Das
Paradox liegt auf der Hand. Nehmen wir ein Land ohne
Parteienpluralismus, ohne gewählte Führung und ohne
offene gesellschaftliche Debatte – das sich gleichzeitig
eine Sendeanstalt hält, die lange Zeit weit über die
Landesgrenzen hinaus als nationale Visitenkarte und als
eine Art Modellbeispiel für Meinungspluralismus gelten
durfte. Das Land könnte Qatar, und die Fernsehanstalt
Al-Jazeera heißen. Der Widerspruch dauerte seit der
Gründung des Senders im Jahr 1996 an. Nun jedoch bricht
er angesichts der Umbrüche in der arabischsprachigen
Welt offen auf, und aufgrund seiner eigenen politischen
Widersprüche musste der Einfluss des Senders in jüngster
Zeit schwere Rückschläge hinnehmen. Auch wenn
Al-Jazeera gleichzeitig eine neue Expansionsphase
plant, denn Al-Jazeera America wird in den USA im
August zu senden beginnen und der Ableger in
Großbritannien im November – auch eine französische und
eine spanische Variante sind nunmehr geplant -, so
steckt die Anstalt doch in einer schweren Krise.
„Die ,Stimme der Araber‘ entgleist“, titelte die
algerische Tageszeitung El-Watan dazu am
14. Juli 13.
Qatar war noch nie ein
Studienfall für demokratische Verhältnisse. Das Land mit
knapp zwei Millionen Einwohnern, davon nur zehn Prozent
Staatsbürger und 90 Prozent mehr oder minder rechtlose
Arbeitsmigranten, weist noch nicht einmal ein gewähltes
Parlament auf. Zwar existiert seit der Verfassung von
2003 ein „Konsultativrat“, der den Monarchen berät, doch
15 seiner 45 Mitglieder werden vom Letzteren persönlich
ernannt. Im Herbst 2011 wurden für das laufende Jahr
erstmals freie Parlamentswahlen für das laufende Jahr
versprochen. Daraus wird nun allerdings in 2013
mutmaßlich wieder nichts werden, da es soeben zu einem
Machtwechsel kam, der erst einmal zu Umbesetzungen in
den Ministerien führen wird. Am 27. Juni d.J., genau am
achtzehnten Jahrestag des Putschs von Emir Hamad gegen
seinen eigenen Vater im Jahr 1995, dankte dieser
zugunsten seines Sohnes Tamim ab. Der Prinz war nicht
sein ältester Sohn, aber der 61jährige Monarch hatte ihn
unter seinen Sprösslingen al seinen Nachfolger
ausgesucht. In den Leitlinien der Politik ist mit
absoluter Kontinuität zu rechnen.
Völlig
anders als die Monarchie im Stammland des Senders schien
Al-Jazeera selbst zu funktionieren. Dort wurde
der Anspruch erhoben, stets konträre Standpunkte zu den
herrschenden Meinungen - nicht nur, aber besonders auch
zu denen im Westen - zu liefern, aber auch einander
radikal entgegen gesetzte Standpunkte zu konfrontieren.
Die
französisch-tunesische Autorin und
Politikwissenschaftlerin Oulfa Lamloun, die 2004 bei
einem linken Verlag Frankreich ein Buch über „Al-Jazeera,
rebellischer und zweideutiger Spiegel der arabischen
Welt“ veröffentlichte, vertritt dort die These, der
Sender habe zwei Dinge „banalisiert“, also zum
Teil der Normalität werden lassen. Das sei einerseits
die Ideologie des politischen Islam, andererseits jedoch
die Gewohnheit der kontroversen Debatte, der Diskussion
über alles und jenes, „der Konfrontation der
Standpunkte“.
Auch dies
erscheint auf den ersten Blick als Widerspruch. Dass
alles und jedes der Kritik und Kontroverse ausgesetzt
wird, dürfte dem Islamismus im Kern nicht
entgegenkommen. Denn wer sich mindestens in letzter
Instanz auf „göttlichen Willen“ zur Rechtfertigung des
eigenen politischen oder alltäglichen Handels beruft,
muss zwingen voraussetzen, dass es Entscheidungen gibt,
die einer freien Diskussion entzogen sind, also
Setzungen. Gleichzeitig profitierten die Vertreter des
zeitgenössischen politischen Islam jedoch jahre-, ja
jahrzehntelang von ihrem Status, der im arabischen Raum
und darüber hinaus darauf beruhte, als die
konsequentesten Rebellen gegen die bestehende
Weltordnung aufzutreten. Zu den politischen
Hinterlassenschaften des Kolonialismus in der Region
zählt eine verzerrte gesellschaftliche Konstellation:
Kräfte, die unter anderen Umständen als einfache
Reaktionäre wahrgenommen worden wären, oder als Anhänger
der Illusion einer Rückkehr zu einer besseren
Vergangenheit, profilieren sich in diesem Kontext als
Rebellen gegen eine „importierte“, von außen
aufgezwungene Ideologiepalette – tatsächlich holten sich
die ersten Anhänger des Liberalismus wie auch des
Marxismus in der Region ihre Anregungen aus europäischen
Ländern, die gleichzeitig als Kolonialmächte präsent
waren. Daraus resultiert ein im Kern widersprüchlicher,
aber scheinbar kohärenter Status als Rebellen, die
gleichzeitig ein reaktionäres Projekt verfolgen.
So lange dies gleichzeitig
noch damit einher ging, dass die Islamisten
verschiedener Couleur eine gewisse „politische Unschuld“
aufwiesen - weil sie sich darauf berufen konnten, dass
ihre Rezepte „noch nie ausprobiert“ wurden, weil sie
immer in der Opposition blieben oder gar vielfach
verfolgt wurden – schadete der Meinungspluralismus ihnen
also zunächst nichts. Ihre Ideologie erschien als ein
mögliches Angebot in einer Palette von Alternativen.
Erstmals kam es jedoch zu offenen Widersprüchen gegen
den Einfluss von Islamisten, als im Mai 2010 fünf
prominente weibliche Journalistinnen des Senders von
ihren Posten zurücktraten und gegen Bevormundungen etwa
bei der Bekleidungsordnung protestierten.
Unschuld verloren
Die Umbrüche seit dem Winter
2010/11 in mehreren arabischsprachigen Ländern haben
dieser Situation ein Ende gesetzt. Vielerorts kamen
islamistische Parteien in so genannte
Regierungsverantwortung und mussten sich dadurch in
gewisser Weise einem Realitätstest stellen – in Tunesien
und Ägypten, aber auch in Marokko und kurzzeitig in
Kuwait. Dadurch riefen sie aber regelmäßig auch schnell
erste Enttäuschungen und Desillusionierungen, aber auch
Opposition gegen konkrete Vorhaben auf den Plan. Auch
wenn die dominierenden islamistischen Parteien in
Marokko und Tunesien ihre Verantwortung durch die
Bildung heterogener, ideologische Spektren
übergreifender Regierungskoalitionen auf mehrere
Schultern zu verteilen und zu relativieren versuchten –
sie waren bis zu einem gewissen Grad „entzaubert“.
Vor
diesem Hintergrund erschien Al-Jazeera
aber in vielen Augen, und weitaus stärker als früher,
als Propaganda- und nunmehr oft auch als
Regierungssender. Beispielsweise in Tunesien. Dort kam
es zuletzt Anfang Juli dieses Jahres zu einem Skandal,
als Al-Jazeera einen „unabhängigen
Analysten“ auf dem Bildschirm präsentierte, um die
Absetzung der islamistischen Regierung in Ägypten zu
kommentieren. Es handelte sich um Mourad Ya’acoubi – der
Sender „vergaß“ nur zu erwähnen, dass er ein Mitarbeiter
des Präsidentenamts unter Moncef Marzouki ist, welcher
zwar selbst kein Islamist, aber heute einer ihrer
engsten Bündnispartner ist und viele von ihnen in seiner
eigenen Umgebung aufweist. Noch weitaus doller hatte der
Sender es zu Anfang des Jahres getrieben. Am 8. Februar
war der, zwei Tage zuvor von mutmaßlich islamistischen
Täter ermordete, linksnationalistische
Oppositionspolitiker beerdigt worden. An dem Tag waren
mindestens Hunderttausende, womöglich Millionen von
Menschen deswegen auf der Straße. Bei Al-Jazeera
aber waren Bilder zu sehen und Slogans zu hören, die von
einer weitaus kleineren, gegenläufigen Demonstration von
En-Nahdha stammten.
Auch die
Sichtweise der islamistischen Regierungspartei selbst,
derzeit die stärkste Kraft in der amtierende
Dreierkoalition, auf den Sender ist symptomatisch. Am
18. April 13 verbreitete sie ein Pressekommuniqué, in
welchem sie sich gegen eine „Schmutzkampagne gegen
Qatar“ im eigenen Land verwahrte. Der Einfluss des
Golfstaats in Tunesien war zuvor aus vielen Gründen,
unter anderem aufgrund seiner manifesten Unterstützung
für En-Nahdha, in breite Kritik geraten. Die Partei
antwortete darauf in ihrer Presseerklärung mit dem
Argument, Al-Jazeera habe doch eine
positive Rolle „bei der Verwirklichung der
tunesischen Revolution“ gespielt. Zur selben
Zeit sahen viele Bürger des Landes ebendiese Revolution
steckengeblieben, und von den Regierenden an einigen
Punkten in ihr Gegenteil verkehrt.
Tunesien
ist vielleicht das Land, wo der Rückgang der
Einschaltquoten für Al-Jazeera am spektakulärsten
ausfällt. Laut Angaben der marokkanischen Webseite
Lakome.com, die Anfang März 2013 das Phänomen in
mehreren arabischsprachigen Ländern untersuchte, ging
die Zuschauerzahl für den Sender in Tunesien von 950.000
im Januar 2012 auf nur noch 200.000 im Dezember
desselben Jahres zurück. Neben dem wachsenden
Vertrauensverlust, den die Fernsehanstalt aufgrund ihrer
notorischen Nähe zu der stärksten Regierungspartei
verzeichnen musste, kam noch das Aufkommen einer
inländischen Konkurrenz hinzu. Satellitensender wie
Al-Watanya („Die Nationale“) oder
Hannibal – ein Name, der auf die Geschichte
Karthagos auf dem heutigen Boden Tunesiens anspielt –
gewinnen an Einfluss. Unter anderem auch, weil bei ihnen
heute ein relativ freier Diskussionsstil in Interviews,
Gesprächsrunden und Talkshows herrscht, wie er noch vor
gut zwei Jahren in einheimischen Medien undenkbar
gewesen wäre. Wohl auch zusätzlich, weil die
Berichterstattung einen stärker lokalen Fokus aufweist,
als Al-Jazeera ihn aus geographischen
Gründen aufweisen kann.
Auch
andere arabischsprachige Länder sind von dem Rückgang
der Popularität Al-Jazeeras betroffen. Der
zitierten Webseite zufolge ging die Einschaltquote in
Marokko von einem Spitzenwert bei 2,5 Millionen auf – im
Frühjahr – 1,8 Millionen zurück. Dort erscheint die
mediale Konkurrenz, die im Falle Marokkos vor allem aus
französischen Fernsehanstalten besteht, nicht so
attraktiv; und die einheimischen Medien liegen noch
stärker an der Kandare der politischen Machthaber.
Deutlicher fällt das Phänomen in Libyen und Ägypten aus.
Im libyschen Falle hängt es mit dem Aufkommen des
Senders Al-Hurra („Die Freie“) zusammen,
der Anfang des Jahres mit rund 800.000 Zuschauern
erstmals auf ungefähr gleicher Höhe mit Al-Jazeera
lag.
In
Ägypten ist ein Rückgang der Einschaltquote nicht die
einzige Ungemach, mit welcher der Sender leben muss.
Schon bei Demonstrationen gegen die von den
Muslimbrüdern geprägte Regierung im November vergangenen
Jahres wurden Büroräume von Al-Jazeera in
Kairo von aufgebrachten Demonstranten attackiert, weil
dem Sender Propagandaberichterstattung für die Regierung
vorgeworden wurde. Seit den Massenprotestmärschen vom
30. Juni dieses Jahres und dem kurz darauffolgenden
Sturz von Mohammed Morsi haben sich ähnliche Szenen
jüngst wiederholt. Die Straßen- und Bewegungsopposition
gegen Morsi legte einen zunehmend offenen Hass gegen
Al-Jazeera an den Tag. Mehrfach mussten
Kamerateams in dieser Phase Demonstrationen überstürzt
verlassen, bei denen ihnen „Irhal! Irhal!“
(„Haut ab, haut ab“) entgegenschallte. Gleichzeitig
geriet der Sender nicht nur von protestierenden
Demokratieanhängern, sondern auch von den weniger
demokratischen Militärs her unter Druck, die am 3. Juli
ihre Redaktionsräume in Kairo durchsuchten und
Mitarbeiter einschüchterten. Am 08. Juli 13 traten dann
22 Journalisten von Al-Jazeera in Ägypten
kollektiv zurück und kündigten ihre Arbeitsstellen. Sie
warfen dem Sender vor, „Bürgerkriegsberichterstattung“
zugunsten der nun wieder oppositionellen Muslimbrüder zu
betreiben. Auch jetzt ist Al-Jazeera nach
wie vor der einzige Sender, der ständige
Liveberichterstattung vom permanent gewordenen Sit-in
der Anhänger Morsis in Rabiya, in Kairo, betreibt.
Voltaire-Schule ohne
Aufklärungsphilosophie
Ein
weiterer kulturell—ideologischer Sympathieträger, den
Qatar als Visitenkarte benutzt, ist das Lycée
Voltaire in seiner Hauptstadt Doha. Die von
Frankreich unterhaltene Oberschule, wo in Französisch,
Englisch und Arabisch unterrichtet wird, ist ein
Prestigeobjekt: Enkelkinder des Monarchen persönlich
sind dort ebenso eingeschult wie solche des früheren
tunesischen Autokraten Zine el-Abidine Ben ’Ali.
Frankreichs damaliger Präsident Nicolas Sarkozy weihte
den ersten Gebäudeteil im Januar 2008 stolz ein. Damals
wurde die Eliteschule, bei der ein Schuljahr 8.000
Dollar Gebühren kostet, als eine Art Leuchturm der
Aufklärung in der Region präsentiert.
Die
Realität sieht völlig anders aus. Der Präsident des
„Aufsichtsrats“ der Schule, Ali Ben Fettais Al-Marri,
ist niemand anders als der Generalstaatsanwalt des
Landes. Mehrfach wurden von offizieller qatarischer
Seite Lehrprogramm beanstandet: Mal stellten sie das
Christentum zu positiv dar, während Schüler in Qatar
normalerweise nicht vor dem 18. Lebensjahr von der
Existenz anderer Religionen neben dem Islam erfahren
sollen, mal schienen sie zu ungläubig. Mal wurden Fotos
von kopulierenden Pferden beanstandet. Einem Leiter der
Schule wurden im letzten Jahr 48 Stunden gegeben, um
Qatar zu verlassen, und andernfalls zehn Jahre Gefängnis
angedroht. Um die Weihnachtszeit verließ dann die
Mission laïque, die normalerweise die
französische Schulbildung im Ausland organisiert, das
Land, und die Qataris nahmen das Schicksal des
Lycée allein in die Hand. „Aus diplomatischen
Gründen“, wie es mit Blick auf den finanzkräftigen
Golfstaaten behält, wurde es dennoch formal als
binationales Projekt beibehalten. Und François Hollande
begann seinen jüngsten Besuch in dem Emirat am 22. Juni
13 damit, den Erweiterungsbau einzuweihen.
Editorische Hinweise
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