Tunesien
Die politische Krise eskaliert

von Bernard Schmid

08-2013

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Die zweite tunesische Revolution ist im Gange“, schrieb die tunesische Onlinezeitung Businessnews Tunisie zu Anfang dieser Woche. Tunesische Medien haben oft extrem unangenehm klingende Namen, wie Kapitalis oder Businessnews, die allerdings nur daher rühren, dass Wirtschaftszeitungen unter dem bis 2011 regierenden diktatorischen Regime die einzige halbwegs freie Presse darstellten. Ihr Inhalt ist dagegen derzeit höchst anregend. Längst widmen sie sich heute der allgemeinpolitischen Berichterstattung.

Der erwartungsfrohe Titel rührt daher, dass die „Verfassungsgebende Nationalversammlung“, die im Oktober 2011 als provisorisches Parlament gewählt worden war, sich in den letzten Tagen im Belagerungszustand befindet. 25.000 Menschen sollen am Sonntag und in der Nacht zum Montag in Bardo, dem Stadtteil von Tunis, wo das provisorische Parlament seinen Sitz hat, versammelt gewesen sein. Zwar fasst der zentrale Platz von Bardo nur insgesamt 10.000 Menschen, aber zahlreiche Personen waren auch in den Seiten- und Nebenstraßen versammelt. Dabei gab es allerdings zwei Lager: Rund zwei Drittel machten Protestierende aus, die für den sofortigen Rücktritt der von der islamistischen Partei En-Nahdha (Wiedergeburt) dominierten Regierung, die Auflösung des provisorischen Parlaments und zügige Neuwahlen eintreten. Ein knappes Drittel des Platzes dagegen nahmen Anhänger der Regierungspartei En-Nahdha ein, die ihre Basis mobilisiert hatte, zusammen mit den ihr nahe stehenden Schlägertruppen der „Ligen für den Schutz der Revolution“ (LPR). Sie waren dazu da, die gegenteilige Position zu verteidigen. Während einiger Momente bedrängten die LPR Demonstranten aus dem gegnerischen Lager gemeinsam mit der Polizei.

Auch die „Verfassungsgebende Nationalversammlung“ selbst scheint sich unterdessen sich im Auseinanderbrechen zu befinden. Bei 73 unbesetzten Sitzen von insgesamt 217 ist die Versammlung beschlussunfähig. Dies drohte ihr in den letzten Tagen akut: Am Dienstag dieser Woche (30. Juli 13) waren es bereits 62 Abgeordnete, die erklärt hatten, dass sie ihr Mandat nicht weiterhin wahrnehmen werden. Es wurde erwartet, dass ihre Zahl schnell auf mindestens 70 steigen dürfte. Viele der streikenden Abgeordneten belagerten am Wochenende und am Montag das provisorische Parlament in einer Sitzblockade. Am Montag wurden sie jedoch in den frühen Morgenstunden durch die Polizei gewaltsam vom Zentrum des Platzes gedrängt, mit der Begründung, die Sicherheitskräfte müssten „die beiden Streitparteien auseinanderhalten“ und räumlich trennen. Zwei Abgeordneten, Noomane Fehri und Mongi Rahoui, wuden dabei schwer verletzt.

Der parteilose Innenminister Lotfi Ben Jeddou erklärte dazu am Dienstag Mittag, er entschuldige sich bei ihnen - und er habe „Lust zurückzutreten“, könne dies aber im Augenblick nicht tun. Ein Sprecher der Polizeigewerkschafter erklärte seinerseits, es gebe keinerlei schriftliche Befehle, und die Einsatzleiter wüssten offenbar gar nicht, welchen Direktiven die Mannschaften gehorchten. Im Hintergrund steht eine Doppelstruktur innerhalb der Polizei: Ein Teil der Beamten stammt noch aus der Zeit des alten Regimes und hatte vor 2011 auf dieses ihre Treue geschworen. Die islamistische Regierungspartei En-Nahdha soll seitdem ihrerseits 20.000 Polizisten eingestellt haben. Beide Fraktionen scheinen nicht dieselbe Agenda zu verfolgen.

Auch bei den ausständischen Parlamentariern sind allerdings formal unterschiedliche Situationen anzutreffen: Einige hatten explizit ihren Rücktritt vom Mandat erklärt. Andere dagegen wollen ihren Sitz behalten, ihr Amt jedoch nicht wahrnehmen, da ihre Partei für den Fall, dass sie den Sitz abgeben, ihn neu besetzen könnte. Denn viele der opponierenden Abgeordneten wissen ihre Partei hinter sich, wenn sie die Auflösung des provisorischen Parlaments fordern, andere dagegen handeln wider die Parteilinie. Etwa die Abgeordnete Nafissa Marzouki, die zur sozialdemokratischen Partei Ettakatol gehört, welche derzeit Mitglied in der – „Troika“ genannten - regierenden Dreierkoalition aus Islamisten, liberalen Nationalisten und opportunistischen Sozialdemokraten ist. Am Montag erklärte sie als erste Mandatsträgerin ihrer Partei, ihr Mandat auszusetzen.

Am Abend erklärte Parteichef Mustapha Ben Ja’afar, seine Partei fordere die Auflösung der derzeitigen Regierung, um sie durch eine erweiterte Koalition mit breiterer Basis zu ersetzen. Widrigenfalls erwäge sie einen Rückzug aus der Koalition. Er forderte auch eine Untersuchung der Umstände, unter denen die beiden Parlamentarier verletzt worden waren. Bei einer Krisensitzung des Kabinetts am Vorabend war ebenfalls von einem Teil der Teilnehmer erwogen worden, die Regierung müsse auf eine breitere politische Basis gestellt werden. Gedacht ist dabei anscheinend an eine Erweiterung der Koalition um die „Republikanische Partei“ (Al-Joumhouri) des politischen Berufsopportunisten Néjib Chebbi. Er hatte in den letzten Wochen eine Annäherung der, offiziell laizistischen, Zentrumspartei an En-Nahdha praktiziert. Vergangene Woche waren deswegen 105 Mitglieder und Mandatsträger der Partei auf einen Schlag ausgetreten. Andere Teilnehmer der Krisensitzung, besonders aus den Reihen von En-Nahdha, plädierten dagegen eher für einen verschärften Ausnahmezustand.

Unterdessen tummeln sich auch in der Opposition, die die derzeitige Regierung überwinden möchte, unterschiedliche Kräfte. Dies reicht von einem Teil des Front populaire (der „Volksfront“, grobschlächtig übersetzt), welcher auf der radikalen Linken steht – einige säkular-nationalistische Kräfte innerhalb des Zusammenschlusses Front populaire sind nicht ganz so links – über die säkulare Mitte-Rechts-Partei Nidaa Tounès („Appel/Aufruf Tunesiens“) bis zu Kräften, die aus dem alten Regime kommen. Unter jenen politischen Kräften, die ihre Abgeordneten aus dem provisorischen Parlament zurückzogen, ist etwa auch die (kleinere) Partei Al-Moubadara – „Die Initiative“ -, die im April 2011 gegründete Formation des früheren Außen- und zuvor Verteidigungsministers der Ben ’Ali-Diktatur, Kamel Morjane. Diese verfügt allerdings nur über fünfAbgeordnete. Aber auch die weitaus größere Oppositionsformation Nidaa Tounès, die derzeit stärkste Oppositionspartei, umfasst zum Teil auch Kräfte aus dem alten Regime (neben bürgerlichen Politikern und auch manchen Gewerkschaftern, in deren Augen der Kampf gegen den regierungsislamistischen Hauptfeind auch solche Bündnisse rechtfertigt).

In der Opposition gegen die Regierungsislamisten gibt es mindestens zwei Strömungen: eine progressive und eine sich als „modernistisch“ bezeichnende. Letzterer Begriff bezeichnete in Tunesien das Regierungslager unter Präsident habib Bourguiba (1956 bis 1987, Amtsvorgänger Ben ’Alis). Heute berufen sich auf diesen Begriff („Modernisten“) in Tunesien auch Menschen, die sich darin erinnern, dass die Polizei unter Ben ’Ali eher Kopftuch tragende Frauen schikanierte und dass sie heute eher solche in kurzen Röcken schikaniert. Und die sich mit Wohlwollen an die gute alte Zeit und ihre gute Repression erinnern - die damals schon in Ordnung war, weil es damals eben „die Richtigen“ traf.

Es gibt also keine Bestimmung des Oppositionslagers entlang eines einfachen Links-Rechts-Schemas. Entscheidend für den progressiven oder nicht progressiven Charakter seines Wirkens wird also sein, welchen sozialen Gehalt die unterschiedlichen Oppositionskräfte (die politischen zuzüglich der UGTT, zu ihr vgl. unten) ihren Handlungen geben werden. In diesem Zusammenhang orientiert die stärkste Oppositionspartei Nidaa Tounès zur Zeit auf die Bildung einer „Regierung zur nationalen Rettung/zur Rettung des Landes“ (gouvernement de salut national), unter Anlehnung an die „Nationale Rettungsfront“ der bürgerlichen Säkularen unter Mohamed El-Baradei in Ägypten. Eine ähnliche Front soll auch, „zur Rettung des Landes“, in Tunesien aufgebaut werden. Der linkere Front populaire unterstützt zwar einerseits diese Initiative zur Frontbildung gegen die amtierende Regierung, überholt sie aber andererseits auf der Linken, indem das linke Bündnis parallel dazu zur Bildung von selbstorganisierten Komitees in allen Regionen und auf örtlicher Ebene aufruft. Auf regionaler Ebene passiert ebenfalls viel: In fünf oder sechs tunesischen Provinzen (von insgesamt 26) wurde Ende vergangener Woche etwa versucht, den Gouverneurssitz zu stürmen. Im zentraltunesischen Gafsa wurde dabei ein Mitglied des Front pop’ durch die Polizei getötet. In der zweitgrößten Stadt Tunesiens, Sfax, wurde hingegen eine Erstürmung des Rathauses versucht. Die massiven Demonstrationen in den Provinzen setzten sich auch am Mittwoch, den 31. Juli fort.

Legitimität ging flöten

Den Hintergrund des aktuellen politischen Machtkampfs bildet das wachsende Legitimitätsdefizit der Regierung, aber auch der Zusammensetzung des provisorischen Parlaments. Dieses war im Oktober 2011 demokratisch gewählt worden, aber theoretisch nur für ein einjähriges Mandat. Dieses sollte dazu dienen, eine neue Verfassung zu schreiben. Doch diese konnte bis heute nicht verabschiedet werden, unter anderem aufgrund der aus Sicht anderer Kräfte unzumutbaren Forderungen der Regierungsislamisten. Diese weisen eine relative Mehrheit von 40 Prozent der Sitze aus – während eine jüngste Umfrage ihnen aktuell nur noch 12 % der Stimmabsichten bescheinigt -, aber keine eigene absolute Mehrheit.

Obwohl En-Nahdha nach mehrmonatigem Streit Ende März 2012 formal auf die Einführung der Schari’a oder einer verbindlichen Staatsreligion in die künftige Verfassung verzichtete, überfrachtete sie den Entwurf immer wieder mit ideologisch motivierten Anliegen. Eine als Kompromiss geltende Vorlage wird nunmehr seit dem 1. Juli im Parlament debattiert, hat jedoch etwa aus Sicht von Human Rights Watch oder des Europarats noch immer schwere Mängel. So garantiert der Text die Menschenrechte, aber unter dem Vorbehalt, dass keine „kulturellen Besonderheiten des Landes“ ihnen entgegen stehen – eine altbekannte Marotte islamistischer Bewegungen oder Regierungen. Und so verzögert sich die Annahme der Verfassung auch weiterhin.

Da das Mandat bereits seit über neun Monaten überschritten ist, wächst der Legitimitätsverlust der Regierung. Während die Islamisten es nicht schaffen, die tunesische Gesellschaft nach ihren Vorstellungen ideologisch umzukrempeln – sie verdreifachten die Biersteuer, um durch erhöhte Preise vom Alkoholkonsum abzuschrecken, aber laut am 23. Juli 13 vorgelegten Zahlen sieg der Alkoholverbrauch im Lande noch. Und der Exportschlager des Landes auf dem französischen Markt wird derzeit nun ausgerechnet die tunesische Biermarke Célia.

Unter dem Druck der aktuellen Ereignisse hat Premierminister ’Ali La’arayedh von der Partei En-Nahdha nun erstmals einen konkreten Wahltermin vorgeschlagen, nachdem dieser bislang in den Sternen zu stehen schien oder immer wieder Gegenstand uneingelöster Versprechungen war. Bevor ihm der Laden auseinanderfliegt, wollte der Regierungschef die Initiative in der Hand behalten und schlug nun als Datum den 17. Dezember 13 vor, als symbolischen Termin – es wäre der dritte Jahrestag der Selbstverbrennung von Mohamed Bou’azizi, der den Aufstand im Winter 2010/11 auslöste.

Abzuwarten bleibt, ob das Parlament jedoch nicht schon vorher auseinanderfliegt. Jedenfalls bleibt ein vorzeitiger Rücktritt zumindest der amtierenden Regierung wahrscheinlich. Am Montag forderte dies nun auch der Gewerkschaftsdachverband UGTT. Allerdings fordert die UGTT im Augenblick „nur“ die Auflösung der Regierung und ihre Ersetzung durch eine konsensfähigere, nicht jene der Verfassungsgebenden Versammlung. Dies ist dennoch ein Schritt nach vorn, da die UGTT damit offensiver auftritt als in den letzten Monaten, u.a. nach dem letzten politischen Mord am 06. Februar dieses Jahres (vgl. unten). Damals hatte sie einerseits die Mordattacke scharf verurteilt und auch die Regierungspartei En-Nahdha politisch kritisiert, war aber gleichzeitig betont staatstragend aufgetreten. „Die UGTT ist ein Riesentanker und kein Motorboot, deswegen bewegt sie sich bei jedem Kurswechsel auch nur allmählich“, äußerte ein guter Kenner des Apparats gegenüber dem Autor dieser Zeilen – der dennoch eine progressive Entwicklung im Gange sah.

Am Freitag, den 27. Juli 13 hatte die UGTT zum Generalstreik aufgerufen, ähnlich wie am 08. Februar nach dem zurückliegenden politischen Mord. Dieses Mal waren die Demonstrationen im Zusammenhang mit dem Generalstreik allerdings weniger stark besucht (vielleicht auch im Zusammenhang mit dem Fastenmonat Ramadhan und den hohen Temperaturen). Allerdings wurden an dem Tag sämtliche Flüge nach Tunis mit den nationalen Fluggesellschaften TunisAir und TunisAir Express zu 100 % abgesagt. Sami Tahri vom Vorstand der UGTT (und ihrem linke Flügel) gab in der tunesischen Zeitung La Presse die Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst mit 95 Prozent an.

Doppelter Politmord

Den unmittelbaren Anlass zur aktuellen Zuspitzung gab der Mord an dem linksnationalistischen Oppositionspolitiker und Anwalt Mohamed Brahmi am 25. Juli d.J.. Es war der zweite spektakuläre politische Mord nach jenem vom 06. Februar 13 an dem ebenfalls linksnationalistischen Politiker Chokri Belaïd. Als Täter gibt die Regierung salafistische Extremisten an – ihr Innenminister nannte auch einen konkreten Namen, jenes des ohnehin polizeilichen gesuchten Jihadisten Boubakeur al-Hakim. Der 29jährige wuchs im 19. Pariser Bezirk als Sohn tunesischer Eltern auf, bevor er ab 2003/04 Jihaderfahrungen zunächst im Irak suchte.

Aber jenseits der unmittelbaren Täter stellen viele Beobachter und politische Akteure die Frage nach den Hintermännern der Tat. Und viele antworten darauf, En-Nahdha sei mit ihnen verstrickt – auch wenn von den mitregierenden Liberalnationalisten unter Moncef Marzouki in der französischen Presse energisch die Gegenthese verteidigt wird, die Tat schade En-Nahdha politisch, da die Regierung durch die Proteste nach dem Mord erneut unter starken Druck gerate. Dies trifft tatsächlich zu. Allerdings ist En-Nahdha strategisch gespalten, und während ein Teil der Partei auf die „normale“ Teilnahme an bürgerlich-demokratischen Verfahren setzt, scheint ein anderer Flügel wenig davon zu halten, sich erneut den Wählern zu stellen. Zu stark ist bei ihnen die Angst oder auch die schlichte Weigerung, die nach Jahrzehnten der Opposition, und der Verfolgung, errungene politische Macht wieder abgeben zu müssen. Mindestens eine Fraktion setzt deshalb eher auf eine innenpolitische Zuspitzung, um in einem bürgerkriegsähnlichen Klima ihre Anhänger zu mobilisieren und bei ihnen eine Belagerungsmentalität zu schaffen.

Die Ereignisse in Ägypten seit dem 30. Juni 2013 haben ihren Pessimismus, sich mit bürgerlich-demokratischen Mitteln an der Macht zu halten, noch verstärkt. Daraufhin tönte der Fraktionsvorsitzende von En-Nahdha im Parlament, Sabhi Atig, am 13. Juli 13 bei einer öffentlichen Versammlung in Tunis, notfalls dürfe „auch das Blut derer, die die Legitimität“ der Regierenden „in Frage stellen, vergossen werden“. Sein Anliegen scheint in Erfüllung gegangen zu sein. Dass En-Nahdha sich durch solches Vorgehen auf die Dauer einen Gefallen tut, ist allerdings sehr ungesichert.

Stand: 31. Juli 2013

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.