Im Abwind
Massiver Popularitätsverlust für ,Al-Jazeera’ in den arabischsprachigen Ländern – Gemeinsam mit den qatarischen Geldgebern und den von ihnen ausgehaltenen Muslimbrüdern

von Bernard Schmid

08-2013

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Das Paradox liegt auf der Hand. Nehmen wir ein Land ohne Parteienpluralismus, ohne gewählte Führung und ohne offene gesellschaftliche Debatte – das sich gleichzeitig eine Sendeanstalt hält, die lange Zeit weit über die Landesgrenzen hinaus als nationale Visitenkarte und als eine Art Modellbeispiel für Meinungspluralismus gelten durfte. Das Land könnte Qatar, und die Fernsehanstalt Al-Jazeera heißen. Der Widerspruch dauerte seit der Gründung des Senders im Jahr 1996 an. Nun jedoch bricht er angesichts der Umbrüche in der arabischsprachigen Welt offen auf, und aufgrund seiner eigenen politischen Widersprüche musste der Einfluss des Senders in jüngster Zeit schwere Rückschläge hinnehmen. Auch wenn Al-Jazeera gleichzeitig eine neue Expansionsphase plant, denn Al-Jazeera America wird in den USA im August zu senden beginnen und der Ableger in Großbritannien im November – auch eine französische und eine spanische Variante sind nunmehr geplant -, so steckt die Anstalt doch in einer schweren Krise. „Die ,Stimme der Araber‘ entgleist“, titelte die algerische Tageszeitung El-Watan dazu am 14. Juli 13.

Qatar war noch nie ein Studienfall für demokratische Verhältnisse. Das Land mit knapp zwei Millionen Einwohnern, davon nur zehn Prozent Staatsbürger und 90 Prozent mehr oder minder rechtlose Arbeitsmigranten, weist noch nicht einmal ein gewähltes Parlament auf. Zwar existiert seit der Verfassung von 2003 ein „Konsultativrat“, der den Monarchen berät, doch 15 seiner 45 Mitglieder werden vom Letzteren persönlich ernannt. Im Herbst 2011 wurden für das laufende Jahr erstmals freie Parlamentswahlen für das laufende Jahr versprochen. Daraus wird nun allerdings in 2013 mutmaßlich wieder nichts werden, da es soeben zu einem Machtwechsel kam, der erst einmal zu Umbesetzungen in den Ministerien führen wird. Am 27. Juni d.J., genau am achtzehnten Jahrestag des Putschs von Emir Hamad gegen seinen eigenen Vater im Jahr 1995, dankte dieser zugunsten seines Sohnes Tamim ab. Der Prinz war nicht sein ältester Sohn, aber der 61jährige Monarch hatte ihn unter seinen Sprösslingen al seinen Nachfolger ausgesucht. In den Leitlinien der Politik ist mit absoluter Kontinuität zu rechnen.

Völlig anders als die Monarchie im Stammland des Senders schien Al-Jazeera selbst zu funktionieren. Dort wurde der Anspruch erhoben, stets konträre Standpunkte zu den herrschenden Meinungen - nicht nur, aber besonders auch zu denen im Westen - zu liefern, aber auch einander radikal entgegen gesetzte Standpunkte zu konfrontieren.

Die französisch-tunesische Autorin und Politikwissenschaftlerin Oulfa Lamloun, die 2004 bei einem linken Verlag Frankreich ein Buch über „Al-Jazeera, rebellischer und zweideutiger Spiegel der arabischen Welt“ veröffentlichte, vertritt dort die These, der Sender habe zwei Dinge „banalisiert“, also zum Teil der Normalität werden lassen. Das sei einerseits die Ideologie des politischen Islam, andererseits jedoch die Gewohnheit der kontroversen Debatte, der Diskussion über alles und jenes, „der Konfrontation der Standpunkte“.

Auch dies erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch. Dass alles und jedes der Kritik und Kontroverse ausgesetzt wird, dürfte dem Islamismus im Kern nicht entgegenkommen. Denn wer sich mindestens in letzter Instanz auf „göttlichen Willen“ zur Rechtfertigung des eigenen politischen oder alltäglichen Handels beruft, muss zwingen voraussetzen, dass es Entscheidungen gibt, die einer freien Diskussion entzogen sind, also Setzungen. Gleichzeitig profitierten die Vertreter des zeitgenössischen politischen Islam jedoch jahre-, ja jahrzehntelang von ihrem Status, der im arabischen Raum und darüber hinaus darauf beruhte, als die konsequentesten Rebellen gegen die bestehende Weltordnung aufzutreten. Zu den politischen Hinterlassenschaften des Kolonialismus in der Region zählt eine verzerrte gesellschaftliche Konstellation: Kräfte, die unter anderen Umständen als einfache Reaktionäre wahrgenommen worden wären, oder als Anhänger der Illusion einer Rückkehr zu einer besseren Vergangenheit, profilieren sich in diesem Kontext als Rebellen gegen eine „importierte“, von außen aufgezwungene Ideologiepalette – tatsächlich holten sich die ersten Anhänger des Liberalismus wie auch des Marxismus in der Region ihre Anregungen aus europäischen Ländern, die gleichzeitig als Kolonialmächte präsent waren. Daraus resultiert ein im Kern widersprüchlicher, aber scheinbar kohärenter Status als Rebellen, die gleichzeitig ein reaktionäres Projekt verfolgen.

So lange dies gleichzeitig noch damit einher ging, dass die Islamisten verschiedener Couleur eine gewisse „politische Unschuld“ aufwiesen - weil sie sich darauf berufen konnten, dass ihre Rezepte „noch nie ausprobiert“ wurden, weil sie immer in der Opposition blieben oder gar vielfach verfolgt wurden – schadete der Meinungspluralismus ihnen also zunächst nichts. Ihre Ideologie erschien als ein mögliches Angebot in einer Palette von Alternativen. Erstmals kam es jedoch zu offenen Widersprüchen gegen den Einfluss von Islamisten, als im Mai 2010 fünf prominente weibliche Journalistinnen des Senders von ihren Posten zurücktraten und gegen Bevormundungen etwa bei der Bekleidungsordnung protestierten.

Unschuld verloren

Die Umbrüche seit dem Winter 2010/11 in mehreren arabischsprachigen Ländern haben dieser Situation ein Ende gesetzt. Vielerorts kamen islamistische Parteien in so genannte Regierungsverantwortung und mussten sich dadurch in gewisser Weise einem Realitätstest stellen – in Tunesien und Ägypten, aber auch in Marokko und kurzzeitig in Kuwait. Dadurch riefen sie aber regelmäßig auch schnell erste Enttäuschungen und Desillusionierungen, aber auch Opposition gegen konkrete Vorhaben auf den Plan. Auch wenn die dominierenden islamistischen Parteien in Marokko und Tunesien ihre Verantwortung durch die Bildung heterogener, ideologische Spektren übergreifender Regierungskoalitionen auf mehrere Schultern zu verteilen und zu relativieren versuchten – sie waren bis zu einem gewissen Grad „entzaubert“.

Vor diesem Hintergrund erschien Al-Jazeera aber in vielen Augen, und weitaus stärker als früher, als Propaganda- und nunmehr oft auch als Regierungssender. Beispielsweise in Tunesien. Dort kam es zuletzt Anfang Juli dieses Jahres zu einem Skandal, als Al-Jazeera einen „unabhängigen Analysten“ auf dem Bildschirm präsentierte, um die Absetzung der islamistischen Regierung in Ägypten zu kommentieren. Es handelte sich um Mourad Ya’acoubi – der Sender „vergaß“ nur zu erwähnen, dass er ein Mitarbeiter des Präsidentenamts unter Moncef Marzouki ist, welcher zwar selbst kein Islamist, aber heute einer ihrer engsten Bündnispartner ist und viele von ihnen in seiner eigenen Umgebung aufweist. Noch weitaus doller hatte der Sender es zu Anfang des Jahres getrieben. Am 8. Februar war der, zwei Tage zuvor von mutmaßlich islamistischen Täter ermordete, linksnationalistische Oppositionspolitiker beerdigt worden. An dem Tag waren mindestens Hunderttausende, womöglich Millionen von Menschen deswegen auf der Straße. Bei Al-Jazeera aber waren Bilder zu sehen und Slogans zu hören, die von einer weitaus kleineren, gegenläufigen Demonstration von En-Nahdha stammten.

Auch die Sichtweise der islamistischen Regierungspartei selbst, derzeit die stärkste Kraft in der amtierende Dreierkoalition, auf den Sender ist symptomatisch. Am 18. April 13 verbreitete sie ein Pressekommuniqué, in welchem sie sich gegen eine „Schmutzkampagne gegen Qatar“ im eigenen Land verwahrte. Der Einfluss des Golfstaats in Tunesien war zuvor aus vielen Gründen, unter anderem aufgrund seiner manifesten Unterstützung für En-Nahdha, in breite Kritik geraten. Die Partei antwortete darauf in ihrer Presseerklärung mit dem Argument, Al-Jazeera habe doch eine positive Rolle „bei der Verwirklichung der tunesischen Revolution“ gespielt. Zur selben Zeit sahen viele Bürger des Landes ebendiese Revolution steckengeblieben, und von den Regierenden an einigen Punkten in ihr Gegenteil verkehrt.

Tunesien ist vielleicht das Land, wo der Rückgang der Einschaltquoten für Al-Jazeera am spektakulärsten ausfällt. Laut Angaben der marokkanischen Webseite Lakome.com, die Anfang März 2013 das Phänomen in mehreren arabischsprachigen Ländern untersuchte, ging die Zuschauerzahl für den Sender in Tunesien von 950.000 im Januar 2012 auf nur noch 200.000 im Dezember desselben Jahres zurück. Neben dem wachsenden Vertrauensverlust, den die Fernsehanstalt aufgrund ihrer notorischen Nähe zu der stärksten Regierungspartei verzeichnen musste, kam noch das Aufkommen einer inländischen Konkurrenz hinzu. Satellitensender wie Al-Watanya („Die Nationale“) oder Hannibal – ein Name, der auf die Geschichte Karthagos auf dem heutigen Boden Tunesiens anspielt – gewinnen an Einfluss. Unter anderem auch, weil bei ihnen heute ein relativ freier Diskussionsstil in Interviews, Gesprächsrunden und Talkshows herrscht, wie er noch vor gut zwei Jahren in einheimischen Medien undenkbar gewesen wäre. Wohl auch zusätzlich, weil die Berichterstattung einen stärker lokalen Fokus aufweist, als Al-Jazeera ihn aus geographischen Gründen aufweisen kann.

Auch andere arabischsprachige Länder sind von dem Rückgang der Popularität Al-Jazeeras betroffen. Der zitierten Webseite zufolge ging die Einschaltquote in Marokko von einem Spitzenwert bei 2,5 Millionen auf – im Frühjahr – 1,8 Millionen zurück. Dort erscheint die mediale Konkurrenz, die im Falle Marokkos vor allem aus französischen Fernsehanstalten besteht, nicht so attraktiv; und die einheimischen Medien liegen noch stärker an der Kandare der politischen Machthaber. Deutlicher fällt das Phänomen in Libyen und Ägypten aus. Im libyschen Falle hängt es mit dem Aufkommen des Senders Al-Hurra („Die Freie“) zusammen, der Anfang des Jahres mit rund 800.000 Zuschauern erstmals auf ungefähr gleicher Höhe mit Al-Jazeera lag.

In Ägypten ist ein Rückgang der Einschaltquote nicht die einzige Ungemach, mit welcher der Sender leben muss. Schon bei Demonstrationen gegen die von den Muslimbrüdern geprägte Regierung im November vergangenen Jahres wurden Büroräume von Al-Jazeera in Kairo von aufgebrachten Demonstranten attackiert, weil dem Sender Propagandaberichterstattung für die Regierung vorgeworden wurde. Seit den Massenprotestmärschen vom 30. Juni dieses Jahres und dem kurz darauffolgenden Sturz von Mohammed Morsi haben sich ähnliche Szenen jüngst wiederholt. Die Straßen- und Bewegungsopposition gegen Morsi legte einen zunehmend offenen Hass gegen Al-Jazeera an den Tag. Mehrfach mussten Kamerateams in dieser Phase Demonstrationen überstürzt verlassen, bei denen ihnen „Irhal! Irhal!“ („Haut ab, haut ab“) entgegenschallte. Gleichzeitig geriet der Sender nicht nur von protestierenden Demokratieanhängern, sondern auch von den weniger demokratischen Militärs her unter Druck, die am 3. Juli ihre Redaktionsräume in Kairo durchsuchten und Mitarbeiter einschüchterten. Am 08. Juli 13 traten dann 22 Journalisten von Al-Jazeera in Ägypten kollektiv zurück und kündigten ihre Arbeitsstellen. Sie warfen dem Sender vor, „Bürgerkriegsberichterstattung“ zugunsten der nun wieder oppositionellen Muslimbrüder zu betreiben. Auch jetzt ist Al-Jazeera nach wie vor der einzige Sender, der ständige Liveberichterstattung vom permanent gewordenen Sit-in der Anhänger Morsis in Rabiya, in Kairo, betreibt.

Voltaire-Schule ohne Aufklärungsphilosophie

Ein weiterer kulturell—ideologischer Sympathieträger, den Qatar als Visitenkarte benutzt, ist das Lycée Voltaire in seiner Hauptstadt Doha. Die von Frankreich unterhaltene Oberschule, wo in Französisch, Englisch und Arabisch unterrichtet wird, ist ein Prestigeobjekt: Enkelkinder des Monarchen persönlich sind dort ebenso eingeschult wie solche des früheren tunesischen Autokraten Zine el-Abidine Ben ’Ali. Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy weihte den ersten Gebäudeteil im Januar 2008 stolz ein. Damals wurde die Eliteschule, bei der ein Schuljahr 8.000 Dollar Gebühren kostet, als eine Art Leuchturm der Aufklärung in der Region präsentiert.

Die Realität sieht völlig anders aus. Der Präsident des „Aufsichtsrats“ der Schule, Ali Ben Fettais Al-Marri, ist niemand anders als der Generalstaatsanwalt des Landes. Mehrfach wurden von offizieller qatarischer Seite Lehrprogramm beanstandet: Mal stellten sie das Christentum zu positiv dar, während Schüler in Qatar normalerweise nicht vor dem 18. Lebensjahr von der Existenz anderer Religionen neben dem Islam erfahren sollen, mal schienen sie zu ungläubig. Mal wurden Fotos von kopulierenden Pferden beanstandet. Einem Leiter der Schule wurden im letzten Jahr 48 Stunden gegeben, um Qatar zu verlassen, und andernfalls zehn Jahre Gefängnis angedroht. Um die Weihnachtszeit verließ dann die Mission laïque, die normalerweise die französische Schulbildung im Ausland organisiert, das Land, und die Qataris nahmen das Schicksal des Lycée allein in die Hand. „Aus diplomatischen Gründen“, wie es mit Blick auf den finanzkräftigen Golfstaaten behält, wurde es dennoch formal als binationales Projekt beibehalten. Und François Hollande begann seinen jüngsten Besuch in dem Emirat am 22. Juni 13 damit, den Erweiterungsbau einzuweihen.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.