von Langzeitarbeitslosen ein elitärer Diskurs wird.

Dieser Diskurs wird durch eine öffentliche Debatte eingeleitet. 

2009-2011: Sarrazin, Sloterdijk, Heinsohn, Westerwelle 

Im September 2009 erscheint von Sloterdijk “Die Revolution der gebenden Hand”. Sloterdijk spricht von “Semi-Sozialismus” und “Staats-Kleptokratie”.

Im September 2009 trat dann wieder Sarrazin auf den Plan. 2008 war er durch seinen Speiseplan für Hartz IV- Bezieher bereits aufgefallen. Sarrazin schreibt in Lettre International Heft 86, S197-201: “Klasse statt Masse”

“Die Stadt (Anm. Berlin) hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich auswachsen...“

Dann kommt der Höhepunkt: Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab” 

In der öffentlichen Debatte wird vor allem sein Rassismus und Biologismus kritisiert, nichts aber davon, was er eigentlich fordert. Es geht vor allem um die migrantische und deutsche Armutsbevölkerung.  

Über die "Unterschicht" schreibt er:

“Während die Tüchtigen aufsteigen und die Unterschicht oder untere Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft vor allem jene abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind.” (Sarrazin, S. 79f.)

“Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem. (Sarrazin, S.123)

“Bekämpft werden muss dagegen die ‘Armut im Geiste’, das heißt jene Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie, der große Teile der Unterschicht in Deutschland prägt.” (Sarrazin, S.132)  

Ziele sind:

1. Klasse der Lohnabhängigen wird gespalten. Diese Klassenspaltung wird zur Diskriminierungsquelle. jetzt gibt es eine Ablehnung nahezu aller TransferbezieherInnen (selbständige Aufstocker, Kranke)

2. Es wird eine sozialdarwinistische Stimmung geschaffen. Damit soll eine gesellschaftliche Stimmung erreicht werden, die den weiteren Sozialabbau ermöglicht. Ökonomisierung der Gesellschaft. Der Mensch wird als Kostenfaktor reduziert. Es geht um Nützlichkeit, Kosten, Eigenverantwortung, Individualismus, Leistungsgerechtigkeit. Hier wird oftmals in Produktive und Unproduktive gespalten.

3. Senkung der Sozialleistungen und Arbeitspflicht

Sarrazins Forderungen:

1      “Absenkung des Regelsatzes für Erwerbsfähige. Der fraglos größte Anreiz zur Arbeitsaufnahme läge in einer Absenkung der Grundsicherung.” (Sarrazin, S.178)

2      “Das Workfare-Konzept. Nach Empfinden der meisten Menschen sollte jemand, der Leistungen der Allgemeinheit in Anspruch nimmt, das ihm Mögliche tun, eine Gegenleistung zu erbringen....“(Sarrazin, S. 182f.) 

Es werden also politische Konsequenzen gefordert. Es ist eine Frage der Zeit, bis die “Propaganda der Ungleichheit” (Lucke) zur politischen Umsetzung führt. In Zeiten des sogenannten Aufschwungs und dem Absinken der Arbeitslosenquote (auch durch Rausrechnen vieler aus der Statistik) ist es wieder ruhiger geworden.  
 

Das Ziel ist immer das Gleiche: Die Stimmungsmache gegen faule Arbeitslose bereitet Leistungskürzungen bei Erwerbslosen vor. Wenn Arbeitslose Ansprüche an Lohn, Qualifikation und Arbeitsbedingungen haben, dann verteidigen die Lohnabhängigen ihre Interessen. Mit der Verleumdung als Faulenzer soll der berechtigte Widerstand gebrochen werden. Die Hartz IV-Bezieher hätten keinen Arbeitsanreiz, denn Niedriglöhner hätten oft weniger als Hartz IV-Bezieher. Ihnen fällt dann nicht ein, dass die Löhne erhöht werden müssen. Nein der Regelsatz muß runter. Und um das rechtfertigen zu können, werden Hartz IV- Bezieher als Faulenzer und Betrüger dargestellt.

Resümee Heitmeyer:

Gerade die subjektiv am stärksten von der Krise Betroffenen und die politisch besonders unzufriedenen Gruppen zeigen sich politisch am wenigsten beteiligungsbereit. Wenn sich die Machtlosigkeit der unteren sozialen Lagen mit einem Autoritarismus der politischen Rechten verknüpft, kann die Unzufriedenheit gegen schwache Gruppen gerichtet werden. Gerade jene, die am meisten an den Folgen des autoritären Kapitalismus leiden, haben politisch resigniert.  

Übrigens haben wir es auch in anderen Ländern mit einer Abwertung der underclass zu tun, so in Großbritannien.

Als am 6. August 2011 im Londoner Stadtteil Tottenham soziale Unruhen ausbrachen, nachdem die Polizei einen jungen Afro-Briten erschossen hatte, erfuhr die Abscheu gegenüber den „Prolls“ ihren Höhepunkt. Ein Drittel der Briten waren für den Einsatz scharfer Waffen und zwei Drittel meinten, die Armee solle gegen die Aufrührer vorgehen. Owen Jones schreibt, dass Klassenhass zum festen Bestandteil der britischen Kultur gehöre. Eine seiner Kernthesen  lautet: Der neue Klassenhass zielt nach wie vor vor allem auf die organisierten ArbeiterInnen und die Gewerkschaften. In seinem Buch „Prolls“ beschreibt er, wie die Organisationsstrukturen der Arbeiterklasse in Großbritannien zerschlagen und die Lohnabhängigen mit dem Begriff „Chav“ („Prolls“) verächtlich gemacht wurden. „Manche nennen sie Abschaum. Soziologen nennen sie Unterschicht. Wie man sie auch nennt, sie nisten sich überall ein.“, so war in einem vor Verachtung nur so strotzenden Artikel in der Daily Mail zu lesen. „Entmachtet und entehrt wurde die Arbeiterklasse lächerlich gemacht und musste als Sündenbock herhalten“, schreibt Jones. Eine Studie beförderte zutage, dass sich nur noch 24 Prozent der Bevölkerung zur Arbeiterklasse zählen wollen. Eine Besserung der Lage sei nur in Sicht, wenn die Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung gesetzt werde, so Owen Jones.

In Großbritannien herrscht eine derart große Ungerechtigkeit, dass dem einen Prozent ganz oben 23 Prozent und der gesamten unteren Hälfte nur sechs Prozent des Wohlstands gehören.

In Deutschland besitzt die untere Hälfte der Bevölkerung ganze ein Prozent des Vermögens, so der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Diese Eigentumsverhältnisse und die wachsende soziale Ungleicheit sollen legitimiert werden, der Klassenhass wird nach unten gerichtet.

Lassen wir uns überraschen, wie es mit der Abwertung der verbliebenen Sockelarbeitslosen nach den Bundestagswahlen weitergeht. Welche Überraschungspakete haben die Herrschenden wohl wieder geschnürt?

Literatur:

Anne Seeck (Hg.), Das Begehren, anders zu sein, Unrast 2012
Hans Uske, Das Fest der Faulenzer, DISS 1995
Christian Baron, Britta Steinwachs, Faul frech dreist, edition assemblage 2012
Andreas Kemper, Heike Weinbach, Klassismus, Unrast 2009
Owen Jones, Prolls, VAT 2012
Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, 10 Folgen, Suhrkamp

Editorische Hinweise

Den Aufsatz erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.