„Die
zweite tunesische Revolution ist im Gange“,
schrieb die tunesische Onlinezeitung Businessnews
Tunisie zu Anfang dieser Woche. Tunesische
Medien haben oft extrem unangenehm klingende Namen, wie
Kapitalis oder Businessnews,
die allerdings nur daher rühren, dass
Wirtschaftszeitungen unter dem bis 2011 regierenden
diktatorischen Regime die einzige halbwegs freie Presse
darstellten. Ihr Inhalt ist dagegen derzeit höchst
anregend. Längst widmen sie sich heute der
allgemeinpolitischen Berichterstattung.
Der
erwartungsfrohe Titel rührt daher, dass die
„Verfassungsgebende Nationalversammlung“, die im Oktober
2011 als provisorisches Parlament gewählt worden war,
sich in den letzten Tagen im Belagerungszustand
befindet. 25.000 Menschen sollen am Sonntag und in der
Nacht zum Montag in Bardo, dem Stadtteil von Tunis, wo
das provisorische Parlament seinen Sitz hat, versammelt
gewesen sein. Zwar fasst der zentrale Platz von Bardo
nur insgesamt 10.000 Menschen, aber zahlreiche Personen
waren auch in den Seiten- und Nebenstraßen
versammelt. Dabei gab es allerdings zwei Lager: Rund
zwei Drittel machten Protestierende aus, die für den
sofortigen Rücktritt der von der islamistischen Partei
En-Nahdha (Wiedergeburt) dominierten Regierung, die
Auflösung des provisorischen Parlaments und zügige
Neuwahlen eintreten. Ein knappes Drittel des Platzes
dagegen nahmen Anhänger der Regierungspartei En-Nahdha
ein, die ihre Basis mobilisiert hatte, zusammen mit den
ihr nahe stehenden Schlägertruppen der „Ligen für den
Schutz der Revolution“ (LPR). Sie waren dazu da, die
gegenteilige Position zu verteidigen. Während einiger
Momente bedrängten die LPR Demonstranten aus dem
gegnerischen Lager gemeinsam mit der Polizei.
Auch die „Verfassungsgebende
Nationalversammlung“ selbst scheint sich unterdessen
sich im Auseinanderbrechen zu befinden. Bei 73
unbesetzten Sitzen von insgesamt 217 ist die Versammlung
beschlussunfähig. Dies drohte ihr in den letzten Tagen
akut: Am Dienstag dieser Woche (30. Juli 13) waren es
bereits 62 Abgeordnete, die erklärt hatten, dass sie ihr
Mandat nicht weiterhin wahrnehmen werden. Es wurde
erwartet, dass ihre Zahl schnell auf mindestens 70
steigen dürfte. Viele der streikenden Abgeordneten
belagerten am Wochenende und am Montag das provisorische
Parlament in einer Sitzblockade. Am Montag wurden sie
jedoch in den frühen Morgenstunden durch die Polizei
gewaltsam vom Zentrum des Platzes gedrängt, mit der
Begründung, die Sicherheitskräfte müssten „die beiden
Streitparteien auseinanderhalten“ und räumlich trennen.
Zwei Abgeordneten, Noomane Fehri und Mongi Rahoui, wuden
dabei schwer verletzt.
Der
parteilose Innenminister Lotfi Ben Jeddou erklärte dazu
am Dienstag Mittag, er entschuldige sich bei ihnen - und
er habe „Lust zurückzutreten“, könne dies
aber im Augenblick nicht tun. Ein Sprecher der
Polizeigewerkschafter erklärte seinerseits, es gebe
keinerlei schriftliche Befehle, und die Einsatzleiter
wüssten offenbar gar nicht, welchen Direktiven die
Mannschaften gehorchten. Im Hintergrund steht eine
Doppelstruktur innerhalb der Polizei: Ein Teil der
Beamten stammt noch aus der Zeit des alten Regimes und
hatte vor 2011 auf dieses ihre Treue geschworen. Die
islamistische Regierungspartei En-Nahdha soll seitdem
ihrerseits 20.000 Polizisten eingestellt haben. Beide
Fraktionen scheinen nicht dieselbe Agenda zu verfolgen.
Auch bei den ausständischen
Parlamentariern sind allerdings formal unterschiedliche
Situationen anzutreffen: Einige hatten explizit ihren
Rücktritt vom Mandat erklärt. Andere dagegen wollen
ihren Sitz behalten, ihr Amt jedoch nicht wahrnehmen, da
ihre Partei für den Fall, dass sie den Sitz abgeben, ihn
neu besetzen könnte. Denn viele der opponierenden
Abgeordneten wissen ihre Partei hinter sich, wenn sie
die Auflösung des provisorischen Parlaments fordern,
andere dagegen handeln wider die Parteilinie. Etwa die
Abgeordnete Nafissa Marzouki, die zur
sozialdemokratischen Partei Ettakatol gehört, welche
derzeit Mitglied in der – „Troika“ genannten -
regierenden Dreierkoalition aus Islamisten, liberalen
Nationalisten und opportunistischen Sozialdemokraten
ist. Am Montag erklärte sie als erste Mandatsträgerin
ihrer Partei, ihr Mandat auszusetzen.
Am Abend erklärte Parteichef
Mustapha Ben Ja’afar, seine Partei fordere die Auflösung
der derzeitigen Regierung, um sie durch eine erweiterte
Koalition mit breiterer Basis zu ersetzen. Widrigenfalls
erwäge sie einen Rückzug aus der Koalition. Er forderte
auch eine Untersuchung der Umstände, unter denen die
beiden Parlamentarier verletzt worden waren. Bei einer
Krisensitzung des Kabinetts am Vorabend war ebenfalls
von einem Teil der Teilnehmer erwogen worden, die
Regierung müsse auf eine breitere politische Basis
gestellt werden. Gedacht ist dabei anscheinend an eine
Erweiterung der Koalition um die „Republikanische
Partei“ (Al-Joumhouri) des politischen
Berufsopportunisten Néjib Chebbi. Er hatte in den
letzten Wochen eine Annäherung der, offiziell
laizistischen, Zentrumspartei an En-Nahdha praktiziert.
Vergangene Woche waren deswegen 105 Mitglieder und
Mandatsträger der Partei auf einen Schlag ausgetreten.
Andere Teilnehmer der Krisensitzung, besonders aus den
Reihen von En-Nahdha, plädierten dagegen eher für einen
verschärften Ausnahmezustand.
Unterdessen tummeln sich auch in der Opposition, die die
derzeitige Regierung überwinden möchte, unterschiedliche
Kräfte. Dies reicht von einem Teil des Front
populaire (der „Volksfront“, grobschlächtig
übersetzt), welcher auf der radikalen Linken steht –
einige säkular-nationalistische Kräfte innerhalb des
Zusammenschlusses Front populaire sind
nicht ganz so links – über die säkulare
Mitte-Rechts-Partei Nidaa Tounès
(„Appel/Aufruf Tunesiens“) bis zu Kräften, die aus dem
alten Regime kommen. Unter jenen politischen Kräften,
die ihre Abgeordneten aus dem provisorischen Parlament
zurückzogen, ist etwa auch die (kleinere) Partei
Al-Moubadara – „Die Initiative“ -, die im April
2011 gegründete Formation des früheren Außen-
und zuvor Verteidigungsministers der Ben ’Ali-Diktatur,
Kamel Morjane. Diese verfügt allerdings nur über
fünfAbgeordnete. Aber auch die weitaus größere
Oppositionsformation Nidaa Tounès, die
derzeit stärkste Oppositionspartei, umfasst zum Teil
auch Kräfte aus dem alten Regime (neben bürgerlichen
Politikern und auch manchen Gewerkschaftern, in deren
Augen der Kampf gegen den regierungsislamistischen
Hauptfeind auch solche Bündnisse rechtfertigt).
In der Opposition gegen die
Regierungsislamisten gibt es mindestens zwei Strömungen:
eine progressive und eine sich als „modernistisch“
bezeichnende. Letzterer Begriff bezeichnete in Tunesien
das Regierungslager unter Präsident habib Bourguiba
(1956 bis 1987, Amtsvorgänger Ben ’Alis). Heute berufen
sich auf diesen Begriff („Modernisten“) in Tunesien auch
Menschen, die sich darin erinnern, dass die Polizei
unter Ben ’Ali eher Kopftuch tragende Frauen
schikanierte und dass sie heute eher solche in kurzen
Röcken schikaniert. Und die sich mit Wohlwollen an die
gute alte Zeit und ihre gute Repression erinnern - die
damals schon in Ordnung war, weil es damals eben „die
Richtigen“ traf.
Es gibt
also keine Bestimmung des Oppositionslagers entlang
eines einfachen Links-Rechts-Schemas. Entscheidend für
den progressiven oder nicht progressiven Charakter
seines Wirkens wird also sein, welchen sozialen Gehalt
die unterschiedlichen Oppositionskräfte (die politischen
zuzüglich der UGTT, zu ihr vgl. unten) ihren Handlungen
geben werden. In diesem Zusammenhang orientiert die
stärkste Oppositionspartei Nidaa Tounès
zur Zeit auf die Bildung einer „Regierung zur nationalen
Rettung/zur Rettung des Landes“ (gouvernement de
salut national), unter Anlehnung an die
„Nationale Rettungsfront“ der bürgerlichen Säkularen
unter Mohamed El-Baradei in Ägypten. Eine ähnliche Front
soll auch, „zur Rettung des Landes“, in Tunesien
aufgebaut werden. Der linkere Front populaire
unterstützt zwar einerseits diese Initiative zur
Frontbildung gegen die amtierende Regierung, überholt
sie aber andererseits auf der Linken, indem das linke
Bündnis parallel dazu zur Bildung von
selbstorganisierten Komitees in allen Regionen und auf
örtlicher Ebene aufruft. Auf regionaler Ebene passiert
ebenfalls viel: In fünf oder sechs tunesischen Provinzen
(von insgesamt 26) wurde Ende vergangener Woche etwa
versucht, den Gouverneurssitz zu stürmen. Im
zentraltunesischen Gafsa wurde dabei ein Mitglied des
Front pop’ durch die Polizei getötet. In der zweitgrößten
Stadt Tunesiens, Sfax, wurde hingegen eine Erstürmung
des Rathauses versucht. Die massiven Demonstrationen in
den Provinzen setzten sich auch am Mittwoch, den 31.
Juli fort.
Legitimität ging
flöten
Den Hintergrund des
aktuellen politischen Machtkampfs bildet das wachsende
Legitimitätsdefizit der Regierung, aber auch der
Zusammensetzung des provisorischen Parlaments. Dieses
war im Oktober 2011 demokratisch gewählt worden, aber
theoretisch nur für ein einjähriges Mandat. Dieses
sollte dazu dienen, eine neue Verfassung zu schreiben.
Doch diese konnte bis heute nicht verabschiedet werden,
unter anderem aufgrund der aus Sicht anderer Kräfte
unzumutbaren Forderungen der Regierungsislamisten. Diese
weisen eine relative Mehrheit von 40 Prozent der Sitze
aus – während eine jüngste Umfrage ihnen aktuell nur
noch 12 % der Stimmabsichten bescheinigt -, aber keine
eigene absolute Mehrheit.
Obwohl En-Nahdha nach
mehrmonatigem Streit Ende März 2012 formal auf die
Einführung der Schari’a oder einer verbindlichen
Staatsreligion in die künftige Verfassung verzichtete,
überfrachtete sie den Entwurf immer wieder mit
ideologisch motivierten Anliegen. Eine als Kompromiss
geltende Vorlage wird nunmehr seit dem 1. Juli im
Parlament debattiert, hat jedoch etwa aus Sicht von
Human Rights Watch oder des Europarats noch immer
schwere Mängel. So garantiert der Text die
Menschenrechte, aber unter dem Vorbehalt, dass keine
„kulturellen Besonderheiten des Landes“ ihnen entgegen
stehen – eine altbekannte Marotte islamistischer
Bewegungen oder Regierungen. Und so verzögert sich die
Annahme der Verfassung auch weiterhin.
Da das
Mandat bereits seit über neun Monaten überschritten ist,
wächst der Legitimitätsverlust der Regierung. Während
die Islamisten es nicht schaffen, die tunesische
Gesellschaft nach ihren Vorstellungen ideologisch
umzukrempeln – sie verdreifachten die Biersteuer, um
durch erhöhte Preise vom Alkoholkonsum abzuschrecken,
aber laut am 23. Juli 13 vorgelegten Zahlen sieg der
Alkoholverbrauch im Lande noch. Und der Exportschlager
des Landes auf dem französischen Markt wird derzeit nun
ausgerechnet die tunesische Biermarke Célia.
Unter dem Druck der
aktuellen Ereignisse hat Premierminister ’Ali La’arayedh
von der Partei En-Nahdha nun erstmals einen konkreten
Wahltermin vorgeschlagen, nachdem dieser bislang in den
Sternen zu stehen schien oder immer wieder Gegenstand
uneingelöster Versprechungen war. Bevor ihm der Laden
auseinanderfliegt, wollte der Regierungschef die
Initiative in der Hand behalten und schlug nun als Datum
den 17. Dezember 13 vor, als symbolischen Termin – es
wäre der dritte Jahrestag der Selbstverbrennung von
Mohamed Bou’azizi, der den Aufstand im Winter 2010/11
auslöste.
Abzuwarten bleibt, ob das Parlament jedoch nicht schon
vorher auseinanderfliegt. Jedenfalls bleibt ein
vorzeitiger Rücktritt zumindest der amtierenden
Regierung wahrscheinlich. Am Montag forderte dies nun
auch der Gewerkschaftsdachverband UGTT. Allerdings
fordert die UGTT im Augenblick „nur“ die Auflösung der
Regierung und ihre Ersetzung durch eine konsensfähigere,
nicht jene der Verfassungsgebenden Versammlung. Dies ist
dennoch ein Schritt nach vorn, da die UGTT damit
offensiver auftritt als in den letzten Monaten, u.a.
nach dem letzten politischen Mord am 06. Februar dieses
Jahres (vgl. unten). Damals hatte sie einerseits die
Mordattacke scharf verurteilt und auch die
Regierungspartei En-Nahdha politisch kritisiert, war
aber gleichzeitig betont staatstragend aufgetreten.
„Die UGTT ist ein Riesentanker und kein Motorboot,
deswegen bewegt sie sich bei jedem Kurswechsel auch nur
allmählich“, äußerte
ein guter Kenner des Apparats gegenüber dem Autor dieser
Zeilen – der dennoch eine progressive Entwicklung im
Gange sah.
Am
Freitag, den 27. Juli 13 hatte die UGTT zum
Generalstreik aufgerufen, ähnlich wie am 08. Februar
nach dem zurückliegenden politischen Mord. Dieses Mal
waren die Demonstrationen im Zusammenhang mit dem
Generalstreik allerdings weniger stark besucht
(vielleicht auch im Zusammenhang mit dem Fastenmonat
Ramadhan und den hohen Temperaturen). Allerdings wurden
an dem Tag sämtliche Flüge nach Tunis mit den nationalen
Fluggesellschaften TunisAir und
TunisAir Express zu 100 % abgesagt. Sami Tahri
vom Vorstand der UGTT (und ihrem linke Flügel) gab in
der tunesischen Zeitung La Presse die
Streikbeteiligung im öffentlichen Dienst mit 95 Prozent
an.
Doppelter Politmord
Den unmittelbaren Anlass zur
aktuellen Zuspitzung gab der Mord an dem
linksnationalistischen Oppositionspolitiker und Anwalt
Mohamed Brahmi am 25. Juli d.J.. Es war der zweite
spektakuläre politische Mord nach jenem vom 06. Februar
13 an dem ebenfalls linksnationalistischen Politiker
Chokri Belaïd. Als Täter gibt die Regierung
salafistische Extremisten an – ihr Innenminister nannte
auch einen konkreten Namen, jenes des ohnehin
polizeilichen gesuchten Jihadisten Boubakeur al-Hakim.
Der 29jährige wuchs im 19. Pariser Bezirk als Sohn
tunesischer Eltern auf, bevor er ab 2003/04
Jihaderfahrungen zunächst im Irak suchte.
Aber jenseits der
unmittelbaren Täter stellen viele Beobachter und
politische Akteure die Frage nach den Hintermännern der
Tat. Und viele antworten darauf, En-Nahdha sei mit ihnen
verstrickt – auch wenn von den mitregierenden
Liberalnationalisten unter Moncef Marzouki in der
französischen Presse energisch die Gegenthese verteidigt
wird, die Tat schade En-Nahdha politisch, da die
Regierung durch die Proteste nach dem Mord erneut unter
starken Druck gerate. Dies trifft tatsächlich zu.
Allerdings ist En-Nahdha strategisch gespalten, und
während ein Teil der Partei auf die „normale“ Teilnahme
an bürgerlich-demokratischen Verfahren setzt, scheint
ein anderer Flügel wenig davon zu halten, sich erneut
den Wählern zu stellen. Zu stark ist bei ihnen die Angst
oder auch die schlichte Weigerung, die nach Jahrzehnten
der Opposition, und der Verfolgung, errungene politische
Macht wieder abgeben zu müssen. Mindestens eine Fraktion
setzt deshalb eher auf eine innenpolitische Zuspitzung,
um in einem bürgerkriegsähnlichen Klima ihre Anhänger zu
mobilisieren und bei ihnen eine Belagerungsmentalität zu
schaffen.
Die Ereignisse in Ägypten
seit dem 30. Juni 2013 haben ihren Pessimismus, sich mit
bürgerlich-demokratischen Mitteln an der Macht zu
halten, noch verstärkt. Daraufhin tönte der
Fraktionsvorsitzende von En-Nahdha im Parlament, Sabhi
Atig, am 13. Juli 13 bei einer öffentlichen Versammlung
in Tunis, notfalls dürfe „auch das Blut derer, die die
Legitimität“ der Regierenden „in Frage stellen,
vergossen werden“. Sein Anliegen scheint in Erfüllung
gegangen zu sein. Dass En-Nahdha sich durch solches
Vorgehen auf die Dauer einen Gefallen tut, ist
allerdings sehr ungesichert.
Stand:
31. Juli 2013
Editorische Hinweise
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